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Schwerpunktthema: Ende der Demokratie?

 

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Hurricane Katrina und 9/11: Warum die Intellektuellen nicht gefragt werden

Heinz Steinert

9/11 brachte seinerzeit in auffallender Weise die Intellektuellen ins Geschäft: Jedes Blatt und Magazin, das halbwegs auf sich hielt, vom New Yorker über den Spiegel bis zu obskuren Campus-Zeitschriften, sammelte die Meinungen von Kommentatoren, Literaten und Professoren in 10-Zeilen-Häppchen abgepackt – und wer nicht eingeladen wurde, gab selbst seinen Senf dazu. Nichts dergleichen geschieht jetzt, nach der Katastrophe von New Orleans, die eine Stadt zerstört und die Grenzen von Technik und Organisation – und den Preis von Armut vorgeführt hat. Zu diesem Unglück sagen die Intellektuellen nichts.

Intellektuelle sind öffentlich gefragt, wenn ein Ereignis nicht in das herrschende „Weltbild“ passt. Sie drängen sich mit ihren Kommentaren vor, wenn sich das Ereignis so interpretieren lässt, wie sie die Welt gern von möglichst allen, besonders aber den Herrschenden gesehen haben möchten. Deshalb hat das Erdbeben von Lissabon 1755 einen breiten Strom von Intellektuellen-Kommentaren ausgelöst, von dem Voltaires Gedicht und sein nachfolgender Candide überlebt haben. Das Ereignis und seine Interpretation haben die europäische Aufklärung verändert: Der Glaube an eine beste aller denkbaren Welten und an die vernünftige Beherrschung der Natur durch den Menschen war danach nur mehr gebrochen, wenn überhaupt möglich. Das Erdbeben von Kobe 1995, selbst der Tsunami von 2004 und offenbar auch die Zerstörung von New Orleans 2005 stellen kein solches „kulturelles Trauma“ dar.

9/11 war – wenn man die damaligen Kommentare noch einmal durchsieht, wird das ganz deutlich – deshalb interpretations- und definitionsbedürftig, weil die bis dahin herrschende Selbstverständlichkeit vor allem in den USA die war, dass „unsere“ Lebensweise, besonders aber „unser“ Kapitalismus und „unsere“ Demokratie das sind, was die ganze Welt haben will oder zumindest haben sollte. Die erschrockene und verständnislose Frage war daher: Warum hassen die uns so? Darauf sollten und wollten die Intellektuellen antworten. Die Regierung Bush hatte freilich eine schnellere und die wirksame Antwort: Das tun nur wenige Fundamentalisten und die werden wir in einem „war on terrorism“ niedermachen – erst in Afghanistan, dann im Irak. Damit konnte beiseitegeschoben werden, dass noch ein paar mehr „uns hassen“, was unter anderem zu der Fehl-Einschätzung führte, die US-Soldaten würden im Irak als Befreier freudig begrüßt werden. Die Intellektuellen mussten und durften also ihre Interpretationen veröffentlichen, aber es wurde ihnen nicht geglaubt, weil schon die Frage ganz schnell wegdefiniert war. „Amerika“ wurde nach einer kurzen Schrecksekunde wieder das gelobte Land, das neue Jerusalem der Neo-Cons, das in seinem Großmut und in seinem Sendungsbewusstsein durchaus bereit ist, die hier schon realisierten Segnungen der ganzen Welt mitzuteilen.

Die Zerstörung von New Orleans durch eine Naturkatastrophe war zunächst kein solches „kulturelles Trauma“: Eine gewalttätige und erbarmungslose Natur ist – anders als in Europa – in Amerika keine Überraschung, und schon gar nicht in den Südstaaten und im Westen. Aber sie hat das reichste, mächtigste und angeblich technisch avancierteste Land der Welt zunächst als hilflos und unfähig vorgeführt, sich auf die angekündigte Katastrophe vernünftig vorzubereiten und ihre vorhersehbaren Folgen effizient zu bewältigen. Und es konnte nicht verhindert werden, alle Welt und besonders die eigene Bevölkerung sehen zu lassen, dass es die Armen waren, die es traf. Die Reichen hatten rechtzeitig die Stadt verlassen. Die Bilder im Fernsehen machten selbst in Europa, wo man nicht ganz so sensibel ist, unübersehbar klar, dass die meisten dieser Armen eine schwarze Hautfarbe haben. Dass Bush in seiner Rede vom 14.9. die Worte „Armut“ und „Rassendiskriminierung“ verwenden musste, die sonst gewiss nicht zu seinem politischen Vokabular gehören, zeigt, dass er die Herrschaft über die Definition der Situation verloren hatte. Wahrscheinlich hat er mit diesem Zugeständnis aber die politische Situation bereinigt: Mit Armut und Rassendiskriminierung können die USA schon und noch lange leben, weil sie beides als Effekte von persönlichem Versagen sehen. Mit dem triumphalistischen Versprechen, die Stadt schöner und großartiger wieder aufzubauen, als sie je war, hat er das Motiv der Machbarkeit und der zähen Überlebensfähigkeit angesprochen, das zentral zum amerikanischen Ethos gehört. Dass es schließlich die Gelder nicht geben wird (in seiner Partei rumort es schon), dass Viele nicht zurückkehren werden, das macht den augenblicklichen Effekt nicht geringer.

Das ökologische Argument, das sich hier anschließt und darin besteht, dass die Armen in den tief liegenden Teilen von New Orleans leb(t)en, dass mit der ganzen kühnen Trockenlegung der Sümpfe erst die Ausweich- und Absorptions-Möglichkeiten für Hochwasser weiter gestört wurden, dass man also – auch in den europäischen Hochwasser-Katastrophen zeigt sich das immer wieder – nicht so riskant siedeln sollte, ist wohl ein zu subtiles Argument. Das andere, wie es Trittin führte (das kommt davon, dass Bush das Kyoto-Protokoll nicht unterschrieben hat), ist wiederum nicht nur taktlos in der gegebenen Situation, sondern dazu abstrakt und insofern falsch.

Bleibt etwas, nachdem in den Populär-Nachrichten wie Fox News das Thema schon deutlich nach hinten gerückt ist? Bush hat eine „populistische Situation“ versäumt. Im Rückblick wird damit deutlich, dass er gar nicht der begabte Populist ist, als der er nach 9/11 erschien, vielmehr hat damals nur alles zusammengepasst: Die Macho- und Familien-Werte, die er in Nationalismus umzumünzen imstande war, sind schlicht seine eigenen, daher konnte er damit überzeugend auftreten. Diesmal hätte er Werte des sozialen Ausgleichs und der ökologischen Vernunft gebraucht, die ihm beide fremd sind. Dazu hat ihm kein Krisen-Manager wie seinerzeit Giuliani die Arbeit am Detail abgenommen. Auch auf das organisatorische Versagen hat er nicht populistisch reagiert, weil ihm die Freunderl-Wirtschaft näher ist als die Effizienz: Das Köpferollen kommt zu spät. Aber er will hier auch nichts, so wie seinerzeit, als er ohnehin nach Kriegsgründen suchte. Er will das nur möglichst politisch folgenlos sich verlaufen lassen. Das wird auch gelingen.

Im Fernsehen (abc) wurde in der Woche danach Armageddon vorgeführt: Da retten die USA durch Spitzen-Technologie und Ölbohrer-Cowboytum gleich die ganze Welt vor dem Untergang durch Kollision mit einem Meteoriten – und alle zwischen Ganges, Tigris und Wolga blicken dankbar zu ihnen auf. Auch da geht technisch immer wieder alles schief, aber ein echter amerikanischer Haudegen weiß sich zu helfen (und fortune hat er natürlich auch). Dass in Wirklichkeit auch die Hoch-Technologie nur für die Reichen da ist, dass es in diesem Land besonders schwierig ist, sich arm durchzubringen, dass man mit Schrott-Technik abgespeist wird (bei den Fahrzeugen, bei den Häusern, bei der Elektronik), wenn man nicht richtig Geld ausgeben kann, das verschwindet hinter solchen Helden-Erzählungen. Zur persönlichen kommt die öffentliche Armut. Die cholerische Leidensfähigkeit eines Bruce Willis und sein zähes Heldentum, das mit allen Widrigkeiten zurechtkommt, werden nicht nur im Film dringend gebraucht.

© links-netz Oktober 2005