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Krise? welche Krise? wessen Krise? – Metaphern und Modelle und was daraus folgt

Erster Akt (2008/09): Der Staat als Arzt am Krankenbett des Bankensystems

Heinz Steinert

Glaubensstärke und geklärtes Interesse als Grundlage der Position als „Experte“

Ökonomen können „die Krise“ mit ihrem ersten Höhepunkt in der Pleite der Lehman Brothers im Herbst 2008 und dem zweiten (zumindest in und für Europa) im Beinahe-Staatsbankrott Griechenlands im Frühjahr 2010 nicht befriedigend erklären. Es gibt genügend öffentliche Eingeständnisse, dass ein solches einmaliges Ereignis mit Hilfe von Rechenmodellen, die den Normalbetrieb von Kapitalismus fortschreiben, weder vorherzusehen noch zu erklären sei. Es gibt auch genügend öffentliche Vorführungen der Ratlosigkeit von sonst obergescheiten Wirtschaftsexperten, die Regierungen beraten und jetzt gerade nicht so genau wissen, was sie raten sollen. Und es gibt die scharf divergierenden „Erklärungen“, die von Experten verschiedener Schulen angeboten werden. Sie fallen in zwei große Gruppen: Ausgangspunkt waren a/ politische Fehler (die Deregulierung des Finanzsektors einerseits und die nachfolgende Politik des billigen Geldes andererseits, schließlich die Weigerung, Lehman mit staatlichen Geldern zu retten) oder b/ wirtschaftliches Versagen (Spiele mit zu hohen Risiken, Spiele mit Finanzprodukten, die keiner versteht, aggressiver Verkauf von Krediten, reine Betrugsgeschäfte, grenzenlose und kurzfristig orientierte Geldgier der Manager und Finanzjongleure). Wenn man sich in dieser Palette für eine „Erklärung“ entscheidet, setzt das einige Glaubensstärke voraus – über die besonders die gut organisierten Hayek-Anhänger durchaus verfügen. Umgekehrt versuchen die lange unterdrückten Keynesianer aus der Situation Kapital zu schlagen und sich und ihre Theorie als zumindest diskutabel wieder ins Spiel zu bringen – was politisch gar nicht so schwierig ist, nachdem hohe, wenn auch durchaus nicht keynesianisch eingesetzte Staatsausgaben gerechtfertigt werden müssen. (Es hat nichts mit Keynesianismus zu tun, die Banken zu subventionieren und mit billigem Geld zu versorgen – aber so eng sieht die öffentliche Diskussion das nicht: Hauptsache Staatsausgaben.) Insgesamt ist in diesen Jahren „der Krise“ deutlich geworden, dass die Ökonomie auch nicht weiß, was uns da geschieht.

Gut haben es in dieser Situation Leute mit hoher Glaubensstärke und Leute mit einer klaren Interessenposition.1 Letztere sind vor allem die Banken: Sie wollen nach Möglichkeit die Kosten der Krise, also die Verluste, die in der Folge von Pleiten bei ihnen anfielen, nicht übernehmen.2 Zugleich kann ihr Leitungspersonal mit dem Anspruch auftreten, sie seien die Experten, sie hätten (als einzige) die Erfahrung und wüssten, wie die Finanzmärkte funktionieren und was daher in „der Krise“ die richtigen Maßnahmen seien, um dieses Funktionieren zu sichern.3 Sie wissen das deshalb ganz genau und völlig sicher, weil sie ihre Interessen kennen, können das aber als (fast) neutrale Expertise antragen, weil ihnen niemand folgenreich widersprechen kann: Welcher Politiker würde es wagen, gegen den explizit anderen Rat von Josef Ackermann, Martin Blessing und sonstigen Bank-Häuptlingen eine finanzpolitische Maßnahme zu setzen – geschweige denn, dass er sie durchsetzen könnte? Hinzu kommt, dass die Wirtschaftspolitiker (Politiker wie Beamte) selbst aus dem Finanzgewerbe rekrutiert werden und also die entsprechenden Selbstverständlichkeiten ohnehin teilen.

Auch wenn also unter diesen „Experten“ ziemlich klar ist, was der Staat jetzt zu tun hat, müssen doch das Geschehen und die staatlichen Interventionen – so weit reicht Demokratie gerade noch – dem Volk (und auch den Politikern selbst) plausibel gemacht werden. Dazu dienen Metaphern: Wenn man keine Theorie hat, helfen Sprachbilder, eine erste Ordnung herzustellen. Zugleich sind Metaphern und Modelle regelmäßig die Vorstufe von Theorien und ihr Hintergrund. Metaphern sind also gar nicht spezifisch für Politik und das kulturindustriell organisierte Geplapper der Talkshows, der Wirtschaftsteile von Tages-, besonders aber Wochenzeitungen, der Feuilletons und schließlich der Verlautbarungen von Parteien und Regierungsmitgliedern bis hin zu Parlamentsreden. Man kann genauso die Metaphern in der „Kritik der reinen Vernunft“ untersuchen. Die kulturindustriell-banalen der „politischen Öffentlichkeit“ sind nur folgenreicher.4

Freilich ist es für die gemeinen Leute nicht leicht, mit den großen Krisen umzugehen, so lange sie nicht unmittelbar betroffen sind. Die statistischen Kennziffern bleiben abstrakt und die Katastrophen bleiben Bilder im Fernsehen. Welche Folgerungen man im persönlich verfügbaren Bereich von Arbeiten, Einkaufen, Sparen und sonstiger Planung für die nähere und fernere Zukunft – und Sich-ablenken-Lassen daraus ziehen soll, ist unklar. In der Öffentlichkeit werden absurde Aufforderungen gehandelt, man solle sich doch als Element der Kennziffern verstehen und zum Beispiel mit seiner Konsumkraft aktiv werden, „Konsum“ als Stütze der Konjunktur einbringen:

Nach dem 11. September 2001 haben in den USA Politiker die Bevölkerung dazu aufgerufen, sich nicht zu fürchten, ihr Leben nicht zu verändern und jetzt erst recht einkaufen zu gehen, „sonst hätten die Terroristen gerade dadurch ihr Ziel erreicht“. In Manhattan entstand daraus ein Scherzwort, mit dem man jeden kleinen oder größeren Luxus und auch noch das letzte Bier vor der Sperrstunde rechtfertigte: „Cheers – damit die Terroristen ihr Ziel nicht erreichen.“ Wenn jetzt der Wirtschaftsminister dazu auffordert zu konsumieren, um die Wirtschaft zu stützen, können die Leute darüber auch nur witzeln oder sich ärgern, wie im Forum zu einem einschlägigen Artikel in (dem österreichischen Wochenmagazin) News: „Na so a Wabbla – ohne Geld kann ma nix kaufen – oder sollte zumindest nix kaufen.“5 Zumindest bei uns dürfte die populäre Reaktion eher sein, dass man in schlechten Zeiten billig einkaufen und auch sonst sparen muss. Die Verkäufer verschiedener Waren hingegen sehen das genau so wie der Wirtschaftsminister: In schlechten Zeiten sollte man es sich möglichst gut gehen lassen, meint auch Ayodele Adolph, der „Anti-crisis big sale gladness retailer.“

Betreff: Anti-crisis big sale gladness retailer

Datum: Sonntag, 28. Juni 2009 17:55:12 MESZ

Von: Ayodele Adolph <steingoldm@yahoo.com>

An: <xyx@yxyx.de>

Unterhaltung: Anti-crisis big sale gladness retailer

Kategorie: Junk

The only way to intensify your xxx living

Die Bilder der Krise lassen sich also nicht einfach in Handeln umlegen. In der Krisenphase 2008/09 scheint es populär vor allem Angst um das eigene Sparbuch gegeben habe. Die wurde durch Bestärken der staatlichen Garantie dafür (was immer die wert sein mag) bearbeitet. 2009/10 ist es zusätzlich die Angst vor Inflation und vor einem „schwachen Euro“, die geäußert wird. Für die Sorge um den Arbeitsplatz braucht man keine Statistiken, sondern nur die Erfahrung der vielen nicht einmal mit einer Eingangsbestätigung beantworteten Bewerbungen oder der Entlassungen und der Kurzarbeit im Betrieb. Ganz unabhängig von der Statistik muss man selbst einfach Glück haben. Auch die Metaphern steuern also das Handeln der gemeinen Leute höchstens indirekt. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, die staatlichen Interventionen auf verschiedenen Ebenen den Akteuren plausibel zu machen. Die Aufforderung nach unten ist: Lasst uns nur machen – wir haben es im Griff – alles wird gut, nicht gleich, aber später.6

Politik mit dem Ausrufen einer Krise

„Krise“ ist selbst schon eine Metapher, und zwar ursprünglich eine medizinische: In der Fieberkrise bewältigt der Körper die Verletzung – wenn nicht, ist er am Morgen tot. Das Bild ist uns aus Ärztefilmen und Western geläufig: Die Patientin bäumt sich im Fieberwahn verzweifelt in den Polstern auf und verfällt schließlich in einen totenähnlichen Schlaf – wir denken, das war's – aber am nächsten Morgen sehen wir sie schwach, aber dankbar lächelnd zu Professor Sauerbruch aufblicken. Im Western ist es der junge Held mit der Schussverletzung, dem unter unzulänglichen Bedingungen die Kugel herausgeschnitten wurde und der in einen schweißbedeckten Fieberschlaf verfällt – die Rancher-Tochter mit dem für die Situation unangemessen tiefen Ausschnitt tupft ihm die Stirn ab. Sie ist auch am Morgen zur Stelle, wenn die Sonne scheint und wir wieder das schwache, aber dankbare Lächeln des Patienten vorgeführt bekommen. Der Rest ist vorhersehbar.

„Krise“ stammt also aus dem großen Umfeld der Organismus-Metaphern, die im 19. Jahrhundert mit der Entdeckung des Blutkreislaufs und anderer Formen des Zusammenspiels der Organe so populär wurden. In den Sozialwissenschaften haben sich daraus Funktionalismus und Systemtheorie entwickelt. „Krise“ ist durchaus nicht in erster Linie die finale Krise, sie ist vielmehr die Entscheidungssituation: eine ernsthafte Bestandsbedrohung und Notlage, die mit Mobilisierung aller Kräfte beantwortet sein will, damit keine Veränderung passiert und der „gesunde“ alte Zustand erhalten bleibt. Genau in dieser Bedeutung ist „Krise“ nicht nur revolutionär denkenden Politikern interessant, sondern ebenso konservativen: Das Ausrufen der „Krise“ konstituiert den „populistischen Moment“, die Aufforderung, angesichts der Notlage alle Interessenunterschiede zu vergessen und für das Große & Ganze zusammenzustehen (www.links-netz.de).

„Krise“ ist also nicht nur ein Begriff der Linken, die auf eine revolutionäre Situation wartet oder sie gar herbeiführen will, sondern genauso einer der Herrschenden, die eine Krisendiagnose für Notmaßnahmen und Ausnahme-Vollmachten und für die Verpflichtung der Untertanen auf das Große & Ganze verwenden können. Indem sie den drohenden Untergang des Ganzen beschwören, überspielen sie im Rahmen der Organismus-Metapher und des Systemdenkens, dass Gesellschaften Herrschaftsverbände und nicht neutrale Funktionszusammenhänge sind, dass sie daher in der Krise nicht sterben, sondern allenfalls die Herrschaftsform verändern, oft nur das Herrschaftspersonal austauschen. Durch den Appell, in der Krise zur Rettung des Ganzen zusammenzustehen, machen sie aus einer Frage der Herrschaft eine des Überlebens aller. Im „strukturellen Populismus“, der politischen Form des Neoliberalismus, ist das einer der zentralen Mechanismen von Politik.

Insofern haben wir uns in den letzten dreißig bis vierzig Jahren nicht nur daran gewöhnt, dass die Krisen von den Herrschenden ausgerufen werden und nicht mehr von der Opposition, sondern auch an das schiefe Bild einer „Dauerkrise“. Seit den 1980ern, also seit Thatcher und Reagan und dann besonders im „Zero-Tolerance“-New York von Bratton und Giuliani, werden alle Wahlkämpfe mit einer „Krise der öffentlichen Ordnung“ bestritten. In Europa wird das mit der Angst vor Fremdem und Fremden und der Leugnung von Migration verbunden. In Wien ist zugleich die „Polizei ... in ihrer größten Krise“. (Heute 22.6.09) Parallel dazu geht die „Krise der sozialen Sicherheit“, also ihrer behaupteten „Unfinanzierbarkeit“ mit den pikanten Subthemen der „Sozialschmarotzer“ und der „zu vielen Alten“. An die „Beschäftigungskrise“ hingegen – gemeint sind Raten der registrierten Arbeitslosigkeit im zweistelligen Prozentbereich oder nahe daran – haben wir uns so gut gewöhnt, dass wir da gar nicht mehr von „Krise“ sprechen mögen. Von anderer Seite wird dem allen die „ökologische Krise“ und die „Nahrungsmittel-Krise“ in Afrika hinzugefügt. Diese Krisen auszurufen, soll in beiden Fällen Handlungsbereitschaft herstellen: Wenn es sich um eine Krise handelt, dann muss etwas getan werden, und zwar energisch und auch unter Verzicht auf eigene, kleinliche Interessen. Das Paradigma der „Krise“ ist die nationale Notlage, eine große Naturkatastrophe oder ein Krieg, eine Situation, in der wir alles andere liegen und stehen lassen und uns alle gemeinsam dieser einen Aufgabe widmen. Der „Terrorismus“ ist das eine Beispiel, in dem nicht die Metapher der Krise strapaziert, sondern gleich ihr Urbild mobilisiert wurde: die Kriegserklärung im „war on terrorism“.

Wann beginnt eine Krise?

Mit den vielfachen Dauer-Krisen im strukturellen Populismus des Neoliberalismus verschwimmt die Metapher in der Unklarheit über Beginn und Ende.

Die als Beginn gewählten Ereignisse bekommen etwas Willkürliches:

Selbst 9/11 war keineswegs der erste Fall von Terrorismus, nicht einmal der erste terroristische Anschlag auf das World Trade Center in New York.7 Erst nachdem ein Anschlag spektakulär und mit den zugehörigen TV-Bildern gelang, wurde dieses Datum zum Beginn einer neuen Ära erklärt.

Ähnlich wurde der 14.9.2008, die Pleite von Lehman Brothers, zum entscheidenden Datum der aktuellen Finanzmarktkrise erklärt. Aber schon im März 2008 war die Investment-Bank Bear Stearns nur deshalb nicht in Konkurs gegangen, weil sie mit Staatsgarantien von Morgan Chase für billiges Geld aufgekauft wurde. Gleichzeitig erinnern sich alle, dass es schon 2007 eine „ Immobilien-Krise“, nämlich den Rückgang der Überbewertung von Immobilien, und Beinahe-Pleiten der staatlich garantierten, aus dem New Deal stammenden Hypothekenbanken Fannie Mae (Federal National Mortgage Association) und Freddie Mac (Federal Home Loan Mortgage Corporation) gegeben hatte. Und diese Krise der „subprime“-, also der schlecht besicherten Hypotheken, war sie nicht die Folge der aggressiv verkauften Hypothekarkredite? Und wann hatte das begonnen und warum? Wann genau fängt die Krise an?

Fast noch schwerer ist anzugeben, wann sie aufhört: Dafür gibt es gemeinhin keine dramatisch öffentlich sichtbare Marke. Business as usual setzt wieder ein. Im Zweifel ist es der Beginn der nächsten Krise, der die Phase abschließt.

Die freien Märkte und die „zuständigen Stellen“ im Staat

Diese Definitionen von Beginn und Ende der Krise sind, versteht sich, politisch. Um es an einem Beispiel vorzuführen: Die Süddeutsche Zeitung hat im März 2009 eine kleine Serie mit Erinnerungen mehr oder weniger Prominenter an die Lehman-Pleite, ein halbes Jahr danach, abgedruckt. Einer, der (am 13.3.09) Auskunft gab, war Josef Ackermann, Vorstands-Vorsitzender der Deutschen Bank.

Süddeutsche Zeitung 13.03.2009 Prominente zur Lehman-Pleite
„Wir hatten eindringlich gewarnt“

„Das ist der GAU.“
Als Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann von der Pleite der US-Großbank Lehman Brothers erfuhr, rechnete er mit dem schlimmsten.

SZ: Wo erfuhren Sie von Lehmans Pleite?

Ackermann: Ich war im Auto unterwegs.

SZ: Was war Ihr erster Gedanke?

Ackermann: Das ist der GAU, den wir schon seit Tagen befürchtet und vor dem wir die zuständigen Stellen eindringlich gewarnt hatten.

SZ: Seien Sie bitte ehrlich: Ahnten Sie, was da auf uns zukommt?

Ackermann: Es war klar, dass der Zusammenbruch einer Bank dieser Größe und mit dieser globalen Vernetzung in der ohnehin schon angespannten Lage schlimme Folgen haben musste. Die Marktteilnehmer wussten plötzlich nicht mehr, welche Bank überhaupt noch sicher war. Das hat das Vertrauen auf den Finanzmärkten fundamental erschüttert.

SZ: Wie hat sich die Welt seitdem aus Ihrer Sicht verändert?

Ackermann: Die Risiken in der Finanzbranche sind uns seitdem noch bewusster geworden. Durch die notwendigen riesigen Rettungsprogramme hat sich das Verhältnis zwischen Markt und Staat deutlich verschoben. Und die Gefahren einer Re-Nationalisierung der Wirtschaft sind spürbar gewachsen.

Ackermann tut alles, um dieses eine Ereignis zu dramatisieren: der Größte Anzunehmende Unfall – das meint sonst die atomare Verwüstung von halben Kontinenten. Um dieses Unglück abzuwenden, dafür gibt es „zuständige Stellen“ und zu denen haben „wir“ unmittelbaren Zugang. Ackermann braucht offenbar nicht dazusagen, wer „wir“ ist – „wir“, die internationalen Ober-Banker, auf deren Rat Regierungen und Finanzbehörden, auch die der USA, gewöhnlich hören; und wenn sie einmal selbst auf unsere „eindringlichen“ Warnungen nicht achten, dann kommt dabei ein Unglück heraus; außerdem ist Ackermann Vorsitzender des IIF – Institute of International Finance, eines Zusammenschlusses von 380 international tätigen Banken.

Dazu legt er Wert darauf, diese Katastrophe als unerwartet darzustellen: „Die Marktteilnehmer wussten plötzlich nicht mehr, ...“ – bis dahin konnten sie offenbar davon ausgehen, dass eine „Bank dieser Größe“ sehr wohl „sicher“ ist. Bis dahin konnten sie sich auf ihren Staat und seine Steuergelder verlassen, jetzt plötzlich nicht mehr. Dadurch sind „uns“ die „Risiken in der Finanzbranche ... noch bewusster geworden“. Bis dahin konnten „wir“ davon ausgehen, dass die Risiken mit Hilfe der „zuständigen Stellen“ beherrschbar sind.

Jetzt ist aber dazu eine neue Herausforderung aufgetreten: „die Gefahren einer Re-Nationalisierung der Wirtschaft“. Es geht also erstens gleich um die ganze Wirtschaft, zweitens um eine Re-Nationalisierung. Wann die erste Nationalisierung war und wann ent-nationalisiert wurde, sagt Ackermann nicht, auch das ist in seinen Kreisen offenbar selbstverständliches Wissen: Wir können wohl davon ausgehen, dass er von Fordismus und Neoliberalismus spricht, also einerseits vom seinerzeitigen Korporatismus unter Einbindung der Banken in die nationale Wirtschafts- und besonders Industriepolitik, was damals als „Modell Deutschland“ gepriesen wurde, und im Gegensatz dazu von den Deregulierungen und der Verselbständigung der internationalen Finanzmärkte seit Reagan und Thatcher.

Wir sollten das vielleicht vormerken: Für jemanden wie Ackermann besteht der jetzt manchmal aufgebaute und zugespitzte Gegensatz zwischen Markt und Staat nur bedingt. Die „zuständigen“ staatlichen Stellen sind Mitspieler der Finanzwirtschaft mit eigenen Aufgaben, die sie gewöhnlich auch auf Zuruf der Markt-Mächtigen erfüllen. Und sie haben, genau wie es die Staatstheorie betont, zugleich eine partiell selbständige Position, die auf der Verfügung über gesetzliche Regulationen, besonders aber über die immer noch gewaltigen und nicht den Imperativen der Rendite unterworfenen Steuermittel beruht. Um das zu wissen, braucht Ackermann kein Seminar bei Joachim Hirsch zu besuchen. Die Balance zwischen diesen „zuständigen Stellen“ und den Markt-Mächtigen muss freilich immer wieder justiert werden. Nicht zuletzt dazu dient die Darstellung der „Krise“, die Ackermann öffentlich verbreitet.

Ein Aspekt dieser Politik ist es, dass die Banken es möglichst nicht so weit kommen lassen sollen, dass die „zuständigen Stellen“ massiv eingreifen. Die sollen zunächst für „Transparenz“ der Märkte sorgen. In einer Rede am 4.9.20078 hatte Ackermann umsichtigeres Management bei den von der Hypotheken-Krise betroffenen Banken eingemahnt, zugleich aber die „nationalen Aufsichtsbehörden“ dazu aufgefordert, für mehr „Transparenz über die Verteilung der Kreditrisiken im internationalen Finanzsystem“ zu sorgen und dazu „beim Austausch von Informationen“ enger zu kooperieren.9 Ackermann hat keine Probleme damit, die staatlichen Stellen in Dienst zu nehmen und ihnen zu sagen, was sie tun sollen. Ansonsten ist die Schlagzeile der Süddeutschen irreführend: Ackermann ist keineswegs „selbstkritisch“, er hat nur keine Probleme damit, das Management anderer Banken zu kritisieren. Dass Journalisten das als „Selbstkritik“ missverstehen, kann nur heißen, dass sie ihn als Sprecher der ganzen Branche sehen, er selbst sich aber als Sprecher der Deutschen Bank und Propagandist seines eigenen Management.

Auch Ackermanns Bemerkung vom 18.3.2008, es sei eine konzertierte Aktion von Regierungen, Zentralbanken und Banken nötig, um Verschärfungen der Krise abzuwenden, ist offenbar so zu verstehen: Er hat kein Problem, die „zuständigen Stellen“ in Dienst zu nehmen, wenn sie gebraucht werden. Er ist offenbar kein konservativer Markt-Fundamentalist, sondern sieht den Staat als Teil des Finanzsystems. Im konkreten Fall ist er nur von Journalisten skandalisierend interpretiert worden,10 dazu hat er Beifall von der falschen Seite bekommen, nämlich von der Gewerkschaft ver.di und vom Finanzminister Steinbrück (SPD). Das hat ihn anschließend veranlasst, im FAZ-Interview vom 20.3. die Balance wieder zurechtzurücken und sein Vertrauen in die „Selbstheilungskräfte des Marktes“ zu betonen.11 Wenige Monate später hat A. als Vorsitzender des IIF einen Bericht vorgestellt, in dem die „Finanzbranche ihre Verantwortung anerkennt“ und „schwere Managementfehler“ für Schwere und Dauer der Finanzkrise verantwortlich macht, zugleich aber externe Bewertungen der Rating-Agenturen und Änderungen der Bilanzregeln und dafür einen „Dialog auf höchster Ebene“ vorschlägt.12 Auch hier findet sich also wieder die Kritik des Managements mancher Banken und die selbstverständliche Forderung an die „zuständigen Stellen“, diesmal explizit „auf höchster Ebene“, hier hilfreich einzugreifen, indem sie die Vorschläge der Branche aufnehmen.

Der kranke Organismus der Wirtschaft und seine Therapeuten

Ackermanns Verweis auf die „Selbstheilungskräfte des Marktes“ führt uns zu der eingangs erwähnten Organismus-Metapher zurück. Sie beherrscht – gemeinsam mit einer Statik-Metapher, die sich vor allem negativ, im inflationären Gebrauch des Wortes „einbrechen“ äußert – die öffentliche Darstellung und Diskussion der Krise. Am 22.6.2009 hat der Ökonom Peter Bofinger das in einem Interview mit der Süddeutschen sehr schön, fast spielerisch entwickelt (www.sueddeutsche.de):

sueddeutsche.de: Herr Professor Bofinger, beim Sachverständigenrat sehen Sie sich selbst als „eine Art Allgemeinarzt für Wirtschaftspolitik, der von Fußpilz bis Herzinfarkt von allem eine Grundvorstellung haben sollte“. Wie lautet Ihre Diagnose für den Patienten Deutschland? Wann berappelt er sich vom Herzinfarkt Wirtschaftskrise?

Peter Bofinger: Der Patient Deutschland hat eine schwere Infektion, keinen Herzinfarkt. Er ist in sich robust, ganz einfach, weil Marktwirtschaften grundsätzlich robuste Systeme sind. Die Selbstheilungskräfte haben nach dem Lehman-Schock zeitweise versagt, aber der Patient ist sehr gut therapiert worden durch den Staat, der durch Konjunkturpakete die Nachfrage und durch Rettungsprogramme das Finanzsystem stabilisiert hat. Die Notenbanken haben durch niedrige Zinsen ebenfalls dafür gesorgt, dass die Banken über die Runden gekommen sind. Der Patient ist durchaus auf dem Weg zur Besserung.

Diese Metapher wird später auch auf Überlegungen dazu ausgedehnt, welche bescheidene Rolle der Staat als Therapeut haben sollte:

Bofinger: Der Staat hat in den letzten Jahren eine Art homöopathische Praxis gehabt. Es hieß: Der Markt regelt Probleme selbst, es wurden höchstens mal ein paar Pillen, Tropfen oder Salbe gegeben. Die Krise hat das Bild drastisch gewandelt. Beim homöopathischen Arzt werden jetzt laufend schwerverletzte Patienten eingeliefert.

Bei der Homöopathie soll es auch bleiben, der Staat soll nicht zum Notfall-Arzt werden:

Bofinger: Ich möchte nicht dem Staatskapitalismus das Wort reden. Bei einem schweren Schock versagen die Immunkräfte des Systems – da braucht man den Staat, der massiv eingreift. Ich würde mich nicht dafür aussprechen, dass wir den Staat als Unternehmer brauchen. Gerade bei den Landesbanken haben wir gesehen, dass es nicht vorteilhaft ist, wenn der Staat betriebswirtschaftlich aktiv wird.

Opel zu retten war daher falsch. Die Insolvenz wäre der richtige Weg gewesen – und hätte den Vorteil gehabt, dass man General Motors elegant loswird.

Welche Krankheit? Herzinfarkt, Vergiftung, Virus-Infektion, Pest

Die Krise als Krankheit, über diese Grundmetapher herrscht Konsens. Uneinig ist man, eine wie schwere Krankheit es ist – hier ein Herzinfarkt oder nur ein Infekt. Auf dieser weniger dramatischen Seite bewegen sich auch Metaphern wie die „faulen Kredite“ und die „toxic assets“ – es ist eine Vergiftung, vielleicht sogar nur eine Magenverstimmung, an der der Organismus laboriert. Daher müssen die Banken diese Giftstoffe auch in eine „Bad Bank“ ausscheiden. Der Logik der Metapher entspräche der Herzinfarkt oder eine schwere äußere Verletzung besser, also ein plötzliches Geschehen, das bewältigt werden muss. Die andere Möglichkeit wäre der riskante therapeutische Eingriff, also das Modell der radikalen Operation, ohne die der Organismus unaufhaltsam dahinsiecht, von der er aber auch schwer beeinträchtigt wird und deren heilsame Wirkung eine Mobilisierung aller „Selbstheilungskräfte“ voraussetzt.

Aber zu diesem Zeitpunkt im April 2009 verschiebt sich das Bild der Krise: Alle Beteiligten wissen, es war eine lange Krankheit und sie wird noch lange dauern. Mit dem Auftreten der wahlweise „Schweine“-, „Mexiko“-, schließlich „Neue Grippe“ genannten Epidemie wurde eine Krankheitsmetapher aktualisiert, die bis dahin nicht verwendet worden war: die vom Virus, das seine Form verändert und sich unaufhaltsam ausbreitet. Der Spiegel, der außer für nationalistische besonders für biologistische Interpretationen zuständig ist, hat diese Infektions-Metapher sofort in seiner Titelgeschichte vom 27.4.2009 „Unheimliche Parallelen: Weltkrisen 1929/2009“ ausgeschlachtet:

„Die Krise überfordert derzeit alle. Sie verhält sich wie ein aggressives, unbekanntes Virus. Sie verändert ihr Aussehen und ihre Geschwindigkeit von Woche zu Woche. Erst sah sie aus wie eine amerikanische Immobilienkrise. Dann wie eine Bankenkrise, eine Börsenkrise, eine Finanzkrise. Doch das Virus war stets schlimmer als die Worte, die man sich dafür ausgedacht hatte. ... Das Virus wütet in allen Teilen der Welt, ohne Rücksicht auf oben und unten. Der Erreger hat sich schneller verbreitet als alle Erreger vor ihm. Er ist nicht zu sehen, aber die Spur, die er hinterlässt, sieht nicht schön aus. ... Das Virus wütet und hinterlässt bereits die ersten Toten. Der Industrielle Adolf Merckle warf sich vor einen fahrenden Zug ... In einem Vorort von Washington erhängte sich vergangene Woche der Finanzchef des zweitgrößten Immobilienfinanzierers, David B. Kellermann, 41, in seinem Privathaus.“ (S. 27f)

Und es bleibt nicht bei der Grippe, die auch schon gefährlich genug wäre, es muss jetzt die Pest sein:

„Diesmal aber werden die Arbeitsplätze vernichtet, als wäre in den Fabriken und Büroetagen die Pest ausgebrochen.“ (S. 34)

In diesem schiefen Bild – die Pest vernichtet keine Arbeitsplätze, sie tötet Menschen – wird die Infektions-Metapher dramatisiert und zugleich die Krise umgedeutet: Sie bleibt eine Krankheit, aber es gibt keine Entscheidungssituation mehr, sondern die Ansteckung und damit die Ausbreitung einer tödlichen Bedrohung. Im Wechsel der Metapher geht die Krise in einen eskalierenden Dauerzustand über.

Die Spiegel-Schreibe zeichnet sich allgemein durch große Metaphernfreudigkeit aus, was immer wieder dazu führt, dass die Bilder sich vermischen und hemmungslos gewechselt und auch kumuliert werden.

Krise als Erschöpfungszustand

Als erstes gerät den (sieben) Autoren (alles Männer) die Metaphorik dann doch ins Kriegerische oder zumindest Sportliche:

„Es gibt derzeit keine Ruhezone, nirgends auf der Welt. Amerika, China, Deutschland: überall das gleiche Bild der Verwüstung. ... Auch die aufstrebenden Staaten streben derzeit nirgendwohin. Sie gehen in die Knie. ... Selbst dem Exportgiganten China geht derzeit die Puste aus.“ (S. 28)

Krise als Angstzustand

Aber auch dabei bleibt die Darstellung nicht. Als nächstes wird eine Psycho-Metapher mobilisiert, die zuletzt wieder zum Virus zurückleitet:

„Viele befinden sich in einer Art Angststarre vor dem, was da noch kommen mag. Der Arbeitsplatz ist noch da, das Gehalt läuft weiter, aber das mulmige Gefühl lässt sich nicht mehr verdrängen. ... Die Wirtschaftskrise aber findet zeitgleich in 6,5 Milliarden Köpfen statt. Es ist das größte Psychodrama der Weltgeschichte. Erlebnisse und Fernsehbilder verdichten sich zu Erwartungen, aus Erwartungen werden Ängste, diese prägen derzeit das Geschehen auf den Märkten. Sie prägen es mehr als die Politiker und Notenbanker mit ihren Reden und ihren Programmen. Das Virus ist den Mächtigen entwischt.“ (S. 28)

Kontraproduktive Therapie

Beim Virus endet die Geschichte auch insgesamt – nach einem Ausflug erst zum „Unwetter“ (S. 34), dann in die Wasserwirtschaft, wahrscheinlich mit Kindheitserinnerungen an Walt Disneys Die Wüste lebt:

„Anders als 1929 fluten die großen Staaten die Wirtschaft mit Geld, um eine Deflation und damit eine Abwärtsspirale aus sinkenden Preisen und Einkommen zu verhindern. Aber niemand weiß, ob das reicht. Oder ob das viele Geld das aggressive Krisenvirus gar noch füttert, weil derzeit Schulden mit Schulden bekämpft werden und am Ende nicht nur die Banken, sondern auch die Staaten pleitegehen könnten.“ (S.42)

Die Therapeuten wissen nicht so genau, was sie tun, und vielleicht ist das, was sie tun, sogar der Beginn der nächsten Krankheit:

„Womöglich wird die Krise bekämpft, indem man die nächstgrößere vorbereitet.“ (S. 42)

Es fällt im Fall der „Finanzkrise“ auf, dass der Entschluss vom 14.9.08, Lehman in die Insolvenz gehen zu lassen, allgemein nicht als ein riskanter therapeutischer Eingriff dargestellt wird, sondern als Kunstfehler: die falsche Operation oder die Verweigerung einer notwendigen Therapie. Aber dass überhaupt ein einzelnes Ereignis herausgegriffen wird, ist – neben der Medienlogik, die gute Geschichten braucht – nicht zuletzt der Logik der Krisenmetapher geschuldet: Danach muss es ein kurzes, dramatisches Geschehen sein. Auch für diese Definition der Krise hat zumindest in Deutschland niemand mehr getan als der Spiegel mit seiner Titelgeschichte vom 9.3.2009: „Der Jahrhundert-Fehler: Wie die Pleite einer einzigen Bank die Weltkrise auslöste“.13 In dieser Geschichte (verfasst von fünf Autoren, alles Männer) dominiert eindeutig eine kriegerische Metaphorik.

„Das Stück von Aufstieg und Fall des Hauses Lehman ... ist auch die älteste aller amerikanischen Geschichten. Das Duell zweier Männer, das Duell zwischen Richard Fuld, Boss von Lehman Brothers, und Henry Paulson, Finanzminister der Regierung Bush.“ (S. 42)

Paulson, früher CEO von Goldman Sachs, hätte den Parvenu-Rivalen Fuld aus alter Konkurrenz auflaufen lassen. Die Krise wird zum Ergebnis der persönlichen Unverträglichkeit von zwei Wirtschafts-Promis.

Krise als Verlust von Vertrauen

Das Drama der „großen Männer“ geht dann über in das allgemeinere des „verlorenen Vertrauens“. Die „Weltkrise“ des Spiegel-Titels besteht darin, dass die Banken kein Vertrauen mehr zu einander haben. Der Spiegel erklärt es uns in einfachen Worten:

„Damit sie ihren Handel finanzieren können, leihen sich Banken Geld bei anderen Banken, das tun alle. Das funktioniert so lange, wie alle wissen, dass die Kredite zurückgezahlt werden, oder zumindest hoffen, dass der Staat übernimmt, wenn einer nicht mehr zahlen kann. Das ist das Vertrauen, von dem die Rede ist, seit es fort ist, zerstört auf Jahre und vielleicht für immer.“ (S. 49)

Diese Formel war im März 09, dem Zeitpunkt der Spiegel-Geschichte, längst durchgesetzt und selbstverständlich: Die Krise beruht auf dem verlorenen Vertrauen der Banken zu einander und zum Staat. Diese merkwürdig psychologisierende Erklärung ist offenbar deshalb so plausibel, weil uns einfachen Konsumenten „Vertrauen“ im Zusammenhang mit Banken sofort einleuchtet: Am wichtigsten ist das „Vertrauen“, dass wir die Zahlen im Sparbuch auf Verlangen in „wirklichem Geld“ ausgezahlt bekommen. Der Spiegel sagt es in seiner Geschichte so – auf einem höheren Niveau als dem des Sparbuchs, nämlich auf dem der Anlageberatung, wo „Vertrauen“ der Kunden (für das Geschäft der Berater) besonders wichtig (und bei den Kunden besonders töricht) ist:

„Ohne Vertrauen gefriert alles. Keine Bank traut der anderen mehr, kein Kunde ist mehr sicher, dass er den richtigen Berater hat, deshalb halten alle das Geld fest, das sie noch haben.“ (S. 49)

In der Dramaturgie der Geschichte wird dieses Thema des Vertrauens zusätzlich eingeführt durch die deutsche Oma (hier heißt sie Ingrid Deutsch), die ihren Spargroschen auf Betreiben ihres Bankberaters in Lehman-Papieren angelegt hatte und jetzt alles verloren hat. Eine Person dieser Art taucht praktisch in allen Berichten über die Lehman-Pleite und die Krise auf. Die Spiegel-Geschichte ist nicht ohne Häme, indem sie gleich anfangs verrät, dass solche Sparer in den Banken „AD-Kunden“ genannt werden, A für alt und D für doof. (S. 42) Später wird ausgeplaudert, dass „deutsche Anleger, wie ein Banker sagt, als 'gierig und dumm' gelten“. Bei den Lehman-Zertifikaten „sieht (es) darum ganz nach einem gezielten Angriff auf Senioren wie Ingrid Deutsch aus“. (S. 45) Ebenso wird verraten, dass die Bank-Berater Provisionen für den Verkauf dieser Zertifikate bekamen (und also kein Vertrauen verdienten). Die Geschichte endet auch mit Ingrid Deutsch, die jetzt ihr verlorenes Geld einklagt:

„Es klingt wie die Geschichte neuer Duelle: Ingrid Deutsch gegen Richard Fuld. Ingrid Deutsch gegen Henry Paulson. In einer Zeit, in der alles mit allem verbunden ist, wird daraus nun eine Verfassungsbeschwerde: Ingrid Deutsch gegen die Bundesrepublik Deutschland.“ (S. 52)14

Für das verlorene Vertrauen sollen nun die Gerichte einspringen. Es bleibt offen, ob damit alles gut wird oder ob sich die Oma damit lächerlich macht. Jedenfalls könnte sie „das deutsche Gesicht des Jahrhundertfehlers ... die typische Lehman-Geschädigte“ werden. Und in jedem Fall macht sie plausibel, dass „Vertrauen“ (also Dummheit) einerseits das ist, was die Finanzblase ermöglicht hat, andererseits das, was jetzt fehlt – bei der Oma wie bei den großen Banken der Welt. Ihr „Fall“ macht plausibel, warum jetzt auch zwischen den Banken und damit in der Weltwirtschaft nichts mehr geht.

Diese Formel vom „fehlenden Vertrauen“ wird überall wiederholt, von den Medien bis zur Politik bis zur Wirtschaft selbst, und nirgends in Frage gestellt. Sie braucht auch keine nähere Erläuterung, vor allem nicht die, dass es um eine Frage der Bilanzen und des Erfordernisses von höherem Eigenkapital bei schlechteren Ratings, also um ein Problem der „leverage“ geht. Wie im Fall der Staatsschulden, die immer mit den Schulden eines Haushalts verglichen werden, ist es auch hier der Vergleich mit dem privaten Vertrauen, der die Interpretation plausibel macht: Den Banken fehlt das Vertrauen zu einander – das leuchtet uns, die wir dauernd Geldinstituten und staatlichen Einrichtungen blind vertrauen müssen, unmittelbar ein.

Wann endet die Krise?

„Die Krise“ wurde anfangs, 2008, als relativ kurz eingeschätzt: ein paar Monate, ein halbes Jahr. Nach dem September 2008 kam das Eingeständnis auch der offiziellen Lieferanten von Wirtschaftsprognosen, dass ihre Modelle einer solchen Situation nicht gewachsen wären. In der Folge wurde die Krise immer länger. Das Wort von der Rezession, in die sie übergehe, tauchte auf. Allmählich rückte die Arbeitslosigkeit als Krisensymptom in den Vordergrund. Damit war klar, dass wir von mehreren Jahren reden: Die Wirtschaftsprognostiker haben die Daumenregel, dass sich erst ein Wachstum ab 2% auf die Arbeitslosigkeit auswirke. Damit sei aber vor 2011 nicht zu rechnen.

Das vorherrschende und selbstverständliche Modell ist, die Finanzkrise habe auf die „Realwirtschaft“ übergegriffen – und zwar dadurch, dass – wg. Vertrauensverlust – keine Kredite mehr vergeben würden, durch die „Kredit-Klemme“. Banken dementieren das: Ihr Volumen an vergebenen Krediten sei gestiegen. Das ändert nichts daran, dass die staatlichen Programme nach der Bankenrettung zu Konjunkturprogrammen übergehen: Kaufkrafterhöhung durch Steuernachlass, Kaufanreiz durch die „Abwrack-Prämie“, Aufträge für die Bauwirtschaft durch das Vorziehen öffentlicher Bauvorhaben und durch Programme der thermischen Sanierung von Häusern. Dazu kommen die Programme der Subventionierung von Kurzarbeit, um Entlassungen zu verhindern. Andere Industrien außerhalb des Finanzsektors nehmen beides als Anlass, nun ihrerseits mit der Forderung nach Staatshilfen aufzutreten. Warum nur die Banken und der Autohandel? Warum nicht auch Opel und Arcandor? Warum nicht auch mein mittelständischer Installateur, dem die Aufträge ausbleiben?

Hinzu kommen nun die riesigen Summen, die für die Bankenrettungen bereitgestellt wurden und werden und die gemeinsam mit den Konjunktur-“Paketen“ (es sind immer Pakete, die geschnürt werden – ursprünglich eine Metapher für einen Kompromiss, die nun inflationiert wird) die Kreditaufnahmen der Staatsbudgets im Westen in Höhen getrieben haben, die vielen unheimlich sind. Die Frage, wie sie jemals wieder abgetragen werden sollen, wird öfter mit „Inflation“ beantwortet. Ökonomen treten auf und beruhigen: Derzeit gebe es eher eine Deflation, aber auch wieder nicht, jedenfalls sei sie nicht bedrohlich.

Konkurs wird öffentlich immer noch als etwas gehandelt, das „das Ende“ darstellt und daher vermieden werden muss. Lehman hat das verstärkt. Bei Opel stößt der deutsche Wirtschaftsminister auf Unverständnis, der einen Konkurs befürwortet. Bei Arcandor kann man vielleicht lernen, dass der Konkurs ein „normales“ wirtschaftliches Manöver der Abwicklung ist. In den USA wird GM in den Konkurs entlassen. Aber in den Nachrichten wird die Zahl der Konkurse als Krisenindikator verwendet: Sie hat natürlich zugenommen und das ist schlimm.

Ein Ende der Krise rückt in immer weitere Ferne. Zugleich wird immer unklarer, woran man es erkennen würde. Ursprünglich war das eine Konsolidierung des Banken- und Börsengeschäfts. Die hat übrigens weitgehend stattgefunden – jedenfalls sind die großen Pleite-Drohungen und die großen staatlichen Geldzuschüsse ausgeblieben und die Börsenkurse bewegten sich bald wieder nach oben: Das Spekulationsgeschäft ist seit Mitte 2009 wieder in Gang. Auch von der „Kredit-Klemme“ haben wir schon lange nichts mehr gehört. Auch das spezifisch österreichische und deutsche Thema der Probleme der und mit den neuen Beitrittsländern der EU im Osten ist zu einem Abschluss gekommen. Dass Ungarn im Herbst 2008 durch den IWF vor einem Staatsbankrott gerettet werden musste, ist vergessen. Selbst das Rüpelspiel, in dem Österreich wegen des Engagements österreichischer Banken in den Ost-Staaten von IWF und Paul Krugman der Staatsbankrott vorhergesagt wurde, ist vergessen. Mitte Mai 2009 hat sich der Präsident des IWF für die Rechenfehler entschuldigt, auf denen die Einschätzung beruht habe. Aber deshalb hat niemand ein Ende der Krise erklärt.

Im Gegenteil: Am 16.6.2009 titelt der Standard, freilich nur im Wirtschaftsteil, S. 26: „Höhepunkt der Krise steht noch bevor.“ Das wird jedenfalls als die Meinung von Strauss-Kahn, also des IWF wiedergegeben, die er bei einem Besuch in Kasachstan geäußert habe. Und ein paar Tage davor, am 13./14.6. hatte es an derselben Stelle, S. 16, geheißen: „Eine Depression dauert mindestens drei Jahre.“ Das ist jedenfalls die Einschätzung des Nationalökonomen Erich Streissler (76) im Interview. Aus der Krise, die als Finanzkrise begonnen hatte, ist jetzt freilich eine Wirtschaftskrise geworden. Und die Kennziffer, auf die sich das alles selbstverständlich bezieht, ist das Wachstum des Bruttonationalprodukts.

Die Klassendimension der Krise: Wer hat eigentlich den Schaden?

In den großen Zeitungen und Zeitschriften ist die Krise zunächst ein Problem der Banken und der Banker (die den Job verlieren) und dann ein Problem „der Weltwirtschaft“. Die Suche nach Schuldigen ist deutlich interessanter als die nach Geschädigten. Diese Schuldigen sind schnell gefunden: Es sind dieselben Banken und besonders ihre Ober-Banker, die so viel Staatsgeld gekostet haben, die jetzt eine „Kredit-Klemme“ verursachen – und die trotzdem so hohe Entgelte, besonders noch Bonus-Zahlungen beziehen. Es ist ein paar Wochen lang Hauptproblem der Öffentlichkeit und der Politik, wie man die Gehälter der Manager begrenzen kann. Es ist viel von „Gier“ die Rede – und das meint die Gier jener Manager und Spekulanten, mit der Retourkutsche, dass „wir alle“ ja auf „unser“ Gespartes hohe Zinsen erwartet hätten und also genauso gierig gewesen wären.

Es treten wie beim Thema „Vertrauen“ die Psychologen und Ethiker, bis hin zu Bischöfen auf und erläutern uns den Unterschied zwischen Gier und Unternehmergeist. Erzbischof Marx in München etwa weiß:

Marx: Gier ist es, maßlos für sich selbst etwas herausholen zu wollen, auch auf Kosten anderer, ohne Rücksicht auf Verluste. Den Homo oeconomicus, der immer nur maximiert, den gibt es nicht! Das ist ein Gedankenkonstrukt. Ein solcher Mensch wäre unerträglich.

sueddeutsche.de: Aber ist das nicht doch ein realistisches Bild vom Menschen, dass er gierig ist, dass er seinen Vorteil will?

Marx: Das muss man einem mit der Seelsorge betrauten Priester und Bischof nicht sagen, dass der Mensch auch Sünder ist und an sich selber denkt.15

Und er weiß auch, was jetzt geistig-moralisch und mit der gehörigen Vorsicht bei staatlichen Eingriffen nötig ist:

„ ... wir können jetzt eine Marktwirtschaft aufbauen, die ein Ziel verfolgt: Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen. ...

Die Wirtschaft muss sicher einen Freiraum haben. Sie ist ein autonomer Kultursachbereich, sagt die katholische Soziallehre. Deswegen sollte man das wirtschaftliche Geschehen nicht in die Hand des Staates geben. Der Staat setzt die Rahmenbedingungen, aber Märkte müssen Märkte bleiben. Wenn der Staat eingreift, kann das eine Notoperation sein, wie etwa beim Strukturwandel im Bergbau. Da braucht man staatliche Begleitung. So sieht das im Augenblick auch bei der Automobilindustrie aus. Aber man muss gut überlegen, wie man dann wieder rauskommt – sonst schädigt man auf Dauer das Gesamtsystem.“ (Süddeutsche, 26.11.2008)

Das bleibt, wie beim Geistig-Moralischen üblich, reichlich abstrakt und im Rahmen dessen, was eh geschieht und öffentlicher Konsens ist. Nicht wesentlich konkreter wird es auf der nicht-kirchlichen Seite. Heribert Prantl etwa (Süddeutsche, 19.11.2008) weiß alles über den Sozialstaat:

„Ein Sozialstaat ist ein Staat, der gesellschaftliche Risiken, für die der einzelne nicht verantwortlich ist, nicht bei diesem ablädt. ... Ein Sozialstaat gibt nicht dem, der schon hat; und er nimmt nicht dem, der ohnehin wenig hat. Er schafft es, dass sich die Menschen trotz Unterschieden in Rang, Talenten und Geldbeutel auf gleicher Augenhöhe begegnen.

Der Sozialstaat ist der große Ermöglicher. Er ist mehr als ein liberaler Rechtsstaat, er ist der Handausstrecker für die, die eine helfende Hand brauchen. ... Der Sozialstaat gibt den Armen nicht nur Bett und Dach, sondern ein Fortkommen aus der Armut. Ein Sozialstaat entwickelt eine emanzipatorische Gerechtigkeitspolitik, also eine Politik, die Chancenungleichheiten ausgleicht. Das hat nichts mit Gleichmacherei zu tun. ... Der Sozialstaat erschöpft sich aber nicht in der Fürsorge für Benachteiligte, sondern zielt auf den Abbau der strukturellen Ursachen für diese Benachteiligungen.“

Wie bei Bischof Marx könnte hier die Überschrift sein: „Der Mensch im Mittelpunkt.“16

Und ob das mit dem real existierenden Sozialstaat viel zu tun hat, wird nicht gefragt. „Die Krise“ lässt sich in der gebildeten Klasse mit Betrachtungen dieser Allgemeinheit bearbeiten: Wer ist schuld? Was ist Gier? Sind wir nicht alle geizig? Was darf der Staat? Braucht die Wirtschaft, der freie Markt Regeln? (Es wird schon nicht einmal mehr gesagt, welche.) Wenn man in den Foren stöbert, die es zu diesen Artikeln gibt, findet man in der Tat, dass die LeserInnen auf dieser Ebene mitargumentieren. In den Leserbriefen (Süddeutsche, 2.5.2009) zu einem Artikel des Verfassungsrechtlers Böckenförde wird darauf verwiesen, dass wir durch die „Abschaffung Gottes“ maßlos geworden seien, ein anderer Beitrag verweist lieber auf Luhmann, dort könne man das alles nachlesen, wieder einer auf Marx, einer auf Darwin, schließlich und endlich einer auf Lula da Silvas „Solidarische Ökonomie“ in Brasilien als praktisches Beispiel. Alle, Journalisten wie ihre LeserInnen, sind um größtmögliche Distanz bemüht. Das Geschehen wird in der Menschheits- und Philosophiegeschichte und in der menschlichen Natur verortet. Dabei wird die große und erledigt geglaubte Auseinandersetzung um freien Markt und staatliche Regeln neu aufgelegt.

Was in erstaunlicher Weise unthematisiert bleibt, sind die Verluste zumindest bei den Papiergewinnen aus der Blase, die auch WirtschaftsjournalistInnen und die Leser(briefschreiber)Innen des Wirtschaftsteils von FAZ und Süddeutscher vermutlich hatten. (Die feministische Korrektheit der Schreibweise ist tatsächlich überflüssig: Es sind auf beiden Seiten kaum Frauen dabei.) Nicht einmal über die Verluste der wirklich Reichen wird viel geredet. Bill Gates habe, wie im Zusammenhang mit der Forbes-Liste im März 2009 berichtet wird, in der Finanzkrise 18 Milliarden Dollar verloren (das ist immerhin etwa ein Drittel dessen, wovon ihm jetzt noch 40 Milliarden geblieben sind), bei Warren Buffet und Carlos Slim seien es je 25 Milliarden gewesen. Im „Qualitäts“-Diskurs bleibt die Krise ein allgemeines und bevorzugt moralisches Problem.

Anders der Boulevard: Da wird auf die gierigen Manager geschimpft und auch über die Verluste der Reichen berichtet. „In der Krise: Täglich weniger Millionäre!“ titelt die Wiener U-Bahn-Gratiszeitung Heute. Im Inneren des Blatts wird das auf den Tag umgerechnet: „Täglich 28 Millionäre weniger“ (und das allein in Österreich). Die Haltung zu den Superreichen ist maßvoll ironisch – und das betrifft nur die nicht ganz so Reichen: „Jeder siebente Betuchte musste heuer beim Geldzählen feststellen, dass er gar keine Million mehr hat – und daher aus dem erlesenen Kreis der Millionäre ausscheidet.“ Und mit einer Wienerischen Verniedlichung, die auch Spott signalisiert: „Ein paar Euro-Etagerln darunter hat's in Folge der Finanzkrise ... ein regelrechtes Millionärsgemetzel gegeben: ...“ Aber die Wohlhabenden hätten „aus der Krise gelernt“: „Laut Vermögensberatern planen sie, ihren Aktienbestand zu senken. Dafür wollen sie auf Anleihen setzen. Wer sich's leisten kann, sollte es ihnen gleichtun. Ein geschicktes Händchen fürs Geld haben die Reichen im Großen und Ganzen ja bewiesen.“ (S. 6) Es ist eine Kuriosität, die uns da mitgeteilt wird und uns höchstens mit mildem Spott erfüllt. Der abschließende Ratschlag, auch lieber Anleihen als Aktien zu kaufen, passt wenig dazu und wird mit dem „wer sich's leisten kann“ auch relativiert. Man kann nur vermuten, dass die Schreiber selbst sich vielleicht in einer Gegend bewegen, wo ein solcher Rat irgendwelchen Sinn hat – die gemeinen U-Bahn-Nutzer zocken eher mit Brieflosen und Fußball-Toto-Scheinen und haben für den Notgroschen ein Sparbuch.

Auch sonst wird am Boulevard die Krise eher pragmatisch abgehandelt, zum Beispiel mit Ratschlägen, wie und wo man billig einkauft: „So können Sie die Krise wegsparen! Es geht auch billig: Die besten Tipps fürs Einkaufen, Tanken, Urlauben – S. 8,9.“ (Heute, 15.6.2009) Angegeben werden dann konkrete Preise in konkreten Supermärkten und Internet-Adressen, die Preisvergleiche bieten. Was hier ein Ratschlag ist, stellt im „Qualitäts“-Diskurs (Standard, 17./18.1.2009, S. 19) ein Wirtschafts-Datum dar: „Krise stärkt die Diskonter: Lidl und Hofer legen zu.“17 Ein anderes Datum dieser Art kennt auch die FAZ (12.6.2009): „In der Rezession arbeiten mehr Menschen schwarz.“ Dazu muss der Boulevard keine Ratschläge geben, das wissen die Leute selber. Es gibt hier auch kaum Berichte oder gar Ratschläge zum Arbeitsmarkt und zur drohenden Arbeitslosigkeit,18 auch keine zum Umgang mit Schulden.

In der Öffentlichkeit der Gebildeten und (mehr oder weniger) Wohlhabenden wird die eigene Betroffenheit schamhaft verleugnet – sie bleibt ein privates Problem. Im Herbst 2008 war die Rettung der Sparbücher durchaus Thema und eine der populistischen Begründungen für die staatlichen Gelder zur Rettung der Banken. Selbst das wurde nicht sehr ausführlich thematisiert und verschwand seither. Die Verluste der Mittelschicht von Sparern, die nicht gezockt, aber vom Sparbuch auf das Wertpapierdepot umgestellt hatten, wurden und werden überhaupt nicht erwähnt. Außer der „Lehman-AD-Oma“ findet sich öffentlich niemand, an dem sich die Krise konkret darstellen ließe. Die Verluste der wirklich Reichen werden gelegentlich – auch erstaunlich wenig – und mit milder Schadenfreude erwähnt und immer in Zusammenhang damit, dass ihnen noch genug bleibt. Richtig dramatische Pleiten, die es gerade unter Börsianern mit ihrem aufwendigen Lebensstil auch genug gegeben haben muss, werden nicht im Detail berichtet. Übrigens wird hierzulande auch kaum über die Leute berichtet, die in den USA ihre überschuldeten Häuser verloren haben.

Für den Boulevard ist „die Krise“ kein so allgegenwärtiges Dauerthema wie für die „Qualitäts“-Blätter mit ihren Wirtschaftsredaktionen. Themen wie Obama, seine Wahl und seine schöne Gemahlin, dann vor allem die „Schweine-Grippe“, der Air-France-Flugzeugabsturz, die EU-Wahl oder die Einbrüche in Wien und generell die Kriminalität drängen sich ohne weiters davor. „Die Krise“ liefert auf dem Niveau keine aufregenden Schlagzeilen mehr. In der eher „gebildeten“ Darstellung ist die Krise ein Problem von Moral und Psychologie und wird in eine lange Geschichte von Kapitalismus, Spekulation und Wirtschaftssprache eingebaut und so gerahmt. Die Süddeutsche hatte schon durch das ganze Jahr 2008 eine Serie „Die großen Spekulanten“, Ende 2008 beginnend dann eine „Kapitalismus in der Krise“. Nachdem Enzensberger im Literaturmagazin der Zeit vom 12.3.2009 ein erstaunlich nichtssagendes „Alphabet der Krise“ präsentiert hatte, folgte die FAZ ab April 2009 mit einem „Glossar der Krise“ (von „Abgrund“ bis „Zocker“) und ab Mai mit einer Serie „Zukunft des Kapitalismus“. Alle diese Serien haben gemeinsam, dass sie weit in die Geistesgeschichte und ebenso die Populärkultur (Filme) greifen, auch Autoren wie Martin Walser oder Klaus Harprecht aufbieten und dem Thema also „Tiefe“ geben. Wo der Boulevard Dramen und Sensationen mit Ausrufezeichen bietet, präsentiert die „Qualitäts“-Presse Allzumenschliches und Historisch-Allgemeingültiges. Übrigens haben sich die Großdenker wie Grass oder Habermas nicht mit einer Interpretation zu Wort gemeldet, nur Sloterdijk hat sich spät (am 10.6.09 in der FAZ) damit lächerlich gemacht, dass er den Steuerstaat zum Quell allen Übels erklärte.19 Das war angesichts des überwältigenden Konsens, wie wichtig die staatlichen Rettungsaktionen waren und sind, immerhin originell.

Zwischenbilanz: Die Selbstverständlichkeiten der Krisendarstellung

Welche Krise?

„Die Krise“ wird selbstverständlich als eine Finanzkrise bestimmt, die 2006/07 mit einer „Korrektur“ der Housing Bubble in den USA begann. Gewöhnlich werden die Schwierigkeiten der Hauskredit-Banken Freddie Mac und Fannie Mae Anfang 2007 als Beginn der Krise genannt. Sie setzt sich dann mit dem privaten, aber durch die Regierung gestützten bail-out der Investmentbank Bear Stearns fort und kulminiert in der Pleite von Lehman Brothers. Danach gibt es die „Kredit-Klemme“ („credit crunch“), die aber mit viel Steuergeld bewältigt wird. Seither gibt es zwar viele kleine Pleiten, aber kein spektakuläres Einzelereignis mehr. Die Finanzkrise flaut ab – und geht in eine allgemeine Wirtschaftskrise über. Zumindest die Suggestion ist, dass sie von der Finanzkrise ausgelöst wurde – und jedenfalls werden keine alternativen Erklärungen für sie angeboten. Die Formel ist: „Die Krise hat jetzt auch die Realwirtschaft erreicht.“ Sie breitet sich aus.

Wessen Krise?

„Die Krise“ ist mit großer Selbstverständlichkeit eine des „Bankensystems“, wenn nicht „der Wirtschaft“. Es wird zwar nach Schuld gesucht und auch kräftig personalisiert (die gierigen Manager), aber das Problem ist ein systemisches. Es besteht die Gefahr, dass „alles zusammenbricht“, dass der Patient stirbt – wobei unklar bleibt, was das im Detail heißt. Vor Lehman ist das Problem recht handfest: Durch das Sinken des Marktwerts von Häusern sind Hypotheken nicht mehr abgesichert, aber auch nicht einzubringen und die darauf basierenden Papiere haben ebenfalls keinen Wert mehr. Die Banken, die sie halten, müssen sie in der Bilanz abschreiben, was sie nicht können. Das heißt Insolvenz. Sie kann durch neues Kapital, also (Teil-)Verkauf und/oder Staatszuschüsse aufgefangen werden. Das gelingt auch in etlichen Fällen in den USA und in GB. Nach Lehman ist das Problem das „verlorene Vertrauen“. Jetzt geht es nicht mehr nur um einzelne Pleiten, sondern darum, dass die Banken das Geschäft überhaupt reduzieren und zunächst einander, dann aber auch „der Wirtschaft“ nicht mehr ausreichend Kredite zur Verfügung stellen. Zugleich stehen einzelne Länder wie Island und Ungarn am Rand des Staatsbankrotts.

Bei all diesen Vorgängen wird öffentlich kaum gesagt, was sie im Detail und für den jeweils geneigten Leser bedeuten. Die vage Drohung, die aber nicht ausgesprochen wird, ist Wertverlust des Aktiendepots, so man eines hat, und für den gemeinen Mann Verlust des Sparbuchs. Das merkt man freilich auch nur daran, dass Politiker jetzt an eine staatliche Garantie der Spareinlagen erinnern. Erst später taucht vage die Möglichkeit einer großen Inflation auf – darunter kann man sich auch Konkretes vorstellen: Das Geld verliert an Wert. Mit dem Übergang in die Wirtschaftskrise wird es auch wieder konkreter: Jetzt geht es um die Arbeitsplätze, die mögliche Entlassung und die Schwierigkeit, überhaupt einen Job oder einen ausreichend bezahlten Job zu finden.

Die öffentliche Darstellung erreicht nur selten diese Konkretheit. In der Hauptsache wird „die Krise“ aus der Perspektive von (Stammtisch-)Politik besprochen. Dabei dominiert die Organismus- und Krankheits-Metapher, als Einsprengsel gibt es noch die Statik-Metapher des Wortes „bricht ein“. Zugleich wird nach Schuld und nach Schuldigen gesucht – fündig wird man bei den „gierigen“ Managern und Spekulanten, die zugleich auf „Vertrauen“ angewiesen sind. Die „Krankheit“ lässt sich also gut mit Psychischem und Interpersonalem verbinden.

Die Metaphorik ersetzt wirtschaftliche Analysen, die entweder bei Modellrechnungen deshalb nicht möglich sind, weil die ohnehin auf komplizierten Extrapolationen beruhen, oder bei Theorien deshalb nicht, weil sie umstritten sind und den Einzelfall nicht hinreichend aufklären. Gelegentlich wird das auch mitgeteilt, dass man mit den Modellen anstehe, weil das eine Krise ohnegleichen sei, und insgesamt verdichtet sich der Eindruck aus den Unterschieden zwischen verschiedenen Interpretationen. Im „Qualitäts“-Diskurs wird aus dieser Peinlichkeit ins Allgemeine bis Schöngeistige ausgewichen. Der Boulevard ist hingegen konkretistisch und zugleich fatalistisch – und mehr an anderen aufregenden Ereignissen interessiert.

Was daraus an Interventionen folgt

Besonders von den Bankern selbst wird mit großer Selbstverständlichkeit der Staat als Teil der Wirtschaft verstanden. Staatliche Interventionen im Notfall werden nicht nur erwartet, sondern eingefordert und es wird auch gesagt, wie sie auszusehen haben. Zwischen den Bankern mit ihrer internationalen Organisation und den „zuständigen Stellen“ in Regierungen und staatlichen wie über-staatlichen Finanzinstitutionen besteht ohnehin ein Kooperationsverhältnis, das erst recht im Krisenfall mobilisiert wird. Die Fachleute für das, was getan werden soll, sind in erster Linie die Banker selbst.

Insofern treten auch keine ernsthaften Zweifel daran auf, dass „das Bankensystem“ aus Steuermitteln gestützt werden muss, auch wenn die Summen phantastisch sind. Für das populäre Bewusstsein ist der Konkurs noch immer das Ende und daher unbedingt zu vermeiden. Nur die Ultra-Neoliberalen (in den USA also die Konservativen) haben zum Konkurs eine gelassene Haltung. Sie begründen die Zurückhaltung bei der staatlichen Stützung zwar mit „moral hazard“ (Firmen und ihre Manager sollen sich nicht auf Rettung durch den Staat verlassen können), aber tatsächlich kennen sie offenbar den Konkurs als auch ein Mittel der Betriebs- und Wirtschaftspolitik. In einer Produktionsweise, die den Betrieb zur Ware gemacht hat, die profitabel zerlegt, fusioniert und verkauft wird, braucht das auch nicht zu überraschen.

Selbstverständlich ist auch, dass es darum geht, den Zustand quo ante wiederherzustellen, konkret: Die Wirtschaft soll wieder wachsen. Das wird nicht unwesentlich gestützt und gerechtfertigt durch die notwendigen Lohnarbeitsplätze, die bei Schrumpfen der Wirtschaft verloren gehen und erst wieder entstehen, wenn das Wachstum längere Zeit beachtliche Größenordnungen erreicht und behält. Selbstverständlich ist auch, dass die Finanzmärkte in Zukunft besser reguliert werden sollen – wobei im Detail die Meinungen weit auseinandergehen, wie und wie sehr das geschehen soll.

Auseinander gehen auch die Vorstellungen darüber, was die Bevölkerung in der Situation tun soll. Wirtschaftspolitisch gibt es den Wunsch, sie möge konsumieren, aber die Leute scheinen eher der Meinung zu sein, sie sollen möglichst sparsam wirtschaften – und das tun sie wohl auch.

Die konservativen Forderungen der Linken

Die Linke hat bekanntlich zu Krisen des Kapitalismus kein so schlechtes Verhältnis: Man fühlt sich von ihnen bestätigt und erhofft sich erweiterte Möglichkeiten für radikale Veränderungen, wenn nicht so viel Unmut im Volk, dass Zugeständnisse gemacht werden müssen. (Früher war in dem Zusammenhang gern von „hinwegfegen“ die Rede, das hört man dieser Tage eher selten.) Krisen zeigen, dass mit dem „Chaos der Märkte“ keine stabile Gesellschaft zu machen ist, dass Kapitalismus, sich selbst überlassen, seinen eigenen Untergang produziert. Daraus folgt dann freilich nicht mehr als die Notwendigkeit von staatlicher Regulierung und Ordnung der Märkte.

Die „linken“ Ideen, die im Zusammenhang dieser Krise mit einer gewissen Sichtbarkeit, also über das Sektiererische hinaus aufgetreten sind, lassen sich so auflisten:

* stärkere Regulation der Finanzmärkte, inklusive Begrenzung der Manager-Einkommen;

* Besteuerung der Reichen („Wir zahlen nicht für eure Krise“);

* gute Lohnabschlüsse, um Konsum als Wirtschaftsstützung zu ermöglichen;

* Sicherung von Arbeitsplätzen (Kurzarbeit);

* „Green New Deal“, also eine keynesianische Initiative unter Hinnahme von Staatsdefiziten, die ökologisch Verträgliches fördern soll.

Was es daher „links“ nicht gab, war eine eigene Interpretation der Krise. Alle genannten Ideen sind mit den Selbstverständlichkeiten der populären Kriseninterpretation völlig verträglich.

* Eine bessere Regulation der Finanzmärkte wünschten und wünschen sich alle, inklusive der Banker. So allgemein mitgezockt wurde, so ungeteilt ist der Verdruss über die Vernichtung von Bilanzgeld, die stattgefunden hat. Die Reichen, die (auf dem Papier) viel Geld verloren haben, wünschen sich genauso besser geordnete Verhältnisse wie die Leute, die in den USA nun kein Haus und keine Altersversorgung mehr haben. Niemand kann derzeit grundsätzlich gegen diese Forderung auftreten. Sichtbar ist aber bereits, dass die Regulierungen hauptsächlich in der Einrichtung neuer Behörden und „Frühwarnsysteme“ bestehen werden und nicht zum Beispiel in harten Erhöhungen der Eigenkapital-Quote oder in einer Transaktionssteuer.

* Besteuerung der Reichen wird von diesen und ihren politischen Vertretern (bis weit hinein in die Sozialdemokratie) vehement abgelehnt, versteht sich. Wie dieses Gerangel ausgehen wird, ist überhaupt nicht vorherzusehen. Es ist nicht einmal wahrscheinlich, dass die Einführung der Tobin tax gelingen wird – die mehr eine Finanzmarkt-Regulation ist als eine Reichensteuer. Aber was in der Diskussion hergestellt wird, ist die Selbstverständlichkeit, dass es irgendwann Steuererhöhungen geben muss. Ein simpler Konter, der auch schon erfolgt ist, ist ja die Forderung nach einer anderen Steuererhöhung, etwa der Mehrwertsteuer. In diesem Spiel wird die Bevölkerung auf Steuererhöhungen eingestimmt.

* Halbwegs gute Lohnabschlüsse werden verlangt (aber offenbar nicht durchgesetzt),20 nicht zuletzt mit dem Argument, wie wichtig jetzt Konsum sei. Sie hätten aber schon lang nicht mehr die Wirkung, verbreiteten Wohlstand zu erzeugen, weil die gesicherten Arbeitsverhältnisse, für die sie gelten, abgebaut werden.

* Zur Sicherung von Arbeitsplätzen ist das Instrument der Kurzarbeit enorm ausgebaut worden – das interessant ist, weil es unter der Hand die Arbeitszeitverkürzung (bei maßvollem Lohnverzicht) bringt, die seit den 1980ern verweigert wurde. Die Erfahrung, dass es vorteilhaft sein kann, mit weniger Lohnarbeit bei weniger Lohn und mehr für andere Arbeiten verfügbarer Zeit zu leben, wurde jedenfalls verbreitet gemacht. Dass sich das in die dringend notwendige Politik der Arbeitszeitverkürzung umsetzen lässt, wenn die Subventionen der Kurzarbeit auslaufen, ist nicht wahrscheinlich.

Ansonsten ist die Politik zur Rettung von Arbeitsplätzen über Subventionen für die Betriebe so hoffnungslos, wie sie es schon lange war. Die Abwrack-Prämie etwa und die anfangs noch vorgesehene staatliche Rettung von Opel (die sich dann erübrigte) sind erstens noch nicht einmal keynesianische Politik (weil keine Investitionen in die Schaffung von Infrastruktur, sondern die Stützung von Konsumgüterproduktion), dazu verhindert die Prämie auf Jahre eine Reform des Transportsystems auch nur in dem bescheidenen Sinn, dass sparsamere Automobile eingeführt werden könnten, sollten sie denn entwickelt werden. Die Idee einer „Rettung“ von Opel setzte darauf, den russischen Markt zu öffnen, und hatte mit irgendwelcher Neuorganisation des Transports natürlich nichts zu tun. Beide setzten auch klar auf Wachstum von der Art, wie wir es vor der Krise hatten.

* Der „Grüne New Deal“ ist interessant, weil er ein Stück Gesellschaftsreform mit der Eröffnung eines Investitionsfeldes zu verbinden verspricht. Damit kommt aber alles auf die Details an: Wenn er nur, bei unveränderter Zentralversorgung mit Energie, auf Windräder- und Solarzellen-Großkraftwerke (nach einem Plan der Deutschen Bank in der Sahara mit Stromtransport von dort nach Europa) hinausläuft – und womöglich, wie in den USA und in Skandinavien wahrscheinlich, Atomkraft als „saubere“ Energie einschließt –, wird er mehr Probleme schaffen als lösen. Wenn er Elektroautos für den Individualverkehr zur Verfügung stellt und damit den Benzinmotor verdrängt (was beides sehr optimistische Annahmen sind), wird er die Lebensweise mit täglich mehreren Stunden Zeit pro Haushalt für den Individualtransport und mit weltweitem Warentransport samt der zugehörigen Siedlungsform der „Verhüttelung“ nicht ändern, sondern verfestigen. Es wird alles davon abhängen, ob die dezentrale Nutzung von Wasser-, Sonnen- und anderen regenerativen Energien so gelingt, dass Warenförmigkeit und damit Lohnarbeit eingespart werden kann.

Widersprüche

Es sieht so aus, als hätte „die Krise“ der Linken bisher nur geschadet. Politisch, also bei Wahlen, war sie (Sozialdemokratie, Grüne und Reformkommunisten) in Europa noch nie so schwach wie jetzt. Zugleich verliert die Gewerkschaft an Einfluss. Der Drang zu mehr Wirtschaftswachstum ist besonders stark. Dass die konservativ beherrschten Staaten mehr Einfluss bekommen haben sollen, heißt allenfalls, dass mehr Steuergelder in die Wirtschaft fließen. Es wird dadurch weder die Wirtschaftsdemokratie ausgebaut, noch die Verträglichkeit des Produzierten mit dem guten Leben der Produzenten und Konsumenten oder gar mit den langfristigen Ökologie-Zielen verbessert. Die von den Linken angebotenen Programme sind auch nicht dazu geeignet, das zu erreichen. So erstaunlich es ist, dass dem neoliberalen Flügel der Konservativen (in Deutschland sogar der FDP) nach dem Finanz-Crash immer noch „Wirtschaftskompetenz“ zugeschrieben wird, so wenig erstaunlich ist es, dass die Teile der Linken, die sich in Regierungen beweisen konnten, jedenfalls nicht mehr davon zugeschrieben bekommen. Und Obama wird wohl zurecht nicht als „links“ verstanden, er ist nach dem Bush-Desaster nur – im Rahmen dessen, was auf dem wirtschaftlichen, sozialen und außenpolitischen Ruinenfeld, das er übernommen hat, möglich ist – vernünftig und nach europäischen Begriffen ein aufgeklärter Konservativer.

Ein interessanter Widerspruch besteht auch darin, dass die Arbeitslosigkeit derzeit Männer stärker trifft als Frauen – und dass diese Tatsache nicht auf der Linken Anlass zu einer dezidierten Politik des Verständnisses von Arbeit ist. Der Befund ist ja offenbar darauf zurückzuführen, dass erstens „Männer-Branchen“, also die Industrie und die Bauwirtschaft vorweg betroffen sind und dass zweitens besonders das klassische „Normalarbeitsverhältnis“ mit Lohnarbeits-Karriere in einem Lebenslang-Beruf abgebaut wird, in das Frauen weniger leicht zugelassen wurden und in das sie (je geringer die Qualifikation, umso) weniger stark gedrängt haben. Zusammen mit dem Befund der „Prekarisierung“, was heißt: der Durchsetzung von Arbeitskraft-Unternehmertum als neue Arbeitsmoral, könnte das Anlass sein, endlich realistisch zur Kenntnis zu nehmen, dass eine neue Form der Organisation von Arbeitskraft propagiert wird, die eine angemessene Form der sozialen Sicherung braucht – die nämlich nicht von jenem auslaufenden „Normalarbeitsverhältnis“ abhängig ist. Man könnte von der Art, wie Frauen herkömmlich das Verhältnis von Gemeinde-, Haus-, Eigen- und Lohnarbeit balancieren, etwas dafür lernen, wie die verschiedenen Arbeitsformen ermöglicht werden können und sollen. Stattdessen partout das alte „Normalarbeitsverhältnis“ wiederherstellen zu wollen, ist nicht nur unrealistisch, sondern spielt der Erhaltung des Neoliberalismus in die Hände.

Bei den Leuten aber ist „die Krise“ bisher noch nicht katastrophal spürbar angekommen. Das Sparbuch wurde nicht entwertet, der Lohnarbeitsplatz ist noch nicht ganz außerhalb jeder Reichweite, im Konsum haben wir „Geiz ist geil“ ohnehin schon jahrelang eingeübt und betreiben das jetzt weiter so. Bis jetzt ist das alles noch halbwegs glimpflich abgelaufen. Bis auf weiteres gilt jedenfalls in Wien:

mei bia hot ka krise

(fortzusetzen)

Anmerkungen

  1. Natürlich gehen Glaubensstärke und Interesse auch zusammen: Am 17.6.10 fand in Berlin das „Forum Freiheit“ unter der gemeinsamen Federführung der Hayek-Gesellschaft und des Freien Verbandes der Zahnärzte statt. Zurück zur Textstelle
  2. „Bankrott“ ist ja, seit er, Ende des 19. Jahrhunderts beginnend, rechtlich geordnet wurde, zu einem normalen Manöver in der Wirtschaft geworden: Die Verluste der Gläubiger durch die zu groß gewordenen und nicht mehr einzubringenden Schulden werden nicht per catch-as-catch-can, sondern nach Regeln auf alle Gläubiger verteilt. Gleichzeitig wurden die zahlreichen Betriebsformen „mit beschränkter Haftung“ entwickelt, die zur Folge haben, dass der Bankrotteur oder gar seine Kontoristen (heute Manager genannt) persönlich nicht ruiniert werden sollen. Wenn freilich mit staatlichen Zuschüssen der Bankrott überhaupt abgewendet wird, fallen bei den Gläubigern gar keine oder jedenfalls geringere Verluste an. Zurück zur TextstelleEin zentrales Stück der Ideologie des Kapitalismus ist der wagemutige Unternehmer, der „das Risiko trägt“. Tatsächlich kann die Geschichte des Kapitalismus seit Ende des 19. Jahrhunderts als eine von Erfindungen geschrieben werden, das unternehmerische Risiko zu vermindern und abzuwälzen. Der kapitalistische Staat ist das wichtigste Instrument der Umverteilung des Risikos auf alle. Zurück zur Textstelle
  3. Das ist keine besonders gewagte Interpretation: Josef Ackermann etwa sagt das bei jeder Gelegenheit (zuletzt ausführlich gegenüber Maybrit Illner im ZDF, 13.5.2010), dass er und seinesgleichen die einzigen wären, die aufgrund ihrer Erfahrung sagen könnten, wie die Finanzmärkte funktionieren. Und „das geht auch nicht nach dem Lehrbuch“ – was die Professoren sagen, sei also nicht so beachtlich. Dass er tatsächlich die Interessen der Banken vertritt, ist aus jedem Satz herauszuhören. Er schafft es aber, diese Bankeninteressen (vor allem daran, uneinbringliche Verluste nicht selbst verarbeiten zu müssen, sie möglichst überwälzen zu können) so selbstverständlich mit dem Funktionieren des ganzen Finanzmarktes zu verbinden, dass es so scheint, als spräche er über ein Allgemeininteresse. Zurück zur Textstelle
  4. Kulturindustrie ist keine Verschwörung – auch wenn man in politischer PR, Umfrage-Industrie und professioneller Wahlkampf-Beratung und -Organisation die Instanzen durchaus nennen kann, deren (teuer bezahlte) Aufgabe es ist, mit wissenschaftlich ausgefeilten Mitteln die „Images“ und Meinungen zu manipulieren. Man hat eher den Eindruck, dass auch die politische und sonst öffentlich schwätzende Klasse selbst nach einer Orientierung sucht und sie in Metaphern findet. Das ist nicht einfach Manipulation von oben nach unten, sondern zunächst hilflose Verständigung horizontal. Zurück zur Textstelle
  5. www.news.at (zuletzt aufgerufen Juli 2010) Zurück zur Textstelle
  6. Das Material, das ich im folgenden verwende, besteht in der überdurchschnittlich breiten und genauen Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften und Notizen aus Radio und TV-Sendungen jeweils im ersten Halbjahr 2009 und 2010. Ich habe weder systematisch dokumentiert, noch die Berge an Texten, die sich leicht sammeln lassen, mit Hilfe eines computergestützten Programms ausgewertet. Derartiges ist bekanntlich nur nötig, wenn man über ein Forschungsprojekt Mitarbeiter finanzieren will. Wenn es „nur“ um Ideologiekritik geht, ist solcher Aufwand nicht sinnvoll. Ich habe also vielmehr mein eigenes, gut trainiertes Vermögen eingesetzt, den „Bockmist“ (als „bullshit“ von Harry Frankfurter zu einem philosophischen Begriff hochgezogen) im öffentlichen Gerede wahrzunehmen und zu interpretieren und mich ihm dazu mehr ausgesetzt, als ich es alle Tage und freiwillig täte. Gelesen habe ich doch überwiegend die „gehobenen“ Produkte, also Zeit, Spiegel, SZ, FAZ und FR, in Österreich den Standard und nur gelegentlich auch News, die Kronen-Zeitung und die Wiener U-Bahn-Gratiszeitung Heute – das alles möglichst im Netz und gewiss nicht jeden Tag. Gehört und gesehen habe ich ausschließlich die öffentlich-rechtlichen Sender. Was wir hier kennenlernen, ist also die „gehobene“ Volksverdummung, die für die gebildete Klasse. Zurück zur Textstelle
  7. Der erste Versuch, das World Trade Center zum Einsturz zu bomben, hatte im Februar 1993 stattgefunden. Es hatte vor 2001 in aller Welt zahlreiche Angriffe auf Einrichtungen und Schiffe der USA gegeben. Zurück zur Textstelle
  8. Die Powerpoint-Folien dazu sind unter www.db.com nachzulesen. Zurück zur Textstelle
  9. Zitiert nach einem Voraus-Bericht in der Süddeutschen Zeitung vom 2.9. mit dem Titel „Ackermann: Banken sind selbst schuld“, ähnlich nochmals am 4.9. unter dem Titel „Ackermann auffallend selbstkritisch“.Zurück zur Textstelle
  10. „Ackermann bittet Staat um Hilfe“, „Steinbrück beruhigt nach Ackermann-Hilferuf“, Handelsblatt, 18.3.2008, www.handelsblatt.com und www.handelsblatt.com.Zurück zur Textstelle
  11. Die Interpretation dieses „Tabubruchs“ bei Langenohl und Schmidt-Beck, 2008, wirtsoz-dgs.mpifg.de , vernachlässigt, dass nur die Markt-Fundamentalisten das so sahen und dass sie – das ist aus heutiger Sicht bemerkenswert – zu dem Zeitpunkt noch wirksam gegen eine solche pragmatische Position auftreten konnten. Zurück zur Textstelle
  12. Die Süddeutsche berichtet darüber unter „Banken gestehen – und versprechen Besserung“ am 17.7.2008. www.sueddeutsche.de Zurück zur Textstelle
  13. Übrigens erinnert diese Geschichte frappant an den Film Inside the Meltdown des Dokumentar-Filmers Michael Kirk, der am 17.2.09 in den USA auf PBS ausgestrahlt worden war und Journalisten natürlich einige Zeit früher bekannt gewesen sein muss. Er wird in dem Spiegel-Artikel mit keiner Silbe erwähnt. Zurück zur TextstelleVgl. www.pbs.org Man kann dort den Film auch online besichtigen. Zurück zur Textstelle
  14. Diese Geschichte gefällt dem Spiegel so gut, dass er sie in der Ausgabe Nr. 27 vom 29.6.2009 mit einer anderen „AD-Kundin“, diesmal heißt sie „Frau Braun“, auf fünf Seiten (48-52) wiederholt. Zurück zur Textstelle
  15. Auch (damals noch) Bischof Mixa in Augsburg sieht die Selbstbezeichnung von Investment-Bankern als „Masters of the Universe“ als „in gewisser Weise ein Ausdruck der Ursünde“ und „diese Finanzkrise (als) die Folge eines Sündenfalls“. Spiegel Nr. 23, 30.5.2009, „Da beginnt für mich die Hölle“, S. 46. Zurück zur TextstelleWährend die Bischöfe viel von Sünde verstehen und die Gier als solche einordnen (Habsucht ist immerhin eine der sieben Todsünden), gehen die Banker ins Allgemeinmenschliche: Gier gehört zur Grundausstattung „des Menschen“. Schöne Beispiele bieten Hilmar Kopper (Zeit, 9.10.2008), der das Wort Gier nicht mehr hören kann (www.zeit.de), und neuerdings Ackermann (im Gespräch mit Maybritt Illner, ZDF, 13.5.2010), der uns alle zu Spekulanten erklärt, weil wir doch immer Erwartungen an die Zukunft hätten, etwa die, von einer TV-Sendung gut unterhalten zu werden. Zurück zur Textstelle
  16. Das will übrigens auch der inzwischen vorbestrafte Peter Hartz in seinem neuen Job in der Beratung von Langzeitarbeitslosen im Saarland: „Hartz blickt auf. 'Den Menschen in den Mittelpunkt stellen!', sagt er. 'Damit haben wir jetzt einen anderen Ansatz. Eine biopsychosoziale Lösung.'„ (Spiegel, Nr. 21, 18.5.2009, „Das Gefühl von Arbeit“, S. 54) Zurück zur Textstelle
  17. Interessant an dem Artikel ist die Mitteilung, bei den Diskontern seien 2008 die Preise stärker angehoben worden als im Schnitt der Lebensmittel-Supermärkte.Zurück zur Textstelle
  18. Berichte dazu sind grundsätzlich aus Verwaltungs- und Regierungsperspektive geschrieben, exemplarisch einer in News vom 22.6.2009 mit dem Titel „Wie packt man bloß die Arbeitslosigkeit an?“ Als Antwort fordert der Sozialminister von den Jugendlichen mehr Mobilität, der Wirtschaftsminister fordert generell mehr Konsum, der ÖGB-Präsident fordert mehr Kurzarbeit statt Entlassungen. Die Sicht der Betroffenen kommt nicht vor. Zurück zur Textstelle
  19. Der Artikel vermittelt den überwältigenden Eindruck, der Autor habe sich gerade über eine saftige Steuervorschreibung geärgert. Zurück zur Textstelle
  20. Neuerdings wird sogar triumphierend verkündet, „wir“ hätten – im Gegensatz etwa zu „den Griechen“ – eben nicht „über unsere Verhältnisse“ gelebt. Dass Deutschland inzwischen ein Billiglohnland ist, wird uns als besondere Tugend zu verkaufen versucht. Bei dem verbreiteten Willen zur Sparsamkeit und dazu, einen Beitrag zur Bewältigung der Krise zu leisten, wäre es nicht verwunderlich, wenn viele Leute solche Anerkennung ihrer Tugendhaftigkeit durchaus zu schätzen wüssten. Zurück zur Textstelle
© links-netz Juli 2010