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„Wir zahlen nicht für eure Krise!“

– und wie wollen wir verhindern, dass doch?

Heinz Steinert

Nicht aus jeder Krise entsteht eine neue Produktionsweise

2008/09 wird als ähnlich entscheidendes Datum wie 1989/90 in die Geschichte des Kapitalismus eingehen: Damals ging die bis dahin behauptete System-Alternative des „Sozialismus“ verloren, jetzt kehren wir angeblich von den „Exzessen der losgelassenen Finanzmärkte“ zu einem regulierten Kapitalismus zurück. Wolfgang Sachs, Direktor des „Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie“, konnte am 1. April 09 in einem Radio-Interview (Ö1, „Von Tag zu Tag“) mit der launigen Bemerkung gehört werden: „Dieser Tage ist manch einer, der als Neoliberaler zu Bett ging, am nächsten Morgen als Keynesianer aufgewacht.“

So dramatisch beide Veränderungen klingen, sie haben tatsächlich die Produktionsweise des Neoliberalismus1 weder herbeigeführt noch zu Ende gebracht. Der „real existierende Sozialismus“ war ohnehin eine Variante von Kapitalismus, nämlich der Staatskapitalismus und die Entwicklungsdiktatur erst der europäischen, dann der Welt-Peripherie. Zu einem Gegensatz zu Kapitalismus wurde er zum Nutzen beider Seiten politisch aufgebaut. Der Zusammenbruch der politischen Herrschaft der Kommunisten in der Sowjetunion und ihren europäischen Satelliten bot eine günstige Gelegenheit, neoliberale Wirtschafts-Doktrinen, die im Westen schon in den 1980ern eingeführt wurden, in einer politischen und wirtschaftlichen Chaos- und Ratlosigkeits-Situation auch im Osten durchzusetzen. Die Kosten waren damals für die Bevölkerungen der betroffenen Länder erheblich. Im Westen gab es einigen Triumphalismus („Ende der Geschichte“) und viel wirtschaftlichen Gewinn durch die neuen Märkte. Ideologisch war der Verlust des Feindes durchaus peinlich und durch „Islamismus“ (wenn nicht „Islam“) nur teilweise zu kompensieren. Spätestens in der Folge der Krise von 2008/09 steigen die Kosten dieser Annexion für die „alten“ Teile der EU wieder (in Deutschland waren sie durch die Inkorporation der DDR sofort seit 1989 hoch).

Ebenso lässt sich für die Krise von 2008/09 schon jetzt (im April 2009) absehen, dass sie zu keinerlei Ablösung der neoliberalen Produktionsweise führen wird, schon gar nicht – was vermutlich mit der Rede vom wiederkehrenden Keynesianismus letztlich gemeint ist – zu einer Wiederherstellung von Fordismus samt Sozialpartnerschaft und staatlichen Planungsvorgaben. Ähnlich hat auch der Bankenkrach 1929 die damalige Produktionsweise des Fordismus nicht beendet. Nicht einmal der Faschismus, eine der politischen Reaktionen auf diese Krise, hat das getan2 – so sehr vor allem der deutsche Nationalsozialismus, der von ihm ausgelöste Weltkrieg und der Völkermord an den europäischen Juden sonst die Welt verändert haben. Selbst und gerade in Deutschland ist nach dem Krieg in der BRD Fordismus erst zur Blüte gekommen.

Ob eine Produktionsweise abgelöst werden muss, hängt offenbar nicht sehr unmittelbar davon ab, ob sie „funktioniert“ oder nicht. Ohnehin ist da sofort die Frage: „funktioniert“, für wen? Zunächst muss sie in erster Linie für das Kapital „funktionieren“ – und auch da ist die Frage, für welche Fraktion: groß, klein? Produktion, Handel, Finanz? Landwirtschaft, Industrie, Gewerbe, Dienstleistung? Neoliberalismus war und ist vor allem eine Sache der Konzerne und der Finanzwirtschaft, die ohnehin global agieren. Die Industrie, die unter Zurücklassen „ent-industrialisierter“ Landstriche aus Westeuropa abgezogen wurde, hat das, wenn groß genug, hinnehmen können. Das mittelständische Gewerbe, das auf einmal gezwungen war, europaweit und dann mit Betrieben in Ländern mit einem wesentlich niedrigeren Niveau von Lebenshaltung zu konkurrieren (und in der Folge dorthin auszulagern), hat damit gar keine Freude gehabt. Durchgesetzt haben die Produktionsweise offenbar die Konzerne und die Börsen, auch wenn das zum Schaden anderer Kapitalfraktionen ging. Und die Arbeiterschaft wurde ohnehin nicht gefragt, denn deren Macht zu reduzieren, war eine der Aufgaben von „Globalisierung“ (als Erweiterung der Arbeitsmärkte und der Möglichkeiten von internationaler Kapital-Verlagerung) – und das ist auch glänzend gelungen.

Wenn sie selbst für die Kapital-Fraktionen, die sie tragen, nicht mehr „funktioniert“ – und seit dem Crash vom Herbst 2008 sind auch Teile des Finanzkapitals nicht mehr so sicher –, kann eine Produktionsweise offenbar nur dann umgestürzt und grundsätzlich verändert werden, wenn eine andere Kapitalstrategie zur Verfügung steht, die mehr verspricht. Wenn das Hauptproblem von Neoliberalismus im Mangel an guten Investitionsmöglichkeiten besteht, dann hat die Finanzkrise daran nichts verändert. Sie hat höchstens gezeigt, dass das Ausweichen in die Finanz-Spekulation auch nicht die Lösung ist, dass dort zumindest das Abenteurertum eingedämmt werden muss.

Wirtschafts-Subventionen und Keynesianismus

Die Gegenüberstellung von „Neoliberalismus“ und „Keynesianismus“, die dieser Tage geläufig verwendet wird, ist ohnehin zunächst schon ein Kategorienfehler, insofern „Neoliberalismus“ eine Produktionsweise, „Keynesianismus“ aber eine Wirtschaftspolitik bezeichnet. In der Gegenüberstellung wird offenbar „Neoliberalismus“ als Wirtschaftspolitik verstanden, was insofern interessant ist, als diese Produktionsweise tatsächlich, zuerst konservativ von Reagan und Thatcher, dann von Clinton, Blair oder Schröder sozialdemokratisch, massiv politisch durchgesetzt wurde. Das geschah aber nicht nur aus ideologischem Jux und Tollerei, sondern bekam seine Chance (auf die die gut organisierten Hayek- und Friedman-Leute lange hingearbeitet hatten), als Fordismus in den späten 1970ern wirtschaftliche Probleme hatte, gute Investitionsmöglichkeiten für erweiterte Massenproduktion zu finden – „gut“ vor allem im Vergleich zu den Renditen in der Finanzwirtschaft. Hinzu kamen neue Möglichkeiten der Rationalisierung durch Elektronik und globale Arbeitsmärkte. Das Neue an der neoliberalen Produktionsweise war, dass sie keinen „wohlhabenden Arbeiter“ mehr zu brauchen glaubte und dass der Finanz-Sektor gegenüber der Produktion dominant wurde: Der Börsenwert der Firma wurde wichtiger als ihr Gewinn und löste sich davon ab.

Dann aber sollte man sehen, dass während der bisher dreißig Jahre Neoliberalismus neben Deregulierung und Privatisierung (Versuchen also, Möglichkeiten der Investition zu verbessern), massiv rechts-keynesianisch interveniert wurde: Reagan hat, unter anderem mit seinem viel belächelten „Star Wars“-Programm, die Rüstungsindustrie mit Aufträgen versorgt – und das ist, auch wenn man es mit der neoliberalen Ideologie von „supply-side economics“ tut, im Effekt Keynesianismus. Thatcher hat einen Krieg mit entsprechenden Folgen für die Rüstungs-Wirtschaft geführt, Bush ohnehin, und Blair war auch wieder dabei. Wenn Obama jetzt ein Infrastruktur-Programm ankündigt, ist das bestenfalls eine Verschiebung zum Links-Keynesianismus. Im übrigen ist das Militärbudget der USA für 2009 höher als unter Bush und angekündigt ist für die Zukunft nur, es „einzufrieren“. Die bisher getätigten und angekündigten Monster-Staatsausgaben für die Banken und die Autoindustrie sind noch nicht einmal Keynesianismus, sondern schlichte Wirtschafts-Förderung, wie sie in ruhigen Zeiten, nur in kleinerem Maßstab und vor allem ohne Öffentlichkeit, auch geschieht. Die angekündigten Finanzmarkt-Kontrollen – bei denen man erst sehen muss, was daraus real wird – werden vielleicht ein paar allzu unübersichtliche Derivate und Swaps dämpfen und damit das Bankgeschäft wieder und etwas weniger riskant in Gang bringen. Als Maß dafür, dass diese Ankündigungen die richtige Politik sind, wird uns erfreut mitgeteilt, dass die Börsen-Indizes ansteigen, mit anderen Worten: dass die Spekulation schon wieder Schwung gewinnt.

Ansonsten wurde nur bestätigt, was eh schon alle wussten und nach Möglichkeit praktizierten, dass nämlich Staatsaufträge und Subventionen für die Wirtschaft unerlässlich und enorm vorteilhaft sind. Das gilt auch und besonders neoliberal. Dass der Staat jetzt wieder stärker ins Spiel kommt, dass er plötzlich nicht mehr das Problem, sondern die Lösung sein soll, verändert den Charakter von Neoliberalismus überhaupt nicht – zumal sich die Privatisierungen, etwa die von British Rail, ohnehin nicht als sensationell profitabel erwiesen haben. Es ist jetzt auf beiden Seiten nur vielleicht etwas klarer, dass „Staat“ nicht nur, nicht einmal in erster Linie aus Regulierung der Wirtschaft besteht, sondern vielmehr aus dem Transfer von Steuergeldern – und zwar von unten nach oben, aus der Arbeiterschaft in „die Wirtschaft“. Es ist auch viel leichter, den Staat dazu zu pressen, diese Gelder herauszurücken, die er den Leuten, also per Lohn- und Einkommenssteuern vor allem den lohn-arbeitenden Leuten abnimmt, als denselben Leuten den verbleibenden Teil ihrer Lohneinkünfte auf den Märkten für Waren und Dienste abzuluchsen.

Die Krise ist ein beachtlicher Schub solcher Transfers. Sie hat nicht einmal an dem absurden Ziel des Wirtschaftswachstums etwas geändert, geschweige denn an den Grundfunktionen und -defiziten der Produktionsweise. Es wird mit unserem Geld und dem kommender Generationen daran gearbeitet, diesen abgestürzten Pleitegeier möglichst bald wieder aus der Asche aufsteigen zu lassen. Und alle, die Steuern zahlen, sind daran beteiligt. Noch gravierender nachteilig sind alle die beteiligt, die als Folge von (Lohn-) Arbeitslosigkeit keine Lohn- und Einkommenssteuer zahlen – und das besonders in den USA und den vielen anderen Ländern ohne nennenswerte soziale Absicherung.

Wirtschafts-Ziel: Schaffung von Arbeitsplätzen?

Der politische Transmissionsriemen für den Verkauf der Politik der Wirtschafts-Subventionen ist die Sorge der Politik um „die Arbeitsplätze“. Dabei haben wir es mit klassischer Doppelmoral zu tun: Die Steuergelder werden der Wirtschaft nachgeworfen, damit sie „anspringt“ und wieder „Arbeitsplätze schafft“. Zugleich wissen alle, und selbst die offiziellen Prognosen sagen es, dass sie vor allem letzteres nicht tun wird. Ohnehin hat auch schon vor dem Börsen- und Banken-Krach 2008 alles dafür gesprochen, dass es auf absehbare Zeit keine „Vollbeschäftigung“ im Sinn der 1960er-Jahre mehr geben wird. Schließlich war das, was uns als „Globalisierung“ und „über uns gekommen“ verkauft wurde, in einem wichtigen Aspekt ein Umbau der Arbeitsmärkte dergestalt, dass es solchen Arbeitskräfte-Mangel, wie Vollbeschäftigung von der anderen Seite heißt, mit seinen unerfreulichen Folgen für die Macht in Betrieb, Wirtschaft, Staat und Gesellschaft nie wieder geben soll.

Seit den 1980ern ist in den verschiedenen Schüben von (Lohn-)Arbeitslosigkeit zugleich eine absurde Neu-Definition der Ziele des Wirtschaftens entstanden: Bis dahin hatte Fortschritt darin bestanden, durch technische Entwicklung und Rationalisierung die benötigte Arbeit zu verringern und die Sozialleistungen zu verbessern. Die logische Konsequenz von höherer Produktivität war daher eine immer kürzere Normal-Arbeitszeit. Seit den 1980ern wurde bei enormen Produktivitäts-Zuwächsen (nicht zuletzt durch den Einsatz von Elektronik aller Art) jegliche Arbeitszeit-Verkürzung verweigert. Eigentlich müssten wir heute etwa bei einer Zwanzig-Stunden-Woche halten. Zuletzt wurde die Arbeitszeit sogar wieder verlängert. (Und es ist übrigens nicht so, dass es etwa stattdessen Lohnsteigerungen jenseits des Inflationsausgleichs oder gar in Proportion zum Anstieg der Produktivität gegeben hätte.) Stattdessen wurde es uns als Ziel von staatlicher Wirtschaftspolitik verkauft, sie müsse die Wirtschaft dazu bringen, mehr und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das Mittel dazu ist die Übernahme der Kosten von Arbeitsplätzen durch staatliche Zuwendungen an die Betriebe – Arbeit wurde für den Betrieb zu einem Kostenfaktor, den es zu reduzieren galt, für die Politik zu einem Ziel, für das man Steuergeld ausgeben muss. Die Ziele des Wirtschaftens wurden „verrückt“.

Im Vergleich dazu hören sich die auch ziemlich „verrückten“ Ideen, Ziel der Wirtschaft sei es, möglichst viel Geld zu machen oder den Betrieb möglichst teuer weiterverkaufen zu können, nachgerade konventionell an. (Das zugleich als Hinweis darauf, dass auch das, was neuerdings „Real-Wirtschaft“ genannt wird und als der „gute“ Teil der Wirtschaft gilt, einigermaßen die Bodenhaftung – die in der allseitig verantwortbaren Erzeugung von nützlichen „Lebensmitteln“ für alle bestünde – verloren hat. Die „Krise“ ist durchaus nicht eine der Finanz-Wirtschaft allein.) Es kann nicht Ziel eines wie immer organisierten Wirtschaftens sein, immer mehr Arbeitsplätze zu schaffen – und in keiner Variante von Kapitalismus ist diese Art von Wirtschafts-Wachstum mehr als eine von vielen möglichen Formen der Kapital-Reproduktion. Ökologisch ist sie bekanntlich die Katastrophe. Hinzu kommt, dass diese Wirtschaftspolitik ohnehin nicht funktioniert: Die Subventionen werden in der Konkurrenz der Betriebe zur Rationalisierung, also zum Einsparen von lebendiger Arbeit verwendet, nicht für Erweiterungs-Investitionen. Die von den Politikern verbreitete Idee, man müsse die Wirtschaft mit Steuergeldern stützen, dann werde sie auch Arbeitsplätze schaffen, ist nichts als eine Illusion, wenn nicht ein Vorwand.

Statt diese illusionäre Politik hinzunehmen, gibt es nur eine Möglichkeit, die Krise tatsächlich nicht zu bezahlen: wo immer es möglich ist, aus dem Lohnarbeits-Nexus auszusteigen. Das ist dabei vorausgesetzt: Veränderung der Gesellschaft und ihres Wirtschaftens geschieht nicht durch Gesetze und anderes staatliches Wirken. Veränderung der Gesellschaft geschieht, indem Leute anders leben und wirtschaften, indem sie die Formen der gesellschaftlichen Arbeit aufwerten, die nicht in Lohnarbeit bestehen, vielmehr deren Grundlage bilden: Gemeinde- und Hausarbeit, Eigenarbeit, solidarische Formen von Tausch. Versuche dazu hat es immer wieder gegeben, zuletzt massenhaft in der „Alternativkultur“ der 1970/80er Jahre, in ihren selbstverwalteten Betrieben und Kommunen, die nicht alle spurlos verschwunden sind. Neue Versuche dazu findet man jetzt in dem, was unter „solidarische Ökonomie“ in verschiedenen Formen erprobt und entwickelt wird. Computer und Internet sind Instrumente, die außer für Tratsch und Spiele auch für die Organisation von Arbeit und Tausch unter Umgehung der Warenform verwendet werden können. Ökologisch vertretbar zu leben, kann erprobt werden und wird exemplarisch praktiziert, auch ohne dass die Öko-Industrie das großflächig anbietet. Die Gefahr ist ohnehin groß, dass über die Industrie doch nur wieder riesige „Wind-Parks“ und „Solarstrom-Fabriken“ entstehen und damit alle Nachteile der Zentralversorgung perpetuiert werden. Veränderung der Gesellschaft, die den Namen verdient, wird aber dezentral geschehen müssen, an vielen Orten und als aktive Praxis.

Wenn wir also meinen, die richtige gesellschaftliche Reaktion auf diese Finanzkrise plus Stagnation der Weltwirtschaft3 plus Hungerkrise plus ökologische Krise sei eine grundsätzliche Veränderung der westlichen Lebensweise, dann sind die Einkünfte von Managern und Finanzjongleuren vergleichsweise belanglos. Interessant sind dann vielmehr – um ein paar Beispiele aufzuzählen – das Automobil als wichtigstes Vehikel des privaten Transports, interessant ist die davon bestimmte Struktur der Städte (mit täglichen Fahrtzeiten zwischen Wohnung, Lohnarbeitsplätzen, Schulen und Freizeit-Orten der Haushalts-Mitglieder von in Summe mehreren Stunden Lebenszeit – von den Geschäfts- und Urlaubsreisen gar nicht zu reden), interessant ist die Energie-Versorgung der Haushalte, interessant ist die weltweite Arbeitsteilung in der Produktion mit ihrer Vernachlässigung der Transportkosten, interessant sind die Bestrebungen, immer mehr Leistungen der Gemeinde- und Hausarbeit in käufliche Waren und Dienste umzuwandeln, samt der Verweigerung von Verkürzungen der Lohnarbeitszeit, die den gewaltigen Produktivitätsfortschritten der letzten dreißig Jahre entsprächen, interessant ist die Verweigerung einer Organisation von Sozialpolitik unabhängig vom Ausmaß der geleisteten oder noch zu erwartenden Lohnarbeit, interessant ist die Spekulation mit Lebensnotwendigem, vor allem mit Nahrungsmitteln, interessant ist die Stützung einer Produktionsweise mit Steuergeldern, die uns allen das Leben schwerer statt leichter macht.

Wenn wir beurteilen wollen, welche Maßnahmen auf der Ebene von Berufs-Politik (also auf der Ebene von Parlament, Verwaltung und Regierung) emanzipatorische Bewegungen in der Gesellschaft zumindest weniger behindern könnten als bisher, dann fallen, ganz ohne Rücksicht auf Realisierungswahrscheinlichkeiten gedacht, zwei Strategien ein: „radikaler Keynesianismus“ und eine „Meta-Politik von Arbeit und Einkommen“.

„Radikaler Keynesianismus“

Linker Keynesianismus als Investition in die Infrastruktur, wie besonders in den USA angekündigt, soll natürlich die Infrastruktur für neues Wirtschaftswachstum im Sektor Warenproduktion/Lohnarbeit wiederherstellen. Nicht unwahrscheinlich ist, dass vorrangig neue Straßen gebaut und Brücken erneuert werden. Keynesianismus will Kapitalismus nicht auflösen, sondern ihn retten – ihn nach der gängigen Metapher „ankurbeln“, indem durch Staatsaufträge Löhne und Massenkaufkraft hergestellt werden, ohne dabei die Menge der Waren, die um diese Kaufkraft konkurrieren, zu vergrößern. Ein „radikaler Keynesianismus“ bestünde hingegen darin, unmittelbar die Leute mit dem Geld zu versorgen, das sie brauchen, um das für sie Notwendige zu kaufen, wenn sie anders nicht dazu kommen können.

* Ein radikaler Keynesianismus setzte daher erstens dezentral und

* zweitens weltweit an.

Umweltverträgliches Leben und Wirtschaften, das eine Chance gegen den Hunger in der Welt haben soll, ist nach der Überzeugung derer, die damit Erfahrung haben, nur mit dezentralen Technologien und Organisationen erfolgreich anzugehen. Das heißt, diese Entwicklungen müssen den Konzernen wie den Staaten aus der Hand genommen und (etwa nach dem Modell der Mikrokredite und anderer lokaler Infrastruktur-Leistungen) den Leuten selbst und an Ort und Stelle ermöglicht werden. Berufs-Politik hätte nur die Aufgabe, das zu ermöglichen, etwa durch geeignete rechtliche Instrumente.

* Drittens wäre Keynesianismus in dem Maß radikal, indem er sein eigenes Prinzip, die Wirtschaft über die Erzeugung von Nachfrage zu beleben, ernst nähme und seine Maßnahmen bei den Konsumenten placierte. Wenn die Banken in Probleme kommen, weil Kredite bei Hauskäufern nicht einzubringen sind, wäre es danach logisch, über staatliche Stützung die Rückzahlung zu ermöglichen, etwa durch Übernahme der Zinsen oder sogar der ganzen Raten, zumindest auf Zeit. (Damit wird man auch ein paar Betrüger unterstützen, aber das ist bei Zuwendungen an die Banken nicht anders.) Mit der staatlichen Garantie der Spareinlagen bis zu einer gewissen Höhe ist übrigens genau so eine Maßnahme gesetzt worden. Garantien und Zuwendungen direkt an die Banken, um zuerst deren Bilanzen zu retten, damit die Spareinlagen nicht gefährdet sind, wären nach diesem Programm überflüssig.

* Ebenso müsste man nicht die (oder jedenfalls nicht alle) Banken retten, um die weitere Kreditvergabe zu sichern. Keynesianisch wäre stattdessen ein eigenes staatliches Kredit-Programm, wenn die Banken Kredite zurückhalten, ein interner Marshall-Plan. Tatsächlich wird das über Banken, die unter staatlichem Einfluss stehen, in Deutschland etwa die KfW, auch schon getan. Eine Art Marshall-Plan (nach innen wie nach außen) ist ohnehin auch für die Finanzierung der Infrastruktur-Arbeiten notwendig, könnte aber auf andere Produktionen, die entsprechende Kriterien erfüllen, ausgeweitet werden.

* Nicht einmal besonders radikal, aber sehr keynesianisch wäre neben den Infrastruktur-Investitionen auch die Einführung eines Grundeinkommens, das die unteren Einkommen und Sozialleistungen anhebt und den Verwaltungsaufwand der Sozialpolitik radikal reduziert. Das ist zugleich ein Element einer „Meta-Politik von Arbeit und Einkommen“.

„Meta-Politik von Arbeit und Einkommen“

Die Zuspitzung der Einkommen auf Lohnarbeit und auf Sozialpolitik als Ersatz des Lohn-Einkommens ist schon deshalb nicht zukunftsfähig, weil es nicht genügend und nicht genügend sichere Lohnarbeit für alle gibt, die sie tun und damit zugleich ihre spätere soziale Absicherung erwerben wollen. Eine Politik, die so tut, als werde es irgendwann (und suggeriert wird: demnächst) wieder sichere Lohnarbeit für alle geben, ist ohnehin zutiefst unehrlich. Wenn sie im Namen dieses Versprechens Verzicht jetzt fordert, potenziert sie diese Unehrlichkeit. Und sie tut das noch einmal, wenn sie in der Krise ungeheure Steuermittel in die Wirtschaft steckt, die erstens keineswegs sicher als Lohnarbeitsplätze zurückkommen und irgendwann abzuzahlen sein werden. Hier hilft nur eine Politik, die den Lohnarbeits-Fetisch abbaut und zu diesem Zweck ein System der Einkommen und der sozialen Sicherung entwickelt, das von Lohnarbeit unabhängig ist. (Ich nenne das Meta-Politik, weil damit erst die Voraussetzungen für eine Politik geschaffen würden, die sich nicht von dem „Arbeitsplätze“-Imperativ ohnehin alle Gestaltungsmöglichkeiten nehmen lassen muss.4)

Wichtigstes Element einer solchen Meta-Politik ist die Aufwertung der anderen Arbeitsformen: Gemeindearbeit, Hausarbeit, Eigenarbeit, und entsprechend die Abwertung von Lohnarbeit. Wenn es darum geht, sich per Lohnarbeit an einem betrieblich organisierten Projekt der Produktion oder Dienstleistung zu beteiligen, müsste die erste Frage sein können: Ist das ein nützliches Produkt? Die zweite Frage wäre: Wird der Schaden, den die Produktion selbst anrichten kann, minimiert? Dann: Sind die Arbeitsbedingungen so, wie ich arbeiten möchte? Schließlich: Stimmt die Summe, mit der ich dazu gewonnen werden soll? Damit solche Fragen gestellt werden können, müssen sehr real und handfest Lebensweisen möglich werden, die weniger von gekauften Waren und Diensten abhängen, und es muss das Minimum an Geld-Einkommen, das nötig (und wegen der unverbindlichen Form des Kaufens für Geld, die auch Freiheits-Aspekte hat, auch erwünscht) bleibt, anderswie sichergestellt werden. Dafür müsste Arbeitszeit allgemein verkürzt werden – was aber (s.o.) in den letzten Jahrzehnten nicht möglich war. Möglicherweise geschieht etwas von der Art über die staatlich gestützten Programme von „Kurzarbeit“, in denen die Erfahrung gemacht wird, dass mehr lohnarbeitsfreie Zeit einen gewissen Lohnverzicht durchaus wert sein kann.

Die Voraussetzung für eine Reduktion des Waren-Anteils an den „Lebensmitteln“ ist neben der Eigenproduktion, die zumindest auf dem Land ohnehin geschieht und auf die in allen Situationen der Armut zurückgegriffen wurde und wird (nicht zuletzt durch Mobilisierung der familiären Beziehungen zum Land, die viele haben), das Vermeiden von verschwenderisch angeschafften Waren5 und Diensten. (Es gab schon einmal, und das ist gar nicht so lange her, freudige Konsumverweigerung gerade bei der Jugend – aus der Einsicht, dass einem die Lohnarbeit das Leben stiehlt, das von den Waren versprochen wird, die man um den Lohn kaufen soll. Dann doch lieber gleich stattdessen und ohne leben.) Voraussetzung ist eine soziale, nicht nur wirtschaftliche Infrastruktur (zum Beispiel von Kinderbetreuung, Unterrichtung, Gesundheit, Pflege), die in den Basis-Bereichen des Lebens Warenförmigkeit aufhebt.

Dazu braucht man eine andere Sicherung des Existenznotwendigen als über Einkommen aus Lohnarbeit, eine Form von Grundeinkommen, die für die Leute, die sich ja nichts schenken lassen wollen, auch annehmbar ist. Bei noch so guter Infrastruktur bleibt ein Bedarf an käuflichen Waren und Diensten, für den das Geld da sein muss. Geld hat den Vorteil der Unpersönlichkeit und der Wahl, wofür man es verwenden möchte. Wenn dieses Grundeinkommen aber für die Leute akzeptabel sein soll, darf es nicht von Fürsorge-, also Lohnersatz-Leistungen abgeleitet sein, die als Kompensation für (schicksalhafte oder selbst verschuldete) Schwäche, oft Versagen dargestellt wird. Das Grundeinkommen hätte die monetäre Abgeltung, die Voraus- und Weiterzahlung für die wichtigen Arbeiten zu sein, die alle Personen in der Familie und in der Gemeinde ohnehin im Lauf ihres Lebens leisten. Wer in einzelnen Lebensphasen mehr Geld braucht, wird es sich durch Lohnarbeit dazuverdienen.6

Ein realistisch pessimistisches Szenario

Die US-Steuerzahler werden noch heute mit der Rückzahlung der Schäden belastet, die durch Reagans Deregulierung in den 1980ern in der „Savings & Loans“-Industrie, also bei den Sparkassen ermöglicht bis verursacht wurden. Dazu addieren sich nun die Lasten aus dem von der Bush-Regierung hinterlassenen wirtschaftlichen Kahlschlag. (Man fragt sich, wie es den Konservativen jemals gelingen konnte, in den Ruf zu kommen, sie verstünden etwas von der Wirtschaft.) Wir zahlen nicht für eure Krise? Wir und etliche kommende Generationen tun das schon und werden es tun und werden nicht gefragt, ob wir das wollen.

Tatsächlich kann man erwarten, dass auch in Europa nach den staatlichen Schulden-Exzessen zur Stützung der Wirtschaft scharfe Spar-Budgets folgen, was heißt: Rückbau von staatlichen Diensten und von Infrastruktur-Leistungen. Sozialpolitik wird weiter und verschärft unter dem Diktat von Spar-Zwang stehen. Arbeitslosigkeit im zweistelligen Bereich oder nahe daran hatte Europa schon jahrelang und ohne Revolten, die nicht lokal und polizeilich zu bewältigen wären. Damit wird die Politik und erst recht die Wirtschaft auch in Zukunft leben können. An einer entsprechenden Rhetorik im Wahlkampf wird es nicht mangeln. Vielleicht wird wenigstens in Ländern wie Österreich, die damit jetzt unter dem Europa-Durchschnitt liegen, mit riesiger Empörung und Anstrengung in der „Zivilgesellschaft“ eine maßvolle Anhebung der Vermögenssteuer gelingen. Was alle Staaten mit ihren Schulden mittelfristig brauchen, ist eine – ebenso maßvolle – Inflation auf Kosten der Sparer und Konsumenten. Was man hoffen kann: dass bei dem allen wenigstens das Wirtschaftswachstum gering bleibt. Das erhöht nämlich immerhin die Chance, dass die Kyoto-Nachfolge-Ziele nicht so maßlos unterschritten werden wie bisher die in Kyoto vereinbarten.

Es gibt, wie gesagt, nur eine Möglichkeit, die Krise nicht zu bezahlen: wo immer es möglich ist, aus dem Lohnarbeits-Nexus auszusteigen. Der Rest ist gesellschaftliche Aktivität, die sich den staatlichen Vorgaben entzieht.

Anmerkungen

  1. Es ist sinnvoll, hier von einer neuen „Produktionsweise“ zu sprechen, auch wenn sich der Übergang vom Fordismus (so wie seinerzeit der vom liberalen Industriekapitalismus zum Fordismus) innerhalb einer kapitalistischen Grundstruktur abgespielt hat. Zwischen diesen drei Phasen unterscheiden sich die maßgeblichen Strategien der Kapitalreproduktion grundsätzlich und mit allen weitreichenden Folgen für Arbeitsmoral, Herrschaftsregime, Klassenpolitik und Kultur/Wissen. (Monopolisierung und Organisierung sind übrigens Dynamiken, die in jeder dieser drei Varianten wirken. Daher ist eine eigene Variante „Monopolkapitalismus“ oder „Organisierter Kapitalismus“ entbehrlich.) Im Gegensatz dazu blieben etwa Konjunkturzyklen oder die kürzeren Phasen wie etwa Wiederaufbau nach 1945, durchgesetzter Fordismus plus Korporatismus („Modell Deutschland“) in den 1960ern („expansive“ Kapitalstrategie) und einsetzende Krise des Fordismus in den 1970ern („Intensivierung“) im Rahmen der fordistischen Grundstruktur. Zurück zur TextstelleDie Benennung der genannten drei großen Varianten von Kapitalismus, die wir bisher kennen, als neue „Produktionsweisen“ soll auf die historische Wandelbarkeit von Kapitalismus hinweisen und den etwas unfruchtbaren Nachweisen vorbeugen, dass es sich noch immer um Kapitalismus handle. Das ist geschenkt, erklärt aber nicht viel. Nützlich ist es vielmehr, die spezifischen Merkmale und Dynamiken der jeweiligen Variante von Kapitalismus angeben zu können, ohne dabei nach beliebigen Oberflächen-Merkmalen zu unterscheiden, wie es die Soziologie mit ihren zahlreichen (Risiko-, Multioptionen-, Erlebnis-, etc-) „Gesellschaften“ tut. Zurück zur Textstelle
  2. Wirtschaftspolitisch war der Faschismus und Nationalsozialismus in Europa mit seinen Rüstungs-Ausgaben Rechts-Keynesianismus, während der New Deal in den USA mit staatlichen Infrastruktur-Investitionen zunächst Links-Keynesianismus war. Später kamen auch dort Rüstungsausgaben hinzu. Beide Formen der staatlichen Generierung von Löhnen sollen zum Kauf von anderen als den damit erzeugten Gütern (sofern man Waffen als „Gut“ bezeichnen kann) führen und damit auch die Industrie stützen, die Waren des Massenkonsums erzeugt. Beide funktionieren unter den Voraussetzungen einer Produktionsweise des Fordismus. Zurück zur Textstelle
  3. Ich vermeide absichtlich das Wort „Weltwirtschaftskrise“: Warum ein Rückgang des Wachstums des kapitalistisch organisierten Sektors der Wirtschaft eine „Krise“ sein soll und nicht ein Glück für die Welt ist, müsste uns erst noch erklärt werden. Zurück zur Textstelle
  4. Das krasse Beispiel sind derzeit die Automobilbauer, die nach ihren eigenen Maßstäben schlecht gewirtschaftet haben und deren Produkt für ziemlich viel Unheil von der Zerstörung der Städte und der Zersiedelung der Landschaft über Millionen Tote und Verletzte bis zu Umwelt- und Klimaschäden verschiedener Art verantwortlich sind. Wenn in der Krise die Nachfrage zumindest nach kleinen und weniger umweltschädlichen Automobilen entsteht, wäre das eine Chance für einen wenigstens bescheidenen Neubeginn – die wahrscheinlich vertan wird, indem man den bestehenden Konzernen im Namen der Rettung von Arbeitsplätzen Milliarden nachwirft. (Abgesehen davon ist die Wahrscheinlichkeit gut, dass damit die Pleite oder zumindest die Reduktion ohnehin nicht abgewendet werden kann.) Zurück zur Textstelle
  5. In der Stadt ist ein zentraler Punkt das private Automobil, das nach dem Wohnen (und in jungen Jahren noch davor) die größten Summen verschlingt und dessen Attraktion bis Notwendigkeit angesichts der Zustände auf den Straßen durch einen guten öffentlichen Transport dort leicht zu überbieten sein müsste. Zurück zur Textstelle
  6. Zur Finanzierung ist ein Steuer- und Abgaben-System notwendig, das von der Besteuerung der Lohnarbeit abrückt und eher Besitzsteuern und Verbrauchs/Benützungsabgaben vorsieht. Zurück zur Textstelle
© links-netz April 2009