Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Neoliberalismus und Protest Übersicht

 

  Nur Text    rtf-Datei    pdf-Datei 

Klassenkampf von oben

Heinz Steinert

Die Zeit um den Jahreswechsel bietet besonders häufig die Gelegenheit, in einer Warteschlange zu stehen und dabei mitzuhören, was der Volksmund zu dieser Situation zu sagen hat. Auffällig ist, dass man praktisch nie Geschimpfe darüber hört, „wie langsam die arbeiten“ und dass sie sich „gefälligst mehr anstrengen“ könnten – und wenn so etwas vorkommt, werden die Sprecher schnell zurechtgewiesen. Der Tenor des Murrens ist nämlich, dass irgendwelche „Oberen“ nicht imstande wären, „das richtig zu organisieren“, dass sie wahrscheinlich „schon wieder Leute entlassen hätten“, damit „der Aktienwert stimmt“, und die zu wenigen verbliebenen Arbeitskräfte müssten „jetzt die doppelte Arbeit tun“, „kein Wunder, dass die vor lauter Arbeit nicht nachkommen“ – und dazu würden jene „Oberen“ sich noch „sagenhafte Gehälter auszahlen“.

In Gesprächen zwischen den Service-Arbeitern und den Kunden wird das von beiden Seiten oft noch explizit bestätigt: „Nächstes Jahr wird hier noch einer weniger arbeiten. Ich habe schon meine Kündigung.“ – „Mit dem Computer ist die Arbeitshetze nur größer geworden und nichts funktioniert.“ – „Richten Sie doch Ihren Chefs aus, dass das so nicht geht.“ – „Dass Sie streiken werden, dafür habe ich viel Verständnis. Blöd ist nur, dass man als Kunde auch den Schaden davon hat.“

Der Tenor ist, eine herrschende Klasse bereichert sich, indem sie unsereinem, und dazu zählen auch die unmittelbaren Service-Arbeiter, das Leben schwer machen. Zumindest sind diese oft als „Manager“, oft aber nur unspezifisch als „die Oberen“ identifizierten Abzocker unfähig, ihren Job ordentlich zu tun, der darin bestünde, eine gute Dienstleistung zu organisieren. Stattdessen sähen sie nur auf den Wert der Aktien und die Höhe des eigenen Gehalts. Der Volksmund beschreibt eine Welt, in der eine herrschende Klasse auf ihren eigenen Vorteil sieht – und das ohne Rücksicht auf die unteren Schichten oder sogar auf deren Kosten. Diese Welt ist gespalten in reiche Abzocker und „einfache Leute“, denen das an Diensten vorenthalten wird, das sie brauchen würden, wofür sie auch noch (immer mehr) gutes Geld zahlen und das der eigentliche Zweck von Unternehmen wie Post, Bahn, Pass- und Meldeämtern, aber auch Verkaufseinrichtungen mit ihren Kassen wäre.

Das verschärft sich dadurch, dass „die Oberen“ damit auch noch zugleich Arbeitslosigkeit schaffen. Der Volksmund macht, auch das ist auffällig, dafür die Wirtschaftstreibenden, vor allem identifiziert als „Manager“, selbst verantwortlich, nicht, wie traditionell üblich, „die Politiker“. Die sind, wenn sie überhaupt vorkommen und also wenigstens marginal relevant sind, nur hilflos und unfähig und korrupt, Marionetten der Wirtschaft. Verantwortlich sind dem Volksmund diejenigen, die wirtschaftliche Entscheidungen treffen, etwa die, beim Personal zu sparen. (Das ist anders, wenn es um Fragen der „Sicherheit“ geht, etwa anlässlich der Verschiebung der Schengen-Grenze nach Osten. Hier sind die Politiker die Schurken, die auf Kosten der Bevölkerung ihre Europa-Träume pflegen – die freilich ihrerseits wieder im Interesse „der Wirtschaft“ sind.) Der Volksmund benennt etwas, das man nur als „Klassenkampf von oben“ bezeichnen kann.

Wie konnte es passieren, dass sich ein in dieser Weise „angemessenes Bewusstsein“ verbreitet? Wie kommt es, dass die beschönigende Rede von der „Wissensgesellschaft“ nur mehr Soziologen in ihren (auch immer weniger) geschützten Werkstätten plausibel ist, dass die „Globalisierung“ nicht mehr als die schicksalshafte Macht durchgeht, die über uns gekommen sei wie das schlechte Wetter, dass die Propaganda nicht mehr greift, nach der die Arbeitslosen eh „selber schuld“ sind und die Armen nur nicht arbeiten wollen?

In der konventionellen Darstellung von Geschichte wurde und wird diese ohnehin von Kaisern, Fürsten und Feldherren gemacht, dieser Tage von Bush und Putin und ihren Waffensystemen unter störender Einmischung von ein paar kleineren Kriegsherren und Untergrund-Milizen. Selbst in den „Geschichten der Klassenkämpfe“ ist aber die Akteurs-Fähigkeit recht ungleich verteilt: Die Initiativen gehen immer vom Kapital aus, das Volk wehrt sich gegen ihre Auswirkungen – gewöhnlich mürrisch und renitent, manchmal aufständisch bis revolutionär oder, wenn es endlich „reif“ geworden ist, durch die Bildung von Gewerkschaften und sozialistischen Parteien, die das dann in geordnete Bahnen der planenden Verwaltung und der Sozialpartnerschaft lenken. Dass Klassenkampf von oben ausgeht, wäre also keine besondere Einsicht. Neunzig Jahre Demokratie und Sozialstaat, unterbrochen von ein paar Diktaturen, die aber in Europa den Sozialstaat für die, die nicht ganz ausgeschlossen wurden, eher ausbauten, haben aber die Illusion entstehen lassen, „die da oben“ hätten (auch aufgrund des Drucks, den wir und unsere Gewerkschaft und Partei ausüben) die Verpflichtung, angemessene Standards der Versorgung sicherzustellen. Sie haben auch immer beteuert, dass es ihnen vor allem darum ginge – so lange wir nur unsere Pflichten als Arbeiter, als Soldaten, als gute, also ruhig haltende Staatsbürger erfüllten.

Dieses Versprechen wurde in dem bisher Vierteljahrhundert unter der Produktionsweise des Neoliberalismus zurückgenommen. Die Rendite-Überlegenheit eines entregulierten Finanzsektors, die technischen Möglichkeiten von Internet und billigem Transport und die politische Schwächung von Gewerkschaft und verstaatlichtem Wirtschaftsbereich (besonders rabiat und früh in GB) nutzend wurde ein weltweiter Kapital- und Arbeitsmarkt hergestellt. Die resultierende Arbeitslosigkeit in den Metropolen-Ländern entzog der Gewerkschaft den Rest von Verhandlungsmacht. Damit war die Durchsetzung neuer, entregulierter Arbeitsverhältnisse (Teilzeit- und Minimal-Arbeit, Leiharbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, Werkvertrag, Auslagerung in Scheinselbständigkeit, insgesamt Arbeitskraft-Unternehmertum) möglich. Der Anteil der gesicherten, regulierten Arbeitsverhältnisse, die traditionell gewerkschaftlich vertreten und vertretbar sind, wurde und wird damit zurückgedrängt. Die Kapital-Funktionäre haben sich von der Rücksicht auf die Versorgung mit Arbeitskraft und damit von der Notwendigkeit, mit den Arbeitskraft-Funktionären zusammenzuarbeiten, weitgehend befreit. Diese Situation der Überlegenheit wird dazu genutzt, die Welt möglichst auf Dauer so einzurichten, wie sie den Kapital-Interessen dienlich ist.

In der Geschichtsschreibung dieser Machtlosigkeit sollte nicht vergessen werden: In den Zusammenbrüchen von Co-op/Konsum, Neuer Heimat und zuletzt in Österreich der gewerkschaftseigenen Bank BAWAG und der dabei jeweils sichtbar werdenden Korruption der Gewerkschafts-Oberen und ihrer Manager leistete diese Organisation der Arbeiterbewegung einen guten Beitrag zu ihrer Demontage. Die Sozialdemokratie als Partei hat sich überall, besonders aber in Deutschland (gleich gemeinsam mit der Partei der Grünen) dadurch diskreditiert, dass sie neoliberale Politik besonders entschlossen durchsetzte und den „Heuschrecken“ und anderen Kapitalfraktionen, die sie kritisierte, erst den Weg bahnte und die Privilegien zuschob. Allmählich ist es nicht mehr wie seinerzeit erklärungsbedürftig, dass die Leute „politikmüde“ sind und den Parteien und Verbänden nicht mehr angehören (und ihnen einen Mitgliedsbeitrag abführen) wollen: Erklärungsbedürftig ist vielmehr, warum es überhaupt noch Leute gibt, die ihnen unverdrossen (oder oft ziemlich verdrossen, aber doch) die Treue halten.

Anfangs hat das übliche Rezept durchaus funktioniert, die Leute dazu anzuhalten, jeweils einzeln die jeweils eigene Haut zu retten, also insgesamt die Konkurrenz anzuheizen und die Leute damit für ihren „Misserfolg“ selbst verantwortlich zu machen. (An der Universität übrigens funktioniert das gerade noch bestens.) Aber nun ist doch einiges zusammengekommen, das nur mehr einen Teil dieses traditionellen Rezepts übrig lässt: Rassismus und Ausländerfeindlichkeit und also die nationalistische oder europäische Illusion, man könne eine „Insel der Seligen“ haben, wenn man nur die Armen draußen hält.

Ansonsten aber ist inzwischen durch zu lang andauernde und zu hohe Arbeitslosigkeit deutlich, dass das kein individuell lösbares Problem ist.

Es kommt hinzu, dass von den neoliberalen Rationalisierungen gerade die „Öffentlichkeits“-Berufe früh und empfindlich getroffen wurden: Journalisten und Schreiber aller Art wissen aus eigener Erfahrung sehr genau, was es bedeutet, als „fester freier Mitarbeiter“ scheinselbständig oder tatsächlich auf einem erbarmungslos überfüllten Markt „frei“ und ohne soziale Sicherung zu arbeiten. Das ist bei allen gut entwickelten Möglichkeiten, die öffentliche Meinung durch PR zu ersetzen, nicht günstig für das Ansehen dieser Produktionsweise und ihrer Profiteure in der Öffentlichkeit. Dass in den überhöhten Einkünften und im Fehlverhalten der Wirtschafts-Mächtigen so lustvoll öffentlich herumgebohrt wird, mag damit zu tun haben.

Und schließlich sind zu viele Anlässe für solches Herumstochern in den Machenschaften der Reichen und Mächtigen geboten worden: gleichzeitige Ankündigungen von Rekordprofiten und Entlassungen; Summen weit über einem Lottogewinn als Abfindung für Manager, die gerade die Firma schwer geschädigt hatten; gescheiterte Manager, die wenig später als hochbezahlte Berater wieder auftauchen; zu viele Korruptionsskandale in der Wirtschaft, besonders pikant der bei VW, in den Gewerkschafter verwickelt sind und dazu neben anderen ausgerechnet der einstige Vorzeige-Manager Hartz, dessen Name in die Geschichte des Sozialstaats-Abbaus in Deutschland eingegangen ist; Politiker als Geschäftemacher während und besonders nach ihrer politischen Tätigkeit, dazu Millionäre als Parlaments- und Regierungsmitglieder; die Börse als Glücksspiel (und vom Glücksspiel versteht das Volk etwas, kauft aber trotzdem jede Woche seine Lose als „Deppen-Steuer“); dazu die internationalen Wirtschaftsskandale von Enron bis zur russischen, polnischen usw. Mafia-Wirtschaft; dass der Präsident der Führungsmacht des Westens als Betrüger, Lügner und Korruptionist auch noch zwei Kriege geführt und verloren und weltpolitische Unsicherheit hergestellt hat, dass sein Gegenüber in Russland ein Ex-Geheimdienstchef und Kriegsherr ist, der gerne die Wirtschaft als Waffe einsetzt, all das hat auch nicht gerade zum Vertrauen in die herrschende Klasse beigetragen.

Es ist ein bisschen viel zusammengekommen.

Politiker sind in dieser Situation offenbar sehr versucht, die Rassismus-Karte als letzten Trumpf zu spielen. Die Wirtschafts-„Führer“ selbst leben ohnehin in ihrer eigenen Welt. Die Politiker drängen auch immer mehr in diese Subkultur. Die Gesellschaftsspaltung besteht nicht nur in der überall zitierten Vermögens- und Einkommens-„Schere“, sondern in der Fremdheit der Kultur der „Oberen“ zum Leben auch nur der „gewöhnlichen Leute“, von den Armen gar nicht zu reden – wie die leben, das können (und wollen) sie sich nicht vorstellen. Diese tendenziell lästigen Untertanen müssen, wenn es ideologiepolitisch nicht mehr funktioniert, halt mit Verboten, Regulierungen, Überwachungen – und Spielen (reduziert auf Trash-TV) ruhiggestellt werden. Macht dürfen sie – Demokratie hin oder her – nie wieder so bekommen, wie sie sie in den 1960ern, zu Zeiten der Vollbeschäftigung und als deren Folge hatten. Das Rationalisierungs-Programm wird durchgezogen. Dem Volk bleibt nur Murren und Renitenz – und oft schimpft es sogar auf die Richtigen.

© links-netz Januar 2008