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Der Angriff der Konzerne und der Reichen auf den Rest der Gesellschaft

Eine Neujahrs-Predigt

Heinz Steinert

Nach den offiziellen Statistiken leben wir in einer der reichsten Gesellschaften der Welt. Das bestätigen die nicht mehr vorstellbaren Summen, die von den europäischen Staaten auf Zuruf bereitgestellt werden können, wenn die Rettung von Banken vor dem Bankrott es erfordert. Das bestätigen auch die enormen Einkommen, die trotz Krise in der Finanzindustrie an Manager und Direktoren ausgezahlt werden.

Aber es gibt in diesem Europa zugleich viele, die hungern und frieren. Es werden Leute, die hier leben und arbeiten wollen, in die Kälte hinausgestellt oder eingesperrt. Es werden Obdachlose sich selbst und der privaten Mildtätigkeit überlassen. Es wird bedenkenlos gestraft und eingekerkert und zugleich selbst im Jugendgefängnis aus Personalmangel die angemessene Betreuung reduziert. Es werden Arme verdächtigt, sie seien Schmarotzer, und damit verhöhnt, sie seien eben untüchtig.

In den letzten Jahrzehnten konzentriert sich dieser Reichtum auf wenige. Die zunehmende Ungleichheit stößt uns nicht zu, sie ist Ergebnis einer aktiven Politik: Die Reichen setzen durch, dass sie subventioniert und von Beiträgen zur gesellschaftlichen Infrastruktur entlastet werden, zugleich werden Sozialleistungen gekürzt, Arbeitsverhältnisse prekarisiert und die "oben" ausgefallenen Staatseinnahmen weiter unten eingebracht. Die neue Unterschicht der Ausländer ist politisch rechtlos und wird – je nachdem, ob sie gebraucht werden und "brauchbar" sind – als Verschubmasse behandelt. Zwischen "einheimischen" und "fremden" Arbeitern, besonders aber Armen, wird Konkurrenz geschürt.

Diese reiche Gesellschaft ist erbarmungslos und bürokratisch, neiderfüllt, rücksichtslos und bösartig geworden. Die Reichen triumphieren und verachten die anderen als Versager. ("Loser" ist ein auch im Deutschen gängiges Schimpfwort geworden.) Die Jungen werden angetrieben, schon ab dem Kindergarten sich auf harte Konkurrenzfähigkeit vorzubereiten. Kindheit und Jugend als Phasen des Experimentierens und der Erfahrungen werden abgeschafft. Die Alten gelten als "zu viele" und überflüssig. Wer freundlich und solidarisch ist, gilt als schwach. Die Reichen schließen sich zusammen und isolieren sich vom Rest der Gesellschaft. Die dafür nötige "Sicherheit" wird mit viel Technik und billigem Personal laufend verstärkt.

Die neue politische Klasse gehört teilweise dieser geschlossenen Gesellschaft der Reichen an oder möchte dort zugehören. Manche davon verstehen ihre politische Tätigkeit ohnehin nur als Chance, sich an dem Teil des Volksvermögens, der staatlich verwaltet wird, persönlich zu bereichern. Die Ausgaben nur der letzten vier Jahre für die Bankenrettung machen deutlich, dass die Steuermittel als bequemer Polster verstanden werden, um die Verluste der Konzerne abzufedern. Die Mittel dafür muss die steuerzahlende Bevölkerung aufbringen. Zugleich wird bei der physischen und sozialen Infrastruktur eingespart.

Man muss die Reichen nicht zu sehr beneiden. Ihre Lebensweise ist kein Vorbild, das auf alle verallgemeinert werden sollte. Was in dieser Gesellschaft als Reichtum verstanden wird, ist die Anhäufung von Waren. Das Geld, um sie zu erwerben, müssen die einen durch unermüdliche Lohnarbeit, die anderen durch rastlose, nervenaufreibende Spekulation erwerben. Wie befriedigend kann ein Leben im Dienst der unendlichen Geldvermehrung ohne weiteren Sinn und Verstand sein – selbst wenn man sich anschließend eine Villa, eine Yacht und einen Hotelaufenthalt in St. Moritz kaufen kann? Wie viel sinnvoller ist eine Arbeit, deren Produkt einem selbst und anderen unmittelbar nützt, eine Arbeit, die von jemandem gebraucht wird. Dass viel gerade dieser notwendigen und nützlichen Arbeit gar kein Geld einbringt, verrät ein unterdrücktes Wissen dieser Gesellschaft davon, was tatsächlich "unbezahlbar" ist. Es ist höchste Zeit, unser Verständnis von Reichtum und von Arbeit realistisch zu verändern.

Sagt Amen dazu!

Notwendig ist das nicht zuletzt, weil die Produktion der Waren insgesamt mehr Schaden als Nutzen stiftet – durch Vergiftungen und Abfälle, durch Verbrauch von Ressourcen, die demnächst aufgebraucht sein werden, und durch schädliche Nebenprodukte, die neue Probleme schaffen. Diese Schäden wurden traditionell exportiert – zu den inländischen Armen und zu den Armen der Welt. Der Angriff der Konzerne und der Reichen auf den Rest der Gesellschaft(en) besteht nicht zuletzt darin, diese Möglichkeit des "Exports" erhalten zu wollen. Man soll sich nichts vormachen: Das gelingt den Reichen auch weitgehend. Sie können sich immer noch vor den Folgen der Plutonium- und der Dioxinindustrie, des Klimawandels – und auch des Unmuts in der Bevölkerung dieses Landes und anderer Weltgegenden schützen. Aber die Mittel werden rabiater.

Der Preis ist hoch: Konkurrenz und Ausgrenzung werden verschärft – oben wie unten. Es entsteht eine Gesellschaft, in der alle sich nicht wohlfühlen können und die wir so nicht an die kommenden Generationen weitergeben wollen. Der Gedanke, dass wir es – auf Kosten der Zukunft – gerade noch schaffen werden, ist nicht wirklich tröstlich. Viele wissen, dass das kein gutes Leben ist, und manche suchen nach anderen, besseren Lebensweisen. Es wäre Aufgabe von Politik, diese Suche zu unterstützen, alles zu fördern, was in eine neue Richtung weist. Es wäre aber auch Aufgabe der Reichen, Projekte zu ermöglichen, die helfen, die Schäden der herrschenden Lebensweise zu kompensieren und neue Lebensweisen zu entwickeln. In der Bevölkerung gibt es genügend Ansätze für Solidarität und Gegenwehr. Die Konzerne und die Reichen müssen dazu gebracht werden, von ihrem selbstsüchtigen Wirtschaften auf Kosten anderer abzulassen und ihre Verantwortung für die Gesellschaft wieder aufzunehmen.

So sagt Amen zu alledem!

© links-netz Dezember 2010