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Ein „Komplott gegen die Wissenschaft“

Tabakrauchen – vom Glaubenskampf zum tragbaren Kompromiss und zurück*

Heinz Steinert
(Nichtraucher, daher bei ungetrübter Urteilsfähigkeit – s.u.)

Das deutsche Bundesverfassungsgericht, so kann man lesen, gibt der staatlichen Gesundheitsvorsorge zwar einen besonders hohen Stellenwert, kennt aber daneben auch noch ein paar andere Probleme, mit denen Politik sich beschäftigen könnte: zum Beispiel damit, keine grob ungleich behandelnden Gesetze zu machen und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffs zu achten. Es geht auch, wie praktisch alle Leute, davon aus, dass Tabakrauchen ungesund ist und dass Raucher auf Nichtraucher Rücksicht nehmen sollten. Aber es hat nicht den Tunnelblick, dass in der Gesellschaft und in der Gesundheitspolitik Tabakrauchen das einzige, jedenfalls das bei weitem wichtigste Problem und das Totalverbot die einzige Option sei. Es zeichnet gute Politik aus, dass sie die Vielzahl der Interessen und Perspektiven zu berücksichtigen imstande ist.

Die mit dem Urteil vom 29.7.08 eingetretene Situation, dass kleine Wirtshäuser selbst bestimmen können, ob man bei ihnen Tabak rauchen kann oder nicht (und das deutlich bekannt geben müssen), mutet nachgerade weise an: Niemand ist gezwungen, sich im Wirtshaus fremdem Tabakrauch auszusetzen, und wer unbedingt am Tresen rauchen will oder sich nicht daran stört, dass andere Leute das tun, oder die Gesellschaft seiner Tabak rauchenden GefährtInnen nicht missen will, kann sich dieser gesundheitsgefährdenden Situation aussetzen. Kinder und Jugendliche unter 18 dürfen dort nicht sein und stillende Mütter werden genug Nichtraucher-Wirtshäuser finden, in denen sie sich aufhalten können. (Übrigens ist durch die gerade geplatzte österreichische Regierung, die sich sonst nicht unbedingt durch hohe Rationalität ausgezeichnet hat, ein analog kluges Gesetz vorgelegt und vom Parlament auch beschlossen worden – völlig ohne Nachhilfe des Verfassungsgerichts.)

Was etliche Jahre als Glaubenskrieg getobt hat, könnte damit ein Ende finden: Raucher wie Nichtraucher hätten ihre Orte und wer sich an den falschen Ort verirrt, kann sich dort nicht rechthaberisch aufführen, ohne dazu aufgefordert zu werden, doch „nach drüben zu gehen“. Das muss für den Gesundheitsschutz noch nicht aller Tage Abend sein: Den Einsatz guter Lüftungen und Filter, also den Einsatz aller technischen Möglichkeiten vorzuschreiben, um Arbeitsplätze wenig gesundheitsschädlich zu machen, ist eigentlich zentrale Aufgabe der Gewerbeordnung und des Gesundheitsamtes. Dazu braucht man im Fall des Tabakrauchens, wenn die Schädigung durch Rauchen und besonders Passivrauchen doch so solid nachgewiesen ist, nicht einmal neue Gesetze. Die immer noch nicht ganz einflusslosen Arbeitnehmer-Vertretungen müssten die technische Ausstattung nur allgemein durchsetzen, notfalls mit ein paar Musterklagen. Das Leben könnte so einfach sein.

Aber die Wissenschaftler sind, wenn man der Darstellung im Spiegel, 31/08: 36f, glauben kann, konsterniert, fühlen sich vom Hass der Raucher verfolgt und verstehen überhaupt die Welt nicht mehr: Die Richter folgen nicht einfach ihren eindeutigen wissenschaftlichen Befunden, aus denen sie die Notwendigkeit von Totalverboten ableiten, sondern hören auch noch andere, besonders Interessenvertreter an. Die Wissenschaftler werden, so kann man dort lesen, „dieses Komplott gegen die Wissenschaft beim Thema Rauchen nicht hinnehmen“.

Die mit dem Bundesverdienstkreuz bestätigte Medizin-Professorin Pötschke-Langer vom WHO-Kollaborationszentrum für Tabakkontrolle weiß ganz genau: „Sinnvoll ist nur eine komplett rauchfreie Gastronomie ohne Ausnahmen.“ Ähnlich naturwissenschaftlich erwiesen ist offenbar auch: „Wer dagegen Schlupflöcher im Gesetz lässt, so wie Spanien, riskiert unklare Verhältnisse und eine Verschärfung der Auseinandersetzung zwischen Rauchern und Nichtrauchern.“ (Beide Aussagen aus einem Interview im Bonner General-Anzeiger vom 28.6.08.) Dass zwischen dem naturwissenschaftlich möglichen Nachweis der Schädlichkeit und der Maßnahme, die politisch zu finden ist, ein Kategoriensprung liegt, dass sich die Politik nicht zwingend und eindeutig aus dem naturwissenschaftlichen Befund ergibt, taucht in den Überlegungen dieser Demokratin nicht auf. Ihr Zuarbeiter Professor Keil kommt (laut dem oben genannten Bericht im Spiegel) gar zum Befund „Bananenrepublik“ und „wir sind ein Volk von Deppen“ angesichts der Erfahrung, dass er mit seinen Tabellen nicht der einzige ist, auf den Politik und Verfassungsgericht hören. Und der Professor Wiebel, Sprecher des „Aktionsbündnis Nichtrauchen“, weiß sogar, dass Raucher (inklusive die Richter des Bundesverfassungsgerichts, die rauchen) ohnehin nicht urteilsfähig sind, weil das Nikotin ihr Hirn verändert. Naturwissenschaftlich vorsichtig wählt er diese Formulierung: „Dass die unterschiedlichen Einschätzungen [der Gefahren des Rauchens] direkt auf die nikotinbedingten Veränderungen im Gehirn zurückzuführen sind, ist experimentell schwer nachzuweisen. Aber der ursächliche Zusammenhang liegt nahe.“ (Süddeutsche Zeitung vom 29.7.08) Eine „nahe liegende Kausalität“ genügt offenbar, um mit wissenschaftlicher Autorität Politik bestimmen zu wollen.

Interessant wäre zu wissen, wie in dieser wissenschaftlichen Haltung die Geschichte des Rauchverbots wahrgenommen wird: Bis in die 1980er Jahre herrschte tiefes Mittelalter, alle dachten, Tabakrauchen ist fesch und gesund, dann kam die Naturwissenschaft in ihrem ungezielten, aber unermüdlichen Forschungseifer darauf, dass das morgendliche Husten und der trockene Mund der Raucher doch etwas zu bedeuten hat und klärt seither heroisch und gegen alle Widerstände die Menschheit über diese Gefahren auf? Ist das die Geschichte? Gab es nicht eine radikale Verschiebung der sozialen Normen rund um das Rauchen, die von den Fitness- bis Wellness-Bedürfnissen der Mittelschicht ausging (und sich ebenso im Wunsch nach „natürlichem“ Essen, einer strahlenfreien Umgebung und feinstaubfreier Luft ausdrückte) und die das Tabakrauchen auch unabhängig von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ächtete? Gab es da nicht eine Bewegung in den USA, angeführt von Anwälten, die den Tabak-Konzernen Schadenersatz abforderten, was die entsprechende Forschung enorm stimulierte? Haben nur die Tabakindustrie und irgendwelche fanatisierten Raucher Lobbyisten, hingegen die Propagandisten der Tabak-Prohibition nichts als die schwache Stimme der Vernunft, keine Financiers (etwa in der Pharma-Industrie), keine Leute in Brüssel, kein Netz von nützlichen Beziehungen? Gelten sozial nicht die Nichtraucher als die gesunden, vorausschauenden und für die Gemeinschaft nützlichen Leute, die Raucher hingegen als rücksichtslose Schmutzfinken, die sich schämen sollen (und entsprechend defensiv auftreten)? Wird da nicht Gesundheitspolitik mit der Denkfigur „Gemeinschaftsschädlichkeit“ betrieben?

Dass die Naturwissenschaft nicht die Welt regiert, sollte eigentlich keine überraschende Erkenntnis und auch demokratiepolitisch nicht ganz unerwünscht sein. Man sagt es ja nicht so gern, aber es gibt offenbar Fälle, in denen der Fundamentalismus in der Wissenschaft und die gelassene Klugheit bei Politik und Recht zu finden ist.

Anmerkungen

* Diese Glosse ist zugleich der neueste Beitrag zu der Diskussion um das Rauchverbot, die unter www.folks-uni.org geführt wird.Zurück zur Textstelle

© links-netz August 2008