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Kulturindustrie Übersicht

 

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Entwicklungen eines kritischen Kulturbegriffs

Zur Umschreibung eines Schwerpunkts „Kulturindustrie“

Heinz Steinert

Im deutschsprachigen Bereich hat sich – in den Jugendsubkulturen – eine Trennung von Polit- und Kultur-Linken etabliert, die sich gegenseitig kaum und wenn, dann nicht nur mit Wohlwollen zur Kenntnis nehmen. Traditionell gelten Kultur-Intellektuelle ohnehin als konservativ. Aber bei der gegenwärtigen Modernisierungspolitik ist nicht mehr ganz leicht auszumachen, was links und was rechts ist. Konservative sind im Kultur- und Wissenschaftsbereich nicht immer ungeeignete Koalitionspartner. Jenseits solcher Ressentiments und „falscher” Bündnispartner gibt es einige theoretische Traditionen, mit denen ein kritischer Kulturbegriff entwickelt und aktualisiert werden kann: Cultural Studies und Kritische Theorie.

I/ Was macht den Gegenstand „Kultur” interessant?

Das Besondere und Interessante am Gegenstandsbereich der angelsächsischen Cultural Studies ist die Zusammenführung von Subkulturforschung und Medienforschung unter dem theoretischen Aspekt einer (widersprüchlichen) Einbettung der so weit verstandenen „Kultur” in der Produktionsweise und im politischen Regime. „Kultur” meint daher einerseits positionsgebundene Lebensweisen, die in unterschiedlicher Weise mit Gegebenheiten und Entwicklungen der Produktionsweise verbunden sind, sich mit ihnen arrangieren, sie benützen und sich gegen sie wehren. „Kultur” meint zugleich die Kulturprodukte im traditionellen Verständnis, und zwar die der Hochkultur ebenso wie die der sogenannten Populärkultur, und ihre Verbindungen mit den Lebensweisen. Das alles wird grundsätzlich unter einem Aspekt von Konflikt und Herrschaft gesehen und enthält damit besonders die Fragen des Zusammenlebens in Verschiedenheit, des (inner- wie zwischengesellschaftlichen) „Kulturimperialismus” ebenso wie der „multikulturellen Gesellschaft”.

Das Interessante daran ist, dass damit noch einmal der Versuch gemacht wurde, einen gesellschafts- und befreiungstheoretischen Rahmen für die Gegebenheiten des zweiten Teils des 20. Jahrhunderts zu entwickeln und ihn mit empirischen Forschungen in Kontakt zu halten. Dieser theoretische Rahmen war die unorthodox erweiterte grundsätzlich Marxsche Theorie der britischen Sozialhistoriker wie E. P. Thompson und Raymond Williams – Marx erweitet um Aspekte von Lernen im Widerstand, Subkultur und Lebensweise als Solidaritätskerne und Folien von Erfahrung, Ernstnehmen der politischen Erfahrungen des Alltags, Berücksichtigung von Kulturprodukten als Ausdruck und Verfestigung von Erfahrungen. Später, bei Stuart Hall, artikulierte sich das als Neo-Gramsci.

Von Horkheimer und Adorno wurde einiges früher „Kulturindustrie“ als grundlegender Vergesellschaftungsmodus reflektiert. Hier ist der Fokus ein anderer. Hier geht es um die zunehmende Verhinderung von Erfahrung, um die Analyse von intellektuellen Produktionen, die der Herrschaft des Marktes unterworfen werden. Wir haben es mit „Warenförmigkeit“ zu tun, mit intellektuellen Erzeugnissen, die nach den Imperativen von Verkäuflichkeit produziert werden und nicht zuerst der Kritik und Aufklärung verpflichtet sind, ohne dass deshalb Widersprüche, Ungleichzeitigkeiten, Differenzierungen, die sich aus der Produktionsweise und den damit verbundenen sozialen Positionen ergeben, verschwunden wären.

Analysen unter dem Aspekt von Kultur können an der Tatsache von Kulturindustrie nicht vorbei und auch daran nicht, dass das Nachdenken, Forschen und Reden über Gesellschaft und Staat ebenfalls unter den Bedingungen dieser Kulturindustrie stattfindet. Dabei kann man beruhigt davon ausgehen, dass die seit der Beschreibung durch Adorno „erweiterte” Kulturindustrie heute nicht mehr „manipuliert”, also Information über eine äußere Wirklichkeit verfälscht, vielmehr konstituiert sie eine eigene Wirklichkeit, die durch den Bezug auf eine „eigentliche“ Wirklichkeit außerhalb nicht zu verstehen und auch nicht zu kritisieren ist.

Vielmehr geht es darum, Kulturindustrie als Konflikte um die Produktionsbedingungen von Wirklichkeit zu analysieren. Es ist die gebildete Klasse, die einen privilegierten Zugang zu diesen kulturindustriellen Produktionsmitteln hat (und braucht) und ihre „Weltsicht“ zur öffentlichen Meinung verallgemeinern kann. Diese gebildete Klasse ist aber zugleich fraktioniert und arbeitet unter scharfen Konkurrenzen. Die Gebildeten kämpfen um öffentliche Aufmerksamkeit und instrumentalisieren sich dafür gegenseitig: Journalisten und Politiker sind das evidente Beispiel für gegenseitige Verachtung bei gleichzeitigem Aufeinander-angewiesen-Sein. Öffentliche Groß-Politik organisiert sich unter diesen Bedingungen nach Imperativen von Kulturindustrie: Es geht um Außergewöhnliches und Sensationelles, um großartige Inszenierungen und gute Unterhaltung. Die Erfahrung, die Produzenten und Konsumenten machen, ist eine mit Kulturindustrie und keine mit der Sache. Das Produkt ist nicht Wirklichkeits-Verfälschung sondern Wirklichkeits-Ersatz und damit –Entzug.

Zugleich gibt es keinen Bereich (mehr), der unabhängig von Kulturindustrie bleiben könnte – auch nicht Wissenschaft, Politik und Kunst. Man kann sich nicht entziehen, man kann im besten Fall das Beteiligtsein aller Akteure reflektieren.

II/ Kultur und Politik

Es lässt sich vermuten, dass die Cultural Studies in Großbritannien ursprünglich (in den 60er Jahren) plausibel waren und sich entwickeln konnten, weil es dort noch eine Arbeiterkultur gab, die seither wirtschaftlich und politisch aufgelöst und zerstört wurde. Die gewisse Stagnation der britischen Cultural Studies entspricht diesem realen Verlust ihres ursprünglichen Gegenstands. Das würde zugleich erklären, warum Cultural Studies in den USA, wo Arbeiterkultur immer nur eine marginale Rolle gespielt hat, von vornherein ganz anders aufgefasst und eingerichtet wurden. Vor allem in der großflächigen Übernahme in den Universitäten blieb im Extrem nicht mehr davon übrig als die Freude daran, sich mit den faszinierenden Erscheinungsformen der jeweiligen Jugend- und Pop-Kultur beschäftigen zu können. Aber auch in Großbritannien selbst haben sich die Arbeiten polarisiert einerseits zu dem, was man als „Kultur-Populismus” kritisieren kann, einem freudigen Aufspüren von „populärer” Widerständigkeit ohne genauen sozialen Ort, damit ohne Grundlage und ohne Folgen, andererseits zu der Beschreibung und Analyse der (seit den Erfolgen Thatchers in Großbritannien früher und dramatischer als in Deutschland sichtbaren) konservativen Hegemonie in einem „autoritären Populismus”, dem „populärer” Konsumismus, Sexismus und Rassismus entspricht. (Inzwischen hat sich Stuart Hall zurückgezogen und das CCCS in Birmingham wurde eingestellt.)

In Deutschland haben die Cultural Studies zunächst keine besondere Resonanz gefunden (sie werden jetzt – verspätet – nachgestellt): Hier wurde Arbeiterkultur spätestens im Nationalsozialismus aufgelöst. In der Studentenbewegung wurde Orientierung der Intellektuellen an der Arbeiterklasse nur mehr als Farce nachgespielt. Ansonsten konnte damals klar die Erfahrung des „Arbeiter-Autoritarismus” und der Intellektuellenfeindlichkeit der Arbeiterschaft gemacht werden. Die Kritische Theorie ist nicht zuletzt deshalb plausibel, weil in ihr Hoffnungen auf irgendeine befreiende Rolle des Proletariats längst und gründlich aufgegeben wurden – und weil das auch theoretisch und empirisch begründet werden konnte.

Heute haben wir es mit einer Situation zu tun, in der die größer und bedeutender gewordene Schicht der gut Ausgebildeten und Dienstleister/Professionellen einer zunehmend abgewerteten weniger gebildeten Klasse gegenübersteht; in der diese Gebildeten auch ihre eigene politische Organisation gefunden haben, nämlich die Grünen (und sich ansonsten unorganisiert ganz gut politisch artikulieren können – in Medien, als Experten, in Initiativen aller Art). Die weniger Gebildeten wehren sich gegen den Bedeutungsverlust und die Abwertung durch „rechtsradikales” Reden und Handeln und werden, wo Boulevard-Medien das nützen und wo geeignete „Führer” auftreten, populistisch mobilisiert und organisiert.

Man kann sich daher immer noch mit den Widerspruchs-Erfahrungen in Proletariat und Sub-Proletariat beschäftigen, aber offensichtlich sind weder die Ansätze zu Widerstand und Befreiung, noch die zur Gestaltung und Organisation der Zukunft überhaupt dort beheimatet. Zumindest die organisierte Arbeiterschaft ist zu einer konservativen Schicht geworden. Auch sonst sind die Bewegungen, die sich noch artikulieren, wie die Frauenbewegung oder die Ökologiebewegung, ambivalent, in sich widersprüchlich: in Teilen immer auch konservativ, punitiv, tendenziell autoritär. Es ist also weder als Denk-, noch als Forschungsstrategie plausibel, sich auf die Arbeiter oder die Frauen oder auftretende „Bewegungen” (ihrerseits häufig auch Medienprodukte) als Träger möglicher emanzipativer Impulse zu konzentrieren. Die Suche nach dem Subjekt der Befreiung tritt zurück zugunsten der Analyse der Widersprüche, egal von wem sie artikuliert werden (oder nicht).

Es muss grundsätzlich neu angesetzt werden: Widerspruchs-Erfahrungen, Solidaritäten und Initiativen sind in allen sozialen Positionen zu vermuten und interessant zu beschreiben. Zugleich wird die Kritik der Mächtigen und Einflussreichen wichtiger als die Suche nach der „populären” Widerständigkeit. Diese ist vielmehr als der Versuch (oder auch nur als der Traum) einer bestimmten Intellektuellenschicht zu verstehen, die unteren Klassen mögen (gewaltsam oder durch ihre große Zahl) die gesellschaftlichen Veränderungen erzwingen, die jene sich wünschen – und vor allem in ihrem Kampf gegen das Wirtschaftsbürgertum auf ihrer Seite sein. Historisch hat in den europäischen Arbeiterbewegungen diese Koalition von Arbeiterschaft und Gebildeten immer wieder stattgefunden, derzeit gelingt sie nicht mehr. Die Gebildeten sind aber auch nicht mehr auf sie angewiesen, haben vielmehr eigene, andere Politikformen entwickelt.

In dieser hier nur angedeuteten gesellschaftlichen und politischen Konstellation bekommt „Kultur” einen besonderen Stellenwert: Sie ist in ihren verschiedenen Erscheinungsformen das Terrain, auf dem die Konflikte ausgetragen werden, und als „Unterhaltung” die Entwertung aller Erfahrungen wie aller gebildeten Einsichten. Was von Adorno als „Kulturindustrie” beschrieben wurde, hat sich in erweitertem Maßstab immer weiter verwirklicht und trifft besonders die Gebildeten, die für sie produzieren, von ihr leben – aber auch „Informationen” und „Orientierungen” von ihr brauchen würden.

Zugleich werden die Reste dessen, was als „bürgerliche Rationalität” auf Wissenschaft, Kunst, Öffentlichkeit, Kritik beruhte, von der Kulturindustrie – die übrigens ihrerseits von Gebildeten betrieben und in Gang gehalten wird – aufgesaugt und umgebildet. Der Sensationszwang spaltet die öffentlichen Mitteilungen in apokalyptisch / moralisierende und unterhaltende (und natürlich ist auch die Bußpredigt unterhaltend, ebenso wie die moralische Empörung über Gewalt, Pornographie, Misshandlung – de facto also die Handlungen von Unterschicht-Männern). Kulturindustriell vermittelt kommt Vernunft, Kunst, Individualität auch den Gebildeten abhanden, mutieren die Reste von Bürgerlichkeit zu einem selbst-inszenierten „Scheinbürgertum”. Die Respektlosigkeit der unteren Schichten der so präsentierten Kultur gegenüber mag noch Elemente von Kritik daran retten.

III/ Hegemonie

Kulturinterpretationen sind immer Studien von Kulturverhältnissen, also von Beziehungen der Überlagerung, der Abwertung, der Selbstbehauptung, der Benützung, der Abschottung, etc. Es gibt immer viele Kulturen gleichzeitig, die sich entweder voneinander trennen oder aufeinander reagieren müssen. „Kultur” ist also ein Bereich, in dem um Bedeutungen und um Hegemonie gekämpft wird – und das nicht nur als Abwehr einer „herrschenden Kultur” (in Form von Subkulturen der Unterdrückten und Ausgeschlossenen) sondern auch und in erster Linie in Form von Differenzierungs- und Distinktionsbemühungen sowie wirtschaftlichen und politischen Manövern der mächtigen und einflussreichen Klassen der Gesellschaft. Kulturelle Selbstverständlichkeiten und Praktiken werden so als Bearbeitungen aktueller Lebensbedingungen und als Bewältigung der zentralen Probleme des Lebens gefasst. „Kultur” benennt eher das Tun von Leuten als ihr Sein.

Soziale Ungleichheit ist zunächst und grundlegend die strukturierte unterschiedliche Verfügung über gesellschaftliche Ressourcen, bei uns die unterschiedliche Möglichkeit, an gesellschaftlich Produziertem zu partizipieren, es sich anzueignen. Sie ist aber auch und damit verbunden kulturelle Verschiedenheit, Unterschiedlichkeit der Praktiken der Lebensführung. Die Positionen der sozialen Ungleichheit können nicht nur als eine Hierarchie der Privilegien und Nachteile beschrieben werden, sie sind auch Orte unterschiedlicher Lebensweisen. Selbstverständlich gehören dazu auch die Subkulturen der Privilegierten und die Kritik der Herrschafts-Positionen.

Die gesellschaftlichen Erfahrungen in verschiedenen Positionen sind interessant. Das schließt auch an die klassische Annahme an, dass Potentiale zu Widerstand und Befreiung auf Erfahrungen aus der Arbeit an den Gegenständen der Welt entstehen können. Herrschaft ist zugleich die Verhinderung solcher Erfahrung und damit möglicher Selbständigkeit. In der Kritischen Theorie wird davon ausgegangen, dass eine verherrschaftete (Lohn)Arbeitsorganisation dort keine Erfahrung in diesem emphatischen Sinn mehr zulässt. Dasselbe bewerkstelligt die Kulturindustrie in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.

Fragen zur Hegemonie, Abschottung oder sonstigen Konstitution einer bestimmten Kultur und Subkultur verbinden sich mit der nach der Selbstkonstitution der Akteure. Das gilt historisch für die Herausbildung überhaupt des „Individuums” im klassischen wie im heutigen Verständnis und jeweils auch für die damit gegebenen Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Solidarisierung (und damit der „Subjektwerdung” im politischen Sinn). Gegenwärtig werden Hegemoniefragen unter dem Schlagwort Wissensgesellschaft verhandelt.

Die Wissensgesellschaft beruht auf einer Offensive der gebildeten Klasse: Sie schiebt sich zwischen die Herrschenden und die Beherrschten. In der heutigen Situation sind es diese Gebildeten, die mit ihren Theorien (zur Zeit ein forcierter Ökonomismus und Markt-Populismus) um Anerkennung ringen und werben und sie auch hinreichend bekommen. Sie haben sich durchgesetzt. Mit der „Wissensgesellschaft” hat sich Kulturindustrie verallgemeinert: Warenförmigkeit von Kulturprodukten ist selbstbewusst vorgetragenes Hoffnungsgebiet der wirtschaftlichen Entwicklung geworden. Was ein mit Unbehagen kritisch beobachtetes und begrenztes Phänomen war, wird zumindest als Quelle von Einkommen, wenn nicht als Lösung vieler Probleme propagiert. Indem die Produktion „immateriell” wird, entsteht nicht nur ungeahnte Wertschöpfung im Bereich von Beratung und Diensten, es wird zugleich die Welt alle Grenzen überschreitend kommunikativ „vernetzt”.

Körperliche Arbeit und die ihr zugeordnete große Industrie wird für unbeachtlich bis bedenklich erklärt. Stattdessen liege die Zukunft in der Wissens-Ökonomie. Die Evidenz dafür wurde in der Schließung von Kohlebergwerken und Stahlschmelzen, im Untergang der westeuropäischen Schwerindustrie überzeugend geboten. Nach dem anfänglichen Schock (der in GB bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen einschloss) wurde in den Kohlerevieren – mit mehr oder weniger Erfolg – auf Medien- und Computer-Arbeit umgestellt. Als es schließlich wieder „blauen Himmel über dem Ruhrgebiet” gab, war die auch ökologische Überlegenheit der Wissensgesellschaft unter Beweis gestellt. Der wirtschaftliche und politische Untergang der kommunistischen Arbeiter- und Bauernstaaten deutete in dieselbe Richtung: Nach der industriellen Gesellschaft kommt die Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft.

Eine Suggestion des Begriffs „Wissensgesellschaft” – und häufig auch explizite Ableitung aus ihm – ist, dass alle jetzt umfassendes und jedenfalls viel mehr Wissen haben müssten. Tatsächlich ist die Wissensgesellschaft aber eine Gesellschaft des enteigneten Wissens: Sie funktioniert darüber, dass Experten für alles und jedes den anderen klar machen, wie notwendig sie ihre Beratung in allem und jedem brauchen. Die Verkäuflichkeit dieser Beratung hängt genau davon ab, dass die anderen wissen, dass sie nicht wissen. Ihr wichtigster Rohstoff ist nicht, wie behauptet wird, Wissen und Information, sondern das Bewusstsein ihres Fehlens.

Kulturindustrie ist der Apparat, mit dem die gebildete Klasse ihre Hegemonie-Ansprüche durchsetzt. In diesem Vorgang wird Wissen zur Ware, zu nach Kriterien der Verkäuflichkeit produzierten Merksätzen und (komplizierten) Gebrauchsanweisungen.

IV/ Kritik der Kulturindustrie:
eine Einladung zur Mitarbeit (neudeutsch: call for papers)

Kulturindustrie als Vergesellschaftungsmodus beschreibt den Bereich, in dem Gesellschaft reproduziert wird. Hier werden die zentralen Dimensionen, mit denen Gesellschaft strukturiert wird, verhandelt und selbstverständlich gemacht: das Klassen-, das Geschlechter-, das Generationen- und das Naturverhältnis in den jeweils historischen Ausprägungen und Anforderungen.

Wie aus dem Gesagten ersichtlich wird, beschreibt Kritik der Kulturindustrie eine Gesellschaftsanalyse, die die sozialen Positionen der gebildeten Klasse und ihre Produktionen in den Mittelpunkt stellt. Kritik der Kulturindustrie bezeichnet somit nicht, wie häufige und interessierte Missverständnisse des Begriffs das behaupten, einen Gegenstand, etwa Medien oder Massenkultur. Vielmehr ist damit eine Perspektive auf alle Arten von öffentlichen Äußerungen benannt. Einige konkrete Vorschläge für Themen von Beiträgen, die wir uns wünschen würden, sollen das verdeutlichen:

In diesem Kontext sind alle Formen von politischen Narrationen interessant (Interpretationen von Wahl- und anderen Plakaten, Reden und Programmen, Umfragen und den verschiedenen von Politikern verfassten Büchern). Dazu gehört ganz wesentlich, wie politische Zugehörigkeit hergestellt wird und damit alle Formen von Rassismus und Anti-Semitismus, aber auch die vermeintlichen Gegenstücke wie Exotismus und Philo-Semitismus. Kulturindustrielle Politik organisiert „das Volk“ nach großen Kategorien – die Deutschen, die anständigen Deutschen, die Demokraten, die neue Mitte, die Leistungsträger – statt nach Interessen und produziert damit soziale Ausschließung – die Links- und Rechtsradikalen, Fundamentalisten, Modernisierungsverlierer, Ausländer, (Schein)Asylanten, Sozialschmarotzer. Die verschiedenen Anlässe, die sich eignen, um die Anstrengungen, die unternommen werden, um „die Leute“ immer wieder dazu zu bringen, sich einem Großen & Ganzen unterzuordnen, sind ein Kernstück solcher Kulturindustrie-Analysen. Welche Ereignisse sind dafür geeignet, eine „populistische Situation“ zu definieren?

Mit dem Ab- und Umbau des Wohlfahrtsstaats haben sich Debatten darüber verschärft, wer auf Kosten anderer lebt: „Sozialschmarotzer“ gibt es schon lange, jetzt kommen die vielen „Alten“ dazu, die auf Kosten der wenigen „Jungen“ leben, die produktiv sind, und die kinderlosen Singles, die es sich auf Kosten der Familien gut gehen lassen. Dass die „Doppelverdiener“ wieder aus der Mode sind, weist auf Veränderungen im Geschlechterverhältnis hin. Ein umfassender Überblick über diese Topoi wäre wünschenswert. Debatten über den Wohlfahrtsstaat sind immer auch Debatten über das Patriarchat: damit über das Geschlechter- und das Generationenverhältnis. Mit der Entwertung von Erfahrung und Routine zugunsten von Dynamik, Flexibilität und Kreativität, oder wie die Zauberwörter sonst alle heißen, wird auch der (gute) Patriarch bekämpft. Die Jungen beanspruchen, dass ihnen die Welt gehöre.

Auch Lebenstil-Phänomene (die merkwürdigen Sitten und Gebräuche der Eingeborenen) und wie sie wirtschaftlich bedient werden, besonders die der gebildeten Klasse und der gesellschaftlichen Eliten, sind unter Bedingungen von Kulturindustrie ein zentraler Gegenstand. Dazu gehören auch kulturelle Vorlieben und wie sich die Gebildeten mit ihren kulturellen Praktiken distinguiert von den unteren Klassen abheben, damit alles, was mit der Trennung von Hand- und Kopfarbeit zu tun hat und wie sich die Verachtung ersterer manifestiert. „Wissensgesellschaft“ ist weit über die Sozialwissenschaften hinaus populär geworden. Für die Betreiber von Kulturindustrie ist sie eine plausible Gesellschaftsdiagnose. Wann immer wir darüber lesen, lesen wir auch über die „anderen“, die „Unwissenden“, die abgehängt werden dürfen, nichts zum Reichtum einer Gesellschaft beitragen, „überflüssig“ sind. Nach dem Crash der New Economy und der mit jeder Prognose der „Wirtschafts-Weisen“ schwächer werdenden Konjunktur sind es freilich zugleich die bis dato chicen Wissensarbeiter – Werber, Berater, Kulturmanager, Internet-Designer, Journalisten –, die „die Krise“ ausrufen. Die damit verbundenen Privatisierungen führen einerseits zu einem erneuten kulturindustriellen Schub. Andererseits wird man darauf aufmerksam sein, ob Diagnosen wie „Wissensgesellschaft“ damit an Plausibilität verlieren.

Gegenwärtig zeichnet sich eine Hegemonie des betriebswirtschaftlichen Denkens ab. Das beginnt mit der völlig selbstverständlichen Verwendung von Wörtern wie „Deutschland AG“, zeigt sich in den Transformationen von öffentlicher Infrastruktur wie Bundesbahn, Kindergärten, Universitäten und sonstigen Kultur-Einrichtungen. Auch die Allgegenwart von Beratung (von der Einkaufs- über Beziehungs- bis zur Finanz- und Karriere-Beratung) unterstellt die Unterwerfung des Lebens unter ein ökonomisches Kalkül. Individualität bedeutet dieser Tage die Kompetenz zu permanenter Selbstdarstellung, -disziplinierung und -instrumentalisierung. Analysen von Berater-Literatur sind ein geeignetes Material, um herauszufinden, welche Art von Arbeitskraft neoliberal benötigt wird.

Lebensmittel- und Kosmetik-Industrie, Medizin und Pharma-Industrie sind Beispiele, an denen sich die herrschenden Vorstellungen von „guter“ und „böser“ Natur studieren lassen. In den Popularisierungen werden auch hier Normen von Gesundheit und Aussehen verhandelt, die gesellschaftlich erwünscht sind. In Werbung und populär-naturwissenschaftlichen Zeitschriften lassen sich Bilder von freundlicher und brutaler Natur leicht ausfindig machen und interpretieren. Die Tourismusbranche arbeitet mit Natur-Sentimentalitäten (und besonders in der gehobenen Variante auch mit Skandalisierungen, wie Natur-Paradiese zerstört würden), für Wirtschaft und Politik sind sie dagegen häufig ärgerlich, verzögern den Bau von früher Atomkraftwerken, jetzt Transrapid-Strecken. Für populistische Politik sind es Naturkatastrophen, die gebraucht werden, die für Politiker geeignet sind, sich als Macher und Helfer darzustellen.

Was früher das Kirchenjahr war, ist inzwischen das Kulturindustrie-Jahr. Kulturindustrie strukturiert den Alltag und die außergewöhnlichen biographischen Ereignisse – von der daily soap und den Nachrichten bis zu Festivitäten wie Hochzeiten und Jahrestagen, die zu begehen sind: außergewöhnliche Ereignisse wie der 9/11 oder Geburts- und Todestage von Personen des öffentlichen Lebens. Der kommende Adorno-Zirkus ist nur eines von vielen möglichen Beispielen, das in diesem Kontext interessant ist.

Es versteht sich von selbst, dass Interpretationen von Filmen und sonstigen Künsten zu diesem Themenbereich gehören. Auch Inhalts- und Form-Analysen von Medialem sind Teil davon, aber weder ausschließlich noch vorrangig. Wenn man Kulturindustrie als Vergesellschaftungsform ernst nimmt, wenn es der Bereich ist, in dem die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse reproduziert und stabilisiert werden, sind die verschiedenen Künste und Medien dahingehend zu befragen, welche stillschweigenden Selbstverständlichkeiten sich in ihnen ausdrücken und welche Befreiungspotentiale sie möglicherweise doch enthalten.

Für den Themenbereich ergibt sich damit insgesamt, dass öffentliches Wissen, kulturelle Produkte und Praktiken ideologiekritisch zu beschreiben sind – und das bedeutet immer noch, machbare Erfahrungen auf die sozialen Positionen, die sich aus der Produktionsweise ergeben, zu beziehen. Welche Politiken mit diesen Produkten und Praktiken verbunden sind, ist konstitutiver Teil derartiger Analysen.

© links-netz April 2003