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Kulturindustrie Übersicht

 

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Schöne neue Kulturindustrie*

Heinz Steinert

I. Die Verharmlosung eines Begriffs

Als ich vor einigen Jahren an der New York University unterrichtete, gab es an der dortigen Business School eine internationale Konferenz zu „Culture Industry“. Das hat mich interessiert. Es stellte sich heraus, dass die Veranstalter und die meisten Teilnehmer von zwei, was man damals gern als Charakterisierung verwendete: „toten, weißen, männlichen“ Philosophen namens Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, einem Buch namens „Dialektik der Aufklärung“ und dem darin enthaltenen Kapitel „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“ noch nie gehört hatten. Sie hatten vielmehr den Begriff für sich neu erfunden und waren ganz fasziniert von Überlegungen zur Betriebswirtschaft von Theatertruppen oder von Versuchen, die Ökonomie von Mode-Verläufen in mathematischen Modellen abzubilden.

In der Soziologie, besonders der angelsächsischen, geht es nicht viel anders zu: Die Rede von „den Kulturindustrien“ (Plural) ist selbstverständlich geworden, selbst als Buchtitel. Kulturindustrie wird gleichgesetzt mit „die Medien“. In der Epigonen-Generation der Cultural Studies nach ihrem Ende (markiert durch das Abtreten und Verstummen von Stuart Hall, der selbst schon zweite Generation nach Raymond Williams und Richard Hoggart war) wird eine unverstandene Kritische Theorie und ihre verfälschte Konzeption von Kulturindustrie als das Beispiel dafür geführt, wie man die Autonomie des Publikums gegenüber soap operas, Werbung und Kriegspropaganda unterschätzen kann. Man kann zum Trost dazusagen, dass aus denselben Cultural Studies auch der zutreffende Begriff zur Kritik dieser Haltung als „Kultur-Populismus“ stammt (McGuigan, 1992).

Jede bessere Fachhochschule leistet sich einen Studiengang „Kulturmanagement“ und auch unser Schwerpunkt „Kulturindustrie“ an der Frankfurter Universität wird gerne studiert, wenn man in die PR und Werbung möchte, oder im Journalismus und an Betriebszeitungen zur Pflege der corporate identity und natürlich in der Politikberatung und in der politischen Propaganda arbeiten möchte. Die Analyse von Kulturindustrie wird als Mediensoziologie missverstanden und gilt als einer von den glamourösen Arbeitsbereichen, die in der „Wissensgesellschaft“ zu den attraktiven Zukünften gehören.

Die britischen Autoren Scott Lash und John Urry haben relativ früh (1992) in ihrem Buch zur „Wissensökonomie“: Economies of Signs & Space, in einer Überlegung sehr schön dieses neue Verständnis von Kulturindustrie selbstverständlich vorausgesetzt: Sie sprechen da davon, es könne – und das ist als Kritik an Horkheimer / Adorno gemeint – keine Rede davon sein, dass Kulturproduktion immer mehr Ähnlichkeit mit anderer Warenproduktion annehme. Das Umgekehrte sei der Fall: Die „Kulturindustrien“ hätten immer schon besonders „innovations-intensiv“ und „design-intensiv“ produziert, und das setze sich gerade bei allen anderen Waren auch durch. Alle Waren nähmen jetzt (also damals, vor zehn Jahren) einen immer größeren Wissensanteil auf. Dienstleistungen in der Wirtschaft (also vornehmlich Beratung) und Kulturproduktion hätten gemeinsam, dass sie weniger der Herstellung (manufacture) als der Anpreisung (advertising) dienten und damit vor allem eine finanzielle Funktion bekämen. Das war in den frühen 90ern, also vor dem Platzen der „new economy“ Spekulations-Blase, als „Wissensökonomie“ als Kasino-Kapitalismus besonders plausibel erschien.

In einem neueren Buch mit dem schönen Titel „The Cultural Industries“ (Hesmondhalgh, 2002) wird argumentiert, schon aufgrund der Vielfalt und Verschiedenheit der „Kulturindustrien“ zwischen Radio, Zeitungen, Büchern und Schallplatten könne man nicht von einer „Kulturindustrie“ (im Singular) sprechen. Hier wird ein Argument des französischen Medienwissenschaftlers Bernard Miège schon aus den 80er Jahren noch einmal aufgenommen. Ähnlich hatte übrigens hier auch Rainer Erd (1989) argumentiert. Die Kommodifikation von Kultur wird in diesem Typ von Argument als ein Charakteristikum behauptet, das (zumindest auch) faszinierende neue Möglichkeiten eröffnet habe. Kultur als Ware sei nicht nur nichts Schlimmes, sondern im Gegenteil eine Bereicherung.

Oft genug wird in diesen immer ähnlich argumentierten Abschieden von der Kritischen Theorie explizit gesagt, dass man mit diesem altväterlichen Kulturpessimismus nicht leben könne und wolle. Gemeinsam ist ihnen ein verengter Begriff von Kulturindustrie, in dem es tatsächlich um die Unterhaltungsindustrien geht. Das ist bezeichnend für diesen Revisionismus: Kultur wird mit Unterhaltung (mit dem führenden Medium Fernsehen) gleichgesetzt.

Für eine einigermaßen vernünftige Diskussion ist es entscheidend, den Unterschied festzuhalten: Die Unterhaltungsindustrien sind nur ein Bereich, und nicht der folgenreichste, in dem sich Kulturindustrie, die intellektuelle Produktion und Konsumtion, anders gesagt: Kopfarbeit, unter den Imperativen von Warenförmigkeit und Verwaltung, ausdrückt. Kulturindustrie ist ein viel weiterer Begriff als Medien, Kunst und Unterhaltung. Man kann ihn nicht verstehen, wenn man ihn darauf reduziert.

II. Die Entdeckung von „Kulturindustrie“

„Kulturindustrie” ist ein Begriff, der als Überschrift eines Kapitels in Horkheimer / Adornos Dialektik der Aufklärung (1944/47) bekannt wurde: Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug. Die Sache – intellektuelle Produktion nach Imperativen der Warenförmigkeit – war von beiden Autoren schon in früheren Arbeiten analysiert worden: Wagners Musikdramen (Adorno, 1933a, 1939/1952), Jazz-Musik (Adorno 1933, 1937), Fanatismus in der bürgerlichen Politik (Horkheimer, 1936), Hindemiths „Neo-Klassizismus” (Adorno, 1922ff., 1932). Das Wort setzte sich erst jetzt, im US Exil, durch. (Die US-Erfahrung bestätigte also nur, was die beiden schon aus Europa und seiner Entwicklung zum Faschismus kannten.) Kulturindustrie wurde ab diesem Zeitpunkt als ein „Markenbegriff” der Kritischen Theorie gehandhabt, aber nicht mehr weiter begrifflich bearbeitet und entwickelt.

Das Wort „Kulturindustrie” wurde in das gleichnamige Kapitel der Dialektik der Aufklärung erst in der Überarbeitung eingefügt. Adorno berichtet:

„In unseren Entwürfen war von Massenkultur die Rede. Wir ersetzten den Ausdruck durch ‚Kulturindustrie‘, um von vornherein die Deutung auszuschalten, die den Anwälten der Sache genehm ist: daß es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst. ... Das Wort Massenmedien, das für die Kulturindustrie sich eingeschliffen hat, verschiebt bereits den Akzent ins Harmlose.” (Adorno, 1963, S. 337f.)

In den Entwürfen war das Kulturindustrie-Kapitel noch mit „Das Schema der Massenkultur” überschrieben. Unter diesem Titel ist dann der „zweite Teil” des Kulturindustrie-Kapitels auch bekannt geworden – Teil der vorher unveröffentlichten Schriften aus dem Nachlass von Adorno, nicht mehr überarbeitet, auch von Horkheimer nicht mehr bearbeitet. Bekanntlich endet das Kulturindustrie-Kapitel mit „fortzusetzen” und „Das Schema der Massenkultur” ist diese Fortsetzung. Den Begriff „Kulturindustrie” gibt es dort nicht – aus den von Adorno genannten Gründen.

Am Begriff „Kulturindustrie” fällt auf, dass Horkheimer und Adorno die späteren Veränderungen der Sache Kulturindustrie nicht mehr wahrnehmen. Aus Horkheimers Denken verschwindet der Begriff wieder und Adorno verwendet ihn zwar, entwickelt ihn aber nicht mehr, reflektiert kaum historische Ausprägungen und benützt ihn auch nicht konsequent: In der Ästhetischen Theorie (1970) weist das Register keine 40 Eintragungen dazu aus. Vielmehr werden die Denkfiguren, die in den 20er Jahren seine Analysen des Jazz geprägt haben, auch in den 60er Jahren wieder verwendet, wenn er etwa über die Beatles sagt, ihre Musik sei der „eigenen objektiven Gestalt nach etwas Zurückgebliebenes”. Dass autonome Kunst im Gegensatz zu Kulturindustrie sich durch einen Fortschritt der Produktivkräfte auszeichnet, ist ein zentrales Argument in der Dialektik der Aufklärung. Im Denken Adornos ist Kulturindustrie ein a-historisches Phänomen: Sie bleibt über 50 Jahre unverändert – Zeitlose Mode.

Warenförmigkeit

Kulturindustrie ist intellektuelle Produktion nach den Imperativen von Warenförmigkeit. Mit Kulturindustrie sind nicht Produktionsstätten gemeint. Und es ist auch nicht einfach Kritik daran, dass Kultur auch verkauft wird. Horkheimer und Adorno unterscheiden genau zwischen Kunst, die auch verkauft wird, das aber in der Produktion reflektiert (Beethoven verwenden sie als Beispiel), und Künsten, die von vornherein nach Kriterien der Verkäuflichkeit produziert werden.

An Klischees und Stereotypen, die zugleich als Neuheiten angepriesen werden, wird am häufigsten vorgeführt, dass sie den Kriterien der Warenförmigkeit entsprechen. Aber auch Verstöße gegen Konventionen werden gern verziehen, weil „sie als berechnete Unarten die Geltung des Systems um so eifriger bekräftigen”, wie Horkheimer und Adorno an Orson Welles zeigen (S. 153). Wagners „Phantasmagorie” (Adorno, 1937/38, S. 82-91) wird von Adorno als Ware interpretiert. Hier dominiere der Ausstellungscharakter, das Phänomenale. Feuerzauber schlage um in den Prototyp zukünftiger Lichtreklame. Aber Adorno geht noch weiter: Wagners Phantasmagorien tendierten zum Traum, weil Arbeit aus ihnen verbannt sei. Sie präsentieren sich als sich selbst Produzierendes, als absolute und zeitlose Erscheinung. Gesellschaftliche Arbeit wird zum Wunder.

Viele neuere Beispiele lassen sich finden: Großformatige, abstrakte Kunst entsteht zu dem Zeitpunkt, als Schalter- und Empfangshallen dekoriert werden. Die Protagonisten in „Eiskalte Engel” (1998, Regie: Roger Kumble), einem weiteren Remake von „Gefährliche Liebschaften” (1959, Regie: Roger Vadim; 1989, Regie: Stephen Fears), sind so jung wie das Kino-Publikum, mit dem man, seit der Verbreitung des Fernsehens, noch Kassenschlager machen kann. Es ist zwar albern und unglaubwürdig, Jugendliche in Liebesangelegenheiten zynisch sein lassen zu wollen, aber die Einschaltquote hat trotzdem gestimmt. Man konnte den Film als „Porno für Kinder” verstehen. Dass die Bundesliga an drei Tagen der Woche (und nicht nur an Samstagen) spielen muss, ist eine Errungenschaft des Privatfernsehens, das die Zuschauer mehrmals an die Werbe-Industrie verkaufen will. Menge und Inhalte von wissenschaftlichen Veröffentlichungen bezeugen nicht unbedingt einen Erkenntnisfortschritt. Sie sind Konkurrenzen, Publikationszwängen aus Karrieregründen und einem Kampf um Aufmerksamkeit geschuldet. Gesellschaftsdiagnosen („Risiko”-, „Erlebnis”-, „Informations”-, „Wissensgesellschaft”) sind unter diesen Bedingungen besonders beliebt. Uswusf.

Warenförmigkeit, und das ist der Merksatz, ist nichts, was intellektuellen Produkten von außen angetan wird. Vielmehr verändert sie die Sache, ist das zentrale Bestimmungsstück der intellektuellen Produktion.

Verwaltungsförmigkeit

Mit Kapitalismus und Warenförmigkeit als Vergesellschaftungsform korrespondiert eine Staats- und Bürokratieform. Bei Max Weber kann man das nachlesen. Mit der Expansion des Tauschverhältnisses erweitert sich auch Verwaltungsdenken: Nicht mehr nur staatliche und kommunale Verwaltungsapparaturen folgen dieser Logik. Denken in Äquivalenten ist der Verwaltungsrationalität verwandt und weitet sich tendenziell auf das gesamte Leben aus: „verwaltete Welt” nennen das Adorno und Horkheimer.

Verwaltung misst das Verwaltete an Normen, die der Sache nicht eigen sind. Bildung (im emphatischen Sinn) wird ersetzt durch Berechtigungsscheine, Bildungspatente, formal gleiche Abschlüsse, die den Rang von „objektiven Kategorien” erhalten, die Status und Prestige signalisieren. Der Asylsachbearbeiter ist ebenso wenig daran interessiert, die Individuen um ihrer selbst willen zu verstehen wie der Kulturbeauftragte. Vielmehr geht es um Planung und Kalkulation, um schematisierte Verfahren und standardisierte Vorgänge.

Kunst und Kultur wurde und wird staatlich und kommunal gefördert, ist dann nur indirekt der Marktlogik unterworfen. Die Debatten um die „Verhüllung” des Reichstagsgebäudes von Christo und Jeanne-Claude und Hans Haackes Installation im Reichstag „Der deutschen Bevölkerung” zeigen, dass den Künstlern dabei einiges an Autonomie zugestanden wird. Aber die Verhandlungen sind kompliziert und langwierig. Wenn Bundestags-Abgeordnete entscheiden, tun sie das nicht als Kunst-Experten. Welche Kunst sich zur Selbstdarstellung des Staates eignet, ist die (implizite) Streit-Frage. Künstler kennen diesen Mechanismus und arbeiten auch damit: Sie provozieren die Konservativen, um, vermittelt durch deren populistische Propaganda, die Aufmerksamkeit der liberalen Öffentlichkeit zu erreichen.

Bei Festivals ist sehr offensichtlich, dass Kultur nach touristischen Direktiven geplant (und angeeignet) wird. Die Tauglichkeit für Stadt-Marketing und Standort-Konkurrenzen zwischen Städten ist insgesamt wesentlicher Teil von Kulturpolitik und -verwaltung. Jede (Klein-)Stadt, die auf sich hält, leistet sich ein Museum für Moderne Kunst und zwängt zeitgenössische Kunst, die zu einem nicht unerheblichen Teil aus Aktionen besteht, in Ausstellungs-Formate. Genug der Beispiele.

Der Verwaltungsform können sich Künstler und andere Fraktionen der gebildeten Klasse ebenso wenig entziehen wie der Warenform. Mit „verwalteter Welt” wird nicht nur ein Teil der intellektuellen Produktionsmittel beschrieben. Vielmehr geht es um die permanente Verfügung über Individuen, die darauf trainiert werden, sich selbst zu instrumentalisieren, sich selbst in Kategorien von Verwertbarkeit zu definieren – oder ausgeschlossen, im Extrem umgebracht zu werden. Faschismus ist der Modellfall für Verwaltungsdenken – kein harmloses Spiel, vielmehr fortgeschrittene Herrschaftstechnik. In Kriegs-, Vernichtungs- und Ausschließungs-Propaganda wird Verwaltungsdenken zur Ideologieproduktion mit Menschenopfern. Wie Reklame (als Prototyp von Warenförmigkeit) in Befehl und Propaganda übergeht, so ist Verwaltungsform – Denken in vorgegebenen Kategorien, die Rede von „Massen” und Gemeinwohl bis hin zum „Volkskörper” – Voraussetzung für jede Art von Propaganda (und die warenförmige Logik von Einschaltquoten und Zielgruppen).

Die gebildete Klasse ist nicht nur diesen Produktionsbedingungen unterworfen, sie betreibt „verwaltete Welt” aktiv: in den entsprechenden Berufspositionen in Verwaltung und Politik ohnehin, aber auch in Wissenschaft und Journalismus. Hier wird das Vokabular ausgearbeitet und gesellschaftlich verfügbar gemacht. Dazu gehören rassistisches und biologistisches Denken, Definitionen von „Kriminellen” und „Wahnsinnigen”, „Sozialschmarotzern” und „Überflüssigen”, „Modernisierungs- und Globalisierungsverlierern”, aber auch die positiven Bestimmungen wie „Zivilisation” (im Gegensatz zur „Barbarei”), „Leistungsträger”, „Elite”, insgesamt die ausschließenden und vorteilhaften Zugehörigkeiten und (Selbst-)Bezichtigungen.

Keine Bürokratie ohne Kapitalismus und kein Kapitalismus ohne Bürokratie: Mit Waren- und Verwaltungsform als Bestimmungsstücken von Kulturindustrie wird reflektiert, dass diese Herrschaftsform der permanenten Reproduktion und Absicherung bedarf. Es reicht nicht aus, sie ökonomisch und politisch einmal durchzusetzen, sie muss auch kulturell verankert werden.

III. Zwischenbilanz

Wir können ein paar verbreitete Fehl-Bestimmungen von „Kulturindustrie“ zurückweisen:

1/ Kulturindustrie ist nicht nur eine Medientheorie

Es ist ein verbreitetes Missverständnis, „Kulturindustrie”, das seien „die Medien”. Darunter werden üblicherweise TV, Kino, Magazine, Pop-Musik, in letzter Zeit auch Computer und Internet und ähnliches zusammengefasst. Schon dieser Medienbegriff muss 1) erweitert werden: Die Festivalisierung der Innenstädte gehört ebenso dazu wie die Museen, die sich von wissenschaftlichen Sammlereinrichtungen in Ausstellungshallen und ein Massenmedium verändert haben. Vorlesung, Vortrag und Dichterlesung haben eine lange Tradition. Mit Gewinn kann die Straße als Medium analysiert werden: für politische und künstlerische Aktivitäten (Demo, Theater, Musik, Malerei auf Bürgersteigen). Die Straße ist auch ein Forum für Selbstdarstellung: Skater, Einrad-Fahrer führen ihre Künste vor, Straßencafés und -feste sind soziale Veranstaltungen, in denen es nicht zuletzt um Sehen und Gesehenwerden geht. Kulturindustrie umfasst aber 2) mehr als die Medien. Mit Kulturindustrie haben wir es bei jeder veröffentlichten kulturellen Äußerung zu tun, selbstverständlich auch in Wissenschaft, Politik und Beratung, Design, Planung und Konstruktion.

2/ Kulturindustrie ist nicht der Gegensatz zu ewiger Kunst

Kunst, bürgerliche Kunst, ist natürlich im Herrschaftszusammenhang entstanden und hat sich in ihm entwickelt: bürgerlich vor allem als (Selbst)darstellung des bürgerlichen Individuums und seiner Konstitutionsprobleme, seiner Requisiten (Familie, Natur) und seiner Politik (Revolution, Befreiung, Republik, Tragik und schuldhafte Verstrickung), aber natürlich auch seiner Sinnsuche (nicht zuletzt mit Hilfe von Kunst/Religion) und seiner (gehobenen) Unterhaltung. Kunst ist so eine Form der Darstellung von bürgerlicher Herrschaft – und ihr Widerspruch. Nach ihren eigenen Gesetzen, indem sie alle Möglichkeiten des Gestaltens mit ihrem jeweiligen Material (Instrumenten, Tönen, Strukturen; Farben, Linien, Genres; Sprache und Formen, usw.) durcharbeiten will, widersetzt sie sich der reinen Vernutzung. Nicht jedes Gemälde macht sich gleich gut als Dekor in der Schalterhalle, nicht jede Musik als Abschluss einer Versammlung. In der Parole von „l’art pour l’art” selbstbewusst geworden, erzeugt der Eigensinn von Kunst eine eigene Welt, eine Gegenwelt, eine Ahnung des anderen, des Möglichen. In Kulturindustrie wird dieser Bereich von Befreiung eingezogen, wird Kultur restlos funktionalisiert.

3/ Kulturindustrie ist nicht die Ablehnung von Unterhaltung

Die Kritik an Kulturindustrie ist auch keine am Amüsement, sondern (unter anderem) daran, dass sie Unterhaltung nicht konsequent genug betreibt.

Dass es nicht Kunst ist, die kritisch, während Populärkultur und die dazugehörige Unterhaltung affirmativ sei, lässt sich mit einer Reihe von Text-Passagen im Kulturindustrie-Kapitel veranschaulichen. Absurdität, glücklichen Unsinn und die körperliche Kunst im Zirkus verwendet Adorno als Beispiele für das „Bessere”, das Kulturindustrie bietet. Konsequente Unterhaltung bestehe in einem entspannten „sich Überlassen an bunte Assoziationen und glücklichen Unsinn”. Diese Unterhaltung der Unterhaltung wegen, den „wahren Luxus”, wenn man so will, zerstöre Kulturindustrie aber fortwährend, indem sie allen Produkten „das Surrogat eines zusammenhängenden Sinns” beigibt, der freilich nur dazu diene, das Auftreten der Stars zu rechtfertigen. Darauf bezieht sich Adornos Kritik am Amüsement: Es ist schlechte Unterhaltung.

4/ Kulturindustrie ist nicht die Beschimpfung der verachteten „Massen von Rezipienten”

Mit „Warenförmigkeit” wird die Kulturindustrialisierung von Kunst kritisiert, somit die Intellektuellen, die zugunsten der Verkäuflichkeit ihrer Produkte ihre Autonomie (freiwillig) aufgeben. Die Theorie der Kulturindustrie ist keine Publikums-, sondern eine Intellektuellenbeschimpfung.

Die Zuschauer sind nicht passive und bewusstlose Opfer, sie sind in diesem Spiel keine hilf- und ahnungslosen Schachfiguren. Zumindest wissen sie über Kulturindustrie Bescheid. Es bleibt ihnen nur wenig Möglichkeit, nach dieser Einsicht zu handeln. Also spielen sie ironisch und halb im Ernst mit.

5/ Kulturindustrie ist nicht die Produktionsform der Wissensökonomie

Kulturindustrie ist mehr als eine Produktionsform bestimmter – eben kultureller – Inhalte. Die selbstverständliche betriebswirtschaftliche Rede von „der Kulturindustrie” (mit Artikel) und „den Kulturindustrien” (im Plural) meint heute einfach Management und Finanzierung von Theater, Film, Museum, Werbung und Sport im TV. Und das ist nur eines der Missverständnisse, die die Diskussionen in Wissenschaft und Feuilleton über die Kulturindustrie-Theorie bestimmen. Die Kritik („Sie nennen sich selbst Industrien...”, heißt es in der Dialektik der Aufklärung) an der gesellschaftlichen Wissensproduktion wird umdefiniert und affirmativ: „Die Kulturindustrie” wird zum Apparat, mit dem Propaganda für die „Wissensgesellschaft” gemacht wird.

Und wir können festhalten, was Kulturindustrie im Gegensatz dazu tatsächlich ist: intellektuelle Produktion und Konsumtion unter den Imperativen von Warenförmigkeit und der zugehörigen Verwaltungsförmigkeit. Kulturindustrie ist also kein Bereich von Gesellschaft, sondern eine Form, der intellektuelle Produktion aller Art unterworfen wird.

Ich will das im folgenden an einer Reihe von Beispielen vorführen.

IV. Drei exemplarische Analysen

Beispiel 1: Herrschaftsdarstellung in Architektur

Neuere Gefängnisbauten in den USA, wo in den letzten Jahrzehnten ein enormes Gefängnisbauprogramm verwirklicht wurde (die Kapazitäten wurden in den 80er Jahren mehr als verdoppelt), erkennt man nicht mehr als solche. Sie sehen aus wie Verwaltungsbauten, Shopping-Malls oder Hallenbäder, sie stehen auch nicht mehr unbedingt außerhalb der Städte isoliert, sie sind in lebendigen Farben gehalten und erinnern uns nicht mehr daran, dass da drinnen etwas einigermaßen Düsteres passiert: Dass da schwierige und unangenehme Menschen zusammengesperrt und einander ohne Ausweichmöglichkeiten ausgesetzt sind. Mit Strafen von drakonischer Länge, Zwangsarbeit und gelegentlich noch extra Demütigungen werden diese Menschen besonderen Härten und Notlagen ausgesetzt. Ihre Chancen werden von Staats wegen und im Namen des Volkes ruiniert. Die Gebäude, in denen das geschieht, sind farbig und ansprechend. Staatliche Herrschaft verbirgt sich hinter postmoderner Beliebigkeit.

Ein anderes Beispiel bietet der jüngste Wiederaufbau in Berlin, besonders um den Potsdamer Platz und im Regierungsviertel. Natürlich ist das Herrschafts-Selbstdarstellung. Sie wird uns vorgeführt als Aneignung eines Stadtzentrums durch mächtige Wirtschaftskonzerne und in Form von Überwältigungs-Architektur. Die Diskussionen über die neuen Bauten in Berlin sind dagegen vom Bemühen geprägt, überall Demokratie zu sehen. Die schon im Ausschreibungstext genannte Vorgabe, eine „kritische Rekonstruktion der Geschichte“ solle da entstehen, wird auch in den Pracht-Bildbänden noch verwendet, mit denen man, immerhin ein Jahrzehnt später, das abgeschlossene Projekt auch den Nicht-Berlinern nahe bringt.

Das neue Berlin als Hauptstadt eines in Europa mit leichter Beklemmung betrachteten Groß-Deutschland sollte nach dem Willen der Planer bescheiden und demokratisch, der traurigen und schrecklichen Vergangenheit bewusst ausfallen. Herausgekommen ist Pracht und Prunk, nachdem die Planung von den Konzernen selbst übernommen wurde. Die Berliner sprechen inzwischen von „Potz-Daimler“ Platz. Wir haben auch hier wieder das Phänomen, dass die Shopping-Mall und der Vergnügungs-Park das Grundmuster abgeben, in dem hier Verwaltungsbauten (diesmal der Wirtschaft) und Luxus-Wohnungen integriert sind. Das Sony-Center verkörpert das alles in einem. Die herrschende Klasse in Deutschland baut monumental und redet bescheiden. Sie hat auch hierzulande ihre Scham verloren, lässt sich aber von den internationalen Konkurrenten „klein“ halten, für die man zugleich „groß“ tut. Das „neue Berlin“ ist ein Kompromiss: bescheidenes Großtun.

Dazu fügen sich die allgegenwärtigen Verweise auf Manhattan: Bei spitzwinkeligen Häusern kann man das Flatiron Building nicht aus dem Kopf bekommen, das jetzt fertiggestellte Beisheim-Gebäude erinnert im Stil penetrant an eine verkleinerte Nachahmung des Rockefeller Center. Wir melden Aspirationen auf das europäische New York an, so wie sich schon Frankfurt megaloman „Mainhattan“ nannte.

An der Gestaltung des Platzes vor dem Reichstag und des Kanzleramts wird beides, bescheidenes Großtun und der Amerika-Bezug, noch einmal durchgespielt. Die Anlage erinnert an Washingtons Grünfläche vor dem Capitol. Das Kanzleramt nimmt den Platz des Weißen Hauses ein. Nur stimmen die Proportionen nicht. In Washington dominiert das Parlament alles, das Weiße Haus tritt fast bescheiden in den Hintergrund. Hier drängt sich das Kanzleramt in den Vordergrund, zu groß, zu protzig, zu auffallend. Der Reichstag, mit seiner preussisch-imperialen Architektur ohnehin schwer zu einem Sinnbild der Demokratie zu machen, das kann auch die Glas-Kuppel bei allem Bemühen nicht retten, wird in die Defensive gebracht.

Herrschafts-Darstellung ist heute, so kann man schließen, unsicher und widersprüchlich, sie versteckt sich in Shopping-Malls und Erlebnis-Parks – und sie bezieht uns in einer touristischen Rolle ein. Sie ist noch immer Beeindruckungs-Architektur, sie macht uns immer noch klein, aber sie schließt uns nicht aus. Auch die Herrschaftsarchitektur hat ihren Ernst verloren. Gebäude, die die Kapitalmacht darstellen, also Verwaltungszentren und Bankentürme, aber auch die baulichen Darstellungen des Staates, sind amüsant geworden. Natürlich sind sie immer noch auffällig grandios und anspruchsvoll, sie bringen uns in eine Position, in der wir zu ihnen aufblicken müssen – aber sie haben auch diese Spiegelfassaden, die uns blenden und in denen wir den Himmel sehen können, sie haben diese unpassenden Kronen an der Spitze, sie tragen verspielte Nischen und Säulen, scharfe Kanten und glänzende Materialien.

Das ist nicht die Herrschaft, die wir kennen. Die Regierungsgebäude (und die Gefängnisse) und neuerdings auch die Gebäude des Kapitals stellen eine Herrschaft dar, die von den Imperativen der Kulturindustrie geprägt ist. Ein unpersönliches, ortloses Kapital materialisiert sich in Verwaltungsgebäuden, die durch sensationelle Gestaltungen zur Attraktion werden. Die Verwaltungstempel werden in ein Tourismus-Zentrum eingebaut. Dem Betrachter wird nicht Respekt abverlangt, indem man ihn per Bannmeile auf Distanz hält. Vielmehr ist er als Bewunderer, nicht aber als Teilnehmer eingeplant. Er bleibt unbeteiligt. Zuletzt geht den Souverän als den Touristen, der nur vorbeiläuft, die Herrschaft, die in seinem Namen geübt wird, nichts an.

Architektur entsteht nach Verwaltungs-Logik und sie drückt Verwaltungs-Logik aus. Sie definiert damit die Herrschaft der Waren und integriert den Souverän als Käufer und touristischen Flaneur. Natürlich kann er sich dem entziehen und vor dem Kanzleramt oder im Sony-Center die Faust erheben. Aber gewöhnlich tut er das nicht, sondern genießt noch die Verantwortungslosigkeit, die ihm angemutet wird.

Beispiel 2: Kulturindustrielle Politik und die Verachtung des Souveräns

Mit dieser Analyse von Herrschafts-Architektur haben wir schon in einem Aspekt dargestellt, wie kulturindustrielle Politik heute uns, den Souverän, definiert: als außenstehend, wie eine Kundschaft umworben, nicht weiter und intensiver beteiligt. Das gehört aber zu einem umfassenderen Muster von Populismus, der wesentlich kulturindustrielle Politik ist. Max Horkheimer hat dieses Muster in der Geschichte der bürgerlichen Befreiungsbewegung seit Cola di Rienzo (Mitte des 14. Jhdts) über Girolamo Savonarola (Ende des 15. Jhdts) und den Revolutionär Maximilien Robespierre (Anfang des 18. Jhdts) bis zu den faschistischen Massenbewegungen im 20. Jhdt analysiert. (Egoismus und Freiheitsbewegung, 1936) Es ist immer wieder das Muster der Verpflichtung der Anhängerschaft auf das Große & Ganze unter Verzicht auf die eigenen Interessen mit Hilfe von Demagogie und aufgestacheltem Fanatismus. Populismus dieser Art ist danach eine Dimension von bürgerlicher Politik, die das Volk als „Rammbock“ (gegen Patriziat, später Aristokratie) braucht, es aber nicht zu seinem Recht kommen lassen kann. Daher muss ihm Verzicht beigebracht werden. Diese Art von Politik ist heute perfektioniert.

Dank großartiger politischer Erfindungen ist es der Berufspolitik gelungen, sich von den von ihnen Vertretenen weitgehend unabhängig zu machen. International reisende und sich verdingende Wahlkampf-Spezialisten tun ihr Bestes, um die Wahl statt einer Abstimmung über die Politiker-Leistungen in den letzten vier Jahren zu einem Votum über die Güte, und das heißt: Unterhaltsamkeit des Wahlkampfs werden zu lassen. Politik muss in erster Linie Aufmerksamkeit, also Einschaltziffern finden. Daher müssen sich politische Ereignisse nach den Bedürfnissen der Medien ausrichten, die über sie berichten sollen. Politik organisiert nach Köpfen statt nach Interessen, und das mit allen Mitteln des Erringens von Aufmerksamkeit, Zustimmung und Abstimmung. Es ist populistische Politik, und das in allen Parteien. An den früheren Arbeiter-Parteien ist das, weil relativ neu, besonders auffällig.

Durch diese Form der Politik, die dem Volk nach dem Mund redet, aber es nicht ernst nimmt, wird aus der Vertretung der Interessen bestimmter Positionen durch ihre politischen Abgeordneten das Einkaufen der Stimmen dieser Leute durch Berufspolitiker. Demokratische Politik als kulturelle Aktivität hat einen starken Aspekt von Warenförmigkeit bekommen. Sie hat damit nicht nur ihren demokratischen Charakter als Vertretung der Leute verloren, sie ist gerade indem sie das verspricht, was Mehrheiten (in Umfragen, mit ihrer eigenen Problematik) zu wünschen scheinen, zur Volksverachtung geworden. Die Wählerschaft muss aufmerksam gemacht, gewonnen, überzeugt, informiert werden, weil man tatsächlich Politik an ihren Interessen vorbei macht. PR-Arbeiter, Umfrage-Forscher und sonstige Politikberater, alles Wissensarbeiter unter den Bedingungen von Kulturindustrie, erledigen das gekonnt.

Betonte Populisten wie Berlusconi sind am ehesten bereit, das Volk, das sich auf der Straße bemerkbar machen will, auch niederknüppeln zu lassen. Die Inszenierung von Genua 2001, die auf Spektakel und zur Not, wenn nicht vor allem, auch ein Bürgerkriegs-Spektakel angelegt war, hat es deutlich gezeigt.

Beispiel 3: Sozialwissenschaftliche Zeitdiagnose als Party-Spiel

Sozialwissenschaftliche Zeitdiagnosen haben in den letzten zwanzig Jahren erstens Konjunktur, zweitens eine zunehmend kürzere Zerfallszeit (die Industrie-Gesellschaft hielt etwa hundert Jahre, die Erlebnis-Gesellschaft gerade zehn) und drittens jedenfalls im Deutschen bevorzugt die Form einer „XY-Gesellschaft“ – von Risiko- über Multioptionen bis Erlebnis-Gesellschaft. Diese Form fällt auf, weil sie im Englischen wenig auftritt – und weil sie an eine kommerzielle PR-Masche erinnert, die in etwa derselben Zeit um sich gegriffen hat: Einkaufszentren bezeichnen sich gern als „XY-Land“ oder „YX-Welt“ – Teppichland, Fliesenwelt, Bauwelt, Weihnachtsland, in Wien gibt es an der Simmeringer Hauptstraße, die zum Zentralfriedhof führt, ein „Grabsteinland“. Das erinnert an die Freizeit-Parks, mit denen das wohl begonnen hat: Disneyland und Legoland, und tatsächlich ist es ja auch die Strategie, den „Erlebnis-Einkauf“ mit dem Besuch eines Freizeit-Parks zumindest assoziativ zu verbinden. Die Soziologie und die Sachbuch-Verlage haben diese Werbe-Strategie übernommen.

Die Form der Benennung suggeriert – wie auch bei Teppich- oder Fliesenland – den Eintritt in ein geschlossenes Terrain, auf dem alles geboten wird, was man braucht, eine Komplett-Versorgung der besonderen Art, zugespitzt um ein Thema, von dem alles organisiert wird. Bei Disney ist es der Kosmos der in seiner Fabrik erfundenen Figuren, in der Risiko-Gesellschaft wird alles von unbeherrschbaren Unsicherheiten bestimmt. (Immerhin ist uns bisher eine Bezeichnung nach dem patriarchalen Schöpfer der entsprechenden „Welt“, analog zu Disneyland, erspart geblieben: keine Beck- oder Glotz-Gesellschaft, dazu reicht die Prominenz doch nicht. Auch scheint der von ihnen geschaffene Kosmos nicht umfassend genug zu sein. Eine Dieter-Bohlen-Welt oder ein Beate-Uhse-Land eines Tages wäre hingegen nicht auszuschließen.) Durch die Form der Benennung wird ein Anspruch auf umfassende Charakterisierung aufgestellt: „Risiko“ ist in der „Risikogesellschaft“ keine Einzeldimension, die hier und da in der Gesellschaft auch durchschlägt, sondern die bestimmende zentrale Dimension, das eine entscheidende Merkmal der Gesellschaft.

Suggeriert wird auch eine komplett neue Gesellschaft: Der Wandel zur „Risikogesellschaft“ fügt nicht eine Eigenheit zu dem hinzu, was bisher war, sondern wälzt alles um, nichts bleibt, wie es war – so wie die auf den Hüften getragenen Jeans ganz neu und etwas nie Dagewesenes sind und ein komplett neues Lebensgefühl vermitteln, eine Revolution im gesamten life-style. Als „gelernte Konsumenten“ warten wir mit mildem Interesse darauf, mit welcher Revolution der Mode uns die Werbe-Strategen nächstes Jahr amüsieren werden. Die Abfolge der „XY-Gesellschaften“ ist ähnlich ein Wechsel der Moden oder der Probleme und in kein umfassenderes historisches Modell etwa der Entwicklung von Produktionsweisen eingebettet. Daher lässt sich weder die Größenordnung der diagnostizierten Veränderung abschätzen, noch lässt sich zwischen den Diagnosen entscheiden, ob sie ein wichtiges oder ein zentrales Merkmal der Veränderung benennen – noch ganz abgesehen von der Schwierigkeit zu entscheiden, ob es sich überhaupt um eine nennenswerte Veränderung handelt. Die Gesellschaftsdiagnosen benehmen sich wie Mode-Phänomene, die auf willkürlichen Einfällen beruhen und die sich in der Konkurrenz durchsetzen müssen, einen besseren Grund für ihr Akzeptiertwerden gibt es nicht. Sie sind alle „gleich gültig“ und beweisen sich nicht durch „Wahrheit“, sondern durch journalistische und politische Brauchbarkeit. Welche sich durchsetzt, liegt eher an Griffigkeit und plakativem Namen als an Treffsicherheit. (Deshalb war z.B. Peter Gross’ „Multioptions-Gesellschaft“ PR-mäßig schlecht gewählt und wurde auch nicht sehr populär.)

Eine bestimmte Form von Wissenschaft, ein methodischer Zugang zur Analyse von Gesellschaft ist also kulturindustriell bestimmt entstanden. Dass das so gedacht und beschrieben werden soll und kann, liegt an Imperativen des Marktes: Soziologen konkurrieren auf dem Sachbuch-Markt, der sich seit nicht viel mehr als dreißig, vielleicht vierzig Jahren (beginnend mit „Rowohlts deutscher Enzyklopädie“ und der „edition suhrkamp“) zunehmend aus dem begrenzten Markt für Wissenschaft ausdifferenziert und sich zwischen Monographie und Lehrbuch geschoben hat. Hier geht es um Wissenschaft zur Unterhaltung, womit das Innovations-Kriterium von Wissenschaft eine neue Bedeutung bekommt: Sensation und marketing-gag. Bekanntheit auch innerhalb der Wissenschaft wird längst darüber ausgehandelt. Am Beispiel Beck, dessen „Individualisierung“ zehn Jahre der deutschsprachigen Soziologie samt einigen DGS-Kongressen dominiert hat, war das gut zu beobachten. Wissenschaftlicher Rang wird von den Journalisten von FAZ und „Zeit“ gemacht, nicht von der Redaktion der „Kölner Zeitschrift“ und ihrem peer-review. Das kann man unterschiedlich beurteilen, aber jedenfalls prägt es die Form von Wissenschaftlichkeit.

V. Vom gekonnten Umgang mit Kulturindustrie

Kulturindustrie ist bunt und schön, wir wollen alle dabeisein – das stimmt schon und das ist auch recht so. Niemand braucht uns Vorschriften zu machen, wie wir unsere kicks bekommen, womit wir uns vergnügen und was uns zum Abschlaffen verhelfen soll. Es gehört zur Fehl-Wahrnehmung der Kritischen Theorie und besonders Adornos, dass sie als normativ, wenn nicht als „Anweisung zum richtigen Leben nach Auschwitz“ verstanden wurden und werden, als „Aphorismen zur Lebensweisheit“ nach der Katastrophe. Die Tatsache, dass seit Habermas eine Moralphilosophie als legitime Weiterführung der Kritischen Theorie behauptet wurde (auch wenn zugleich alle Grundannahmen revidiert wurden), hat nichts zum Abbau dieses Missverständnisses beigetragen, aber viel zum Füttern der seltsamen Hassgefühle, die gelegentlich Adorno gegenüber zum Ausbruch kommen, auch heute noch.

Das alles ist höchst unangebracht. Adornos Theorie ist nicht normativ. Sie ist Gesellschaftskritik auf viel raffiniertere Weise als Habermas uns nahelegt. Sie kritisiert – außer dort, wo gar keine besondere Kunst der Kritik nötig ist, wie etwa beim Insistieren auf dem Eingedenken des europäischen und deutschen Volkermordes – indem sie auf die Versprechungen wie die Versagungen der bürgerlichen Gesellschaft hinweist und die Rückfälle der Intellektuellen aufzeigt. Sie macht uns keine Vorschriften, sie warnt uns. Sie will uns nicht, wie manche meinen, die Laune verderben, sie weist uns auf das hin, was hinter unserem Rücken geschieht, während wir uns auf trips begeben, die noch dazu viel zu oft schlechte trips sind.

Es hat einmal, in den 50er und frühen 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, eine historisch einmalige Situation gegeben, in der Kulturindustrie subversiv war: Als wir amerikanische Lässigkeit der Haltung und Kleidung und die antiautoritäre Traurigkeit des Blues in Form von Elvis Presley, Rolling Stones und Bob Dylan der autoritären europäischen, besonders deutschen Kultur entgegenhalten und uns mit dieser kleinen Übersetzhilfe für eine kurze Zeit von ihr befreien konnten, bevor wir von ihrer Kommerzialisierung eingemacht wurden. Das zu verallgemeinern, wäre leichtfertig. Spätere Jugendkulturen haben eine ganz andere Situation vorgefunden, der Moment der Befreiung ist längst vorbei.

Die Anforderungen der Kritischen Theorie sind intellektuell, nicht moralisch: Wie gewinnt man die Reflexivität, mit der man auch aus dem Schund, der überwiegend angeboten wird, auch noch sein Vergnügen ziehen kann? Und wie produziert man als Intellektueller in einer Form, in der man Kritik und Ironie ohne Schaum vor dem Mund und ohne Moralismus transportieren kann? Wie schafft man es, sich an der Herrschaft, in die man hineingezogen wird, nicht mehr zu beteiligen als unvermeidlich ist, also ohne freiwillige Vorleistungen? Die großen Erwartungen an die Kulturindustrie sind überflüssig. Der moralische Zeigefinger ist es ebenso.

Anmerkung

* Manuskript eines Vortrags in der „DenkBar“, Frankfurt, am 21. Oktober 2003. In I bis III werden Abschnitte aus Christine Resch und Heinz Steinert (2003) „Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse“, in: Alex Demirovic (Hg) Modelle kritischer Gesellschaftstheorie: Traditionen und Perspektiven der Kritischen Theorie. Stuttgart: Metzler, 312-339, verwendet. (Dort findet sich auch das Literaturverzeichnis zu den Verweisen in diesem Text.) Die Beispiele in IV sind genauer analysiert in: Heinz Steinert (2000) „Kulturindustrie in der Architektur: E-U-Kultur und die Autonomie des Publikums“, in: Zeitschrift für Kritische Theorie 6 (Heft 10/2000): 73-87; Christine Resch und Heinz Steinert (2004) „Der Potsdamer Platz aus der Perspektive der Kritischen Theorie. Die Widersprüche von Herrschaftsdarstellung: Bescheidenes Großtun als Kompromiss“, in: Joachim Fischer und Michael Makropoulos (Hg) Potsdamer Platz: Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne. München: Fink; Heinz Steinert (1999) „Kulturindustrielle Politik mit dem Großen & Ganzen: Populismus, Politik-Darsteller, ihr Publikum und seine Mobilisierung“, in: Internationale Gesellschaft und Politik 4/1999: 402-413. Insgesamt zum Thema Heinz Steinert (1998/2003) Kulturindustrie. Münster: Westfälisches Dampfboot; Culture Industry. Cambridge: Polity Press; sowie Christine Resch und Heinz Steinert (2003) Die Widerständigkeit der Kunst: Entwurf einer Interaktionsästhetik. Münster: Westfälisches Dampfboot.Zurück zur Textstelle

© links-netz März 2004