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Dokumente einer Begriffsverwirrung

Das Ausstellungsprojekt „Populism“ im Kunstverein Frankfurt1

Heinz Steinert

In der politischen Sprache, deren Verrottung Teil des Niedergangs von Demokratie ist, wie er von den Berufspolitikern gerade verschärft betrieben wird, laufen mindestens drei Begriffe von „Populismus“ undifferenziert um: „Populisten“ sind entweder 1/ „Freunde des kleinen Mannes“ oder 2/ Verführer, die „dem Volk“ zwecks Stimmenfang nach dem (als vertrottelt oder rechtsradikal unterstellten) Maul reden. In diesen beiden inhaltlich entgegengesetzten Begriffen ist immerhin in der Form klar und gemeinsam, dass „Populisten“ nur Berufspolitiker sein können. Verwirrenderweise gibt es dazu einen weiteren Begriff, in dem 3/ Volks-, genauer: Unterschicht-Bewegungen als „populistisch“ bezeichnet werden, die Forderungen im eigenen Interesse, also in dem der „kleinen Leute“ aufstellen.

„Populisten 2“ sind immer nur andere Politiker, die damit einen unterstellten Moral-Code unter Berufspolitikern verletzen, nach dem Politiker auch „unpopuläre Maßnahmen ergreifen“ müssen und dabei nicht irgendwelchen Stimmungen im Volk nachgeben oder ihnen gar hinterherlaufen und schon gar nicht sie anheizen dürfen. In dieser Bedeutung ist „Populist“ ein Kampfbegriff, der hierzulande von den etablierten Parteien verwendet wurde, um die rechtsradikalen Parteien zu entlegitimieren, der aber zu Zeiten auch auf die Grünen angewendet wurde. „Populisten 1“ zu sein, nehmen im Zweifel alle Parteien für sich in Anspruch, zumindest im Wahlkampf. „Populismus 3“ ist ein gedankenloser begrifflicher Unfug: Das Volk kann nicht volkstümlich sein, das sind immer nur Leute, die versuchen, es zu beschwören und bei ihm anzukommen. Wer seine eigenen Interessen vertritt, ist nicht „-tümlich“.

Alle drei Begriffe sind nicht besonders hilfreich, wenn konkrete Politik analysiert werden soll. Verwendbar ist erst ein Begriff, in dem der Kampf, der mit der Bezeichnung geführt wird, im Mittelpunkt steht: „Populismus“ ist eine Form von Politik, in der es um Stimmen-Maximierung durch Stimmungsmanagement geht. Der Hintergrund dafür ist, dass mit dem Vertreten eines spezifischen Interesses (etwa dem der Industriearbeiterschaft oder der Hausfrauen oder des Finanzkapitals) keine Mehrheiten zu gewinnen sind und dass Interessen-Koalitionen zu finden und herzustellen hohe politische Kunst ist, die ein (historisches) Ziel voraussetzt, das als Kompass für gute oder wenigstens erträgliche Kompromisse dient. Heutigen Berufspolitikern ist ein solcher Kompass noch nie in den Sinn gekommen, sie verstehen sich ohnehin als Technokraten oder bestenfalls Konfliktmanager. Dazu haben sie wenig Grund, sich die Mühsal des Erfindens von guten Kompromissen und Koalitionen anzutun (die freilich die eigentliche Existenzrechtfertigung für Berufspolitiker wäre), wenn ihnen PR- und Wahlkampf-Experten und -Berater ohnehin anbieten, den Wahlkampf ohne Rekurs auf die reale Politik und also „professionell“ zu managen. Man kann Populismus in diesem einzig brauchbaren Verständnis „Populismus b“ nennen.

Weil das so funktioniert, sind heute alle Berufspolitiker zu „Populisten“ in diesem Sinn geworden, ist unsere Politik „strukturell populistisch“. Sie hat sich dabei mit der Unterhaltungsindustrie fusioniert, in der es selbstbewusst um „Einschaltquoten“ geht – das dortige Äquivalent zu den Wahlstimmen. Die Techniken, Wahlstimmen und Einschaltquoten zu gewinnen, sind identisch.2

An dieser Stelle schließt sich das Kunst-Museum an, das bei uns erst in den letzten zwanzig Jahren von einer Anstalt der Kultur zu einem Massenmedium umgebaut wurde. (In den USA ist das schon viel länger so – übrigens auch in der Politik, die dort länger und radikaler „populistisch b“ ist.) Statt um Kunst geht es um Verkäuflichkeit, Sensation und Publikumsandrang. Man kann „Kulturindustrie“ auch mit dem Wort „Kultur-Populismus“ charakterisieren.

Insofern kann und soll sich auch ein Museum mit „Populismus“ beschäftigen.

Die Frankfurter Ausstellung3 tut das freilich nur mit einem Gag: dem Besucher-Zählwerk „Number of Visitors“ von der Gruppe Superflex über dem Eingang, das aufmerksam macht, wie sehr Ausstellungen unter das Diktat der Einschaltquote gezwungen werden. Weil es hier überdimensioniert und nachgebaut erscheint, können wir aufmerksam werden, dass die Besucherzählung, die ohnehin immer stattfindet, nicht selbstverständlich ist. Der Erkenntnisgewinn hält sich in Grenzen: Gibt es jemanden, der das noch nicht wusste? Was die Folgen sein mögen, darüber sagt diese Installation ohnehin nichts und pflegt also nichts als das Unbehagen an der Masse, das wir alle und Kunstfreunde besonders haben. (Als Strand-, Kaufhaus-, oder Museums-Besucher stören uns natürlich alle die anderen Strand-, Kaufhaus- und Museums-Besucher, die uns im Weg stehen, von der analogen Situation auf der Autobahn gar nicht zu reden.)

Danach werden wir in der Ausstellung mit anderen Bildern konfrontiert: einer Foto-Serie von öffentlichen Massen-Situationen, in denen einzelne unangenehm auffallen, etwa weil sie ihren Kampfhund dabeihaben, besoffen sind oder den nackten Arsch zeigen; einer Foto-Serie über die Tristesse einer Plattenbau-Siedlung; einer Serie von naiven Zeichnungen über den Konformismus von Eigenheim- wie anderen Wohn-Siedlungen; vielen Bildern und einem Video von einem look-alike-contest in USA; einem Environment, in dem wir von Lärm und rasenden Kameraschwenks über eine Massensituation, sieht aus wie Carneval in Rio, überfordert werden und nur schnell flüchten wollen; einem Video von hilflosen und lächerlichen Karaoke-Auftritten; einem Video über Texas und seine Redneck-Bewohner; einem Video mit sadistischen Sex-Spielen von Personen mit Soldatenhelmen, das man nicht länger ansehen mag, als bis man erkannt hat, worum es sich handelt; diversen Videos, die zu lang sind, um auch nur eines davon komplett anzusehen,4 und in denen es auffallend oft um Demos und Straßenkämpfe, gegengeschnitten mit privaten Szenen geht; und einigem mehr, das sich ähnlich einordnen lässt. Hier werden uns einfache Leute und besonders ihr massenhaftes Auftreten und ihre seltsamen Gebräuche als unangenehm, grotesk, lächerlich, in Summe: ziemlich widerlich vorgeführt.

Durch die „künstlerische“ Außensicht, die der des Kunst-Publikums entspricht, stehen wir immer gegenüber, sind überlegen und gehören sicher nicht dazu. In etwa achtzig Prozent der Ausstellung wird schlicht Kunst als Elitismus und Volksverachtung gepflegt (nicht etwa vorgeführt). Im Überblick wird einem immerhin deutlich, wie lächerlich elitär viele Künstler in der Welt zu stehen scheinen, mit welchen Banal-Einsichten sie glauben, sich über die anderen erheben zu können, wie sehr der „Kunst“-Anspruch immer noch dazu dient, durchschnittliche Äußerungen von durchschnittlich spätpubertärem Weltschmerz zur Beachtlichkeit zu überhöhen. Überwiegend denken junge Künstler, ihre Kuratoren und ihr Publikum bei „Populismus“ in einer Variante von „Populismus 3“ etwas wie: diese blöden Rechten, diese blöden Spießer, diese blöden Vielzuvielen.

Die Begriffsverwirrung hat eine wesentliche Wurzel in der Volksverachtung der Gebildeten, die das Wort „Populismus“ zur Verurteilung der anderen Gebildeten verwenden, die diese Volksverachtung entweder tatsächlich nicht teilen oder aber mit der Behauptung, sie seien „Freunde des kleinen Mannes“, dessen Anhängerschaft in Form von Wahlstimmen, Einschaltquoten oder anderen massenhaften Konsum-Akten gewinnen wollen. „Populismus“ als Kampfbegriff ist die gegenseitige Verpflichtung der Gebildeten auf diese gemeinsame Distanz zum „Volk“, ist die gegenseitige Verpflichtung innerhalb der politischen Klasse, in der Werbung um Anhängerschaft und Wahlstimmen die Grenzen der vorrangigen Solidarität innerhalb der Klasse nicht zu überschreiten. Der Großteil der in dieser Ausstellung unter „Populismus“ versammelten Arbeiten führt genau diese Volksverachtung vor und bietet den Betrachtern Gelegenheit, in diese Gemeinsamkeit der gebildeten Klasse einzutreten.

Umso erfreulicher fallen die wenigen Ausnahmen auf: das Projekt „Reading Capital“ von Milica Tomic, das Video „Economic Primate“ von Julika Rudelius, die Gewehr-Verkaufs-Aktion „ID Sniper“ von Jakob S. Boeskov und vielleicht noch das Video „Zilgit“ von Fatma Akinçi und die „Images for ‚Breaking the Waves’“ von Per Kirkeby. Freilich haben sie mit „Populismus“ in jedem denkbaren (Miss-)Verständnis nichts zu tun. Bei den ersten drei handelt es sich um interessant subversive Aktionen, in denen Mitglieder der herrschenden Klasse vorgeführt werden. Die beiden zuletzt genannten produzieren Bilder der Einsamkeit von einiger Eindringlichkeit, denen man vielleicht Nähe zum Kitsch nachsagen kann – seit mindestens fünfzig Jahren ein Thema, mit dem die gebildete Klasse spielt.

„Zilgit“ ist ein Schrei der kurdischen Frauen, analog dem alpinen Jodler, den die Alpin-Pop-Gruppe „Broadlahn“ im Begleittext zu einer ihrer CDs definiert hat als: „Ruf nach dem Menschen in einer menschenleeren Gegend“. Er wird auf einem kurzen (etwa 90 sec) Video, das in Endlos-Schleife läuft, von der Künstlerin über eine im Tal liegende, ziemlich tote Stadt ausgestoßen. In dieser Ausstellung wirkt er noch besonders, weil er einen in seiner Hoffnungslosigkeit in dem ganzen Saal verfolgt, auch wenn man sich mit anderen Exponaten beschäftigt.

„Reading Capital“ zeigt – durch Kleidung, Frisur, Hintergrund ausgewiesene – Oberschicht-Personen (der Begleittext informiert uns: aus San Antonio, Texas), die ausdrucksvoll und mit ernstem Gesichtsausdruck Passagen aus dem „Kapital“ von Karl Marx vortragen, ziemlich technische Passagen aus der Wertlehre übrigens, keine flammenden Aufrufe à la „Manifest“, aber Worte wie „Ausbeutung“ oder „Herrschaft“ kommen immerhin vor, die auch nicht zum Standard-Vokabular dieser Leute gehören dürften. Der irritierende, komische Widerspruch ist, dass diese aufgeputzten, biederen, offensichtlich Reichen (einer ist nach der Bücherwand im Hintergrund Jurist) mit großem Ernst philosophische Texte vortragen, die sie wahrscheinlich nicht verstehen und die sie nicht vortragen würden, verstünden sie, was sie da sagen. Der Spaß für den Betrachter besteht darin, sich verschiedene Möglichkeiten auszumalen, wie diese Leute zum Mitmachen gebracht wurden: Kunstglauben und Mediengeilheit sind dafür in jedem Fall unerlässlich.

Julika Rudelius führt auf einer in der Mitte geteilten Leinwand in einer Endlosschleife von etwa zwanzig Minuten hintereinander fünf reiche Männer vor, die in der jeweils identischen Bürolandschaft zwischen (ziemlich leerem) Schreibtisch und Fenster mit Aussicht auf Bürogebäude darüber monologisieren, warum ihr Reichtum ebenso verdient ist wie die Armut anderer Leute, wie tüchtig und hart man sein muss, um reich zu werden und zu bleiben und warum die Armen selber schuld und dazu nutzlos bis schädlich sind. Es wird holländisch gesprochen, die Untertitel sind englisch und meistens ist die eine Hälfte der Leinwand schwarz und wiederholt nur die Untertitel (gelegentlich sieht man gleichzeitig ein anderes Bild aus dem Film). Der Kick ist hier die Armutsverachtung, die offen und gegen alle political correctness ausgesprochen wird, was man irgendwelchen jung-fetten Reichen einerseits schon zutraut, wenn sie unter sich sind, aber eigentlich nicht so dummdreist vor der Kamera. Auch hier bleibt man mit der Frage zurück, wie die Leute eigentlich in die Situation gebracht und zu solchen Äußerungen verleitet worden sein mögen – oder ob es sich doch um Schauspieler handelt, die ein Cliché nachspielen. Der Begleittext gibt dazu keine Information.

Der „ID Sniper“ dokumentiert eine Aktion: Auf einer Waffenmesse der China Police in Peking 2002 präsentierte Jacob S. Boeskov das Modell eines Gewehrs, mit dem man angeblich einen Chip in Personen schießen und diese damit elektronisch verfolgen und überwachen kann. Eine Sammlung von Visitkarten dokumentiert das ernsthafte Interesse, das diese Waffe bei Händlern und Polizisten fand. Wie so oft bei Aktionen werden nur Erinnerungsstücke präsentiert, mit denen man ohne Text wenig anfangen kann. Eine Rekonstruktion und Aktualisierung der Aktion selbst wird nicht einmal versucht. Die Idee dieser Aktion macht einen gewissen Spaß, aber andererseits: Dass man Polizisten und Waffenhändler mit einer Phantasie-Waffe (die nicht allzu überzogen ist) reinlegen kann, ist auch nicht so aufregend. Schließlich haben sie nicht mehr als professionelles Interesse für möglichen technischen Fortschritt (und eine Geschäfts-Gelegenheit) gezeigt. Die Phantasie vom eingepflanzten Chip ist nicht wirklich neu und unerhört.

Alle drei Aktionen führen uns die Dummheit und die Volksverachtung der Herrschenden vor. Als Betrachter dürfen wir uns über diese Exemplare von Oberschicht-Arroganz wahlweise amüsieren oder moralisch empören – in jedem Fall dürfen wir uns überlegen fühlen. Wenn wir beides, die Dummheit und die Arroganz ernstnehmen, müssten wir uns eigentlich fürchten in einer Welt, die von solchen Leuten beherrscht wird. Aber das kann Kunst nicht leisten: Sie präsentiert uns den Zustand von Herrschaft zur Unterhaltung.

Das führt uns zum Thema „Populismus“ zurück: Populismus als politische Form heißt auch, dass Herrschaft sich unterhaltend darstellt, sich selbst nicht so ernst nimmt, „reale“ Auswirkungen selbst wieder zu Gegenständen von Unterhaltung umformt, den Warner zum Clown und den realen Schaden zum Gegenstand von konkurrierenden PR-Aktionen macht. In anderem Zusammenhang wurde das als „Ästhetisierung von Politik“ beschrieben. Die populistische Ästhetisierung heute zeigt nicht mehr unmittelbar Verherrlichung von Herrschaft sondern stattdessen Verachtung der Beherrschten.

Anmerkungen

  1. Gespräche mit Christine Resch haben mir bei dieser Interpretation geholfen. Zurück zur Textstelle
  2. Die Ausstellung illustriert am konkreten Objekt die Analyse des Begriffs von Populismus in Heinz Steinert (1999) Kulturindustrielle Politik mit dem Großen & Ganzen: Populismus, Politik-Darsteller, ihr Publikum und seine Mobilisierung, in: Internationale Gesellschaft und Politik 4/1999: 402-413; auch in www.links-netz.de. Zurück zur Textstelle
  3. Das Besondere an dem Ausstellungs-Projekt ist, dass es in vier Städten: Oslo, Vilnius, Amsterdam und Frankfurt, parallel läuft. Das ist wahrscheinlich schön für reisefreudige Kuratoren. Was es dem Betrachter bedeuten soll, der erstens gewöhnt ist, dass Ausstellungen durch die ganze Welt verkauft werden, und der zweitens sie nur an einem Ort sehen wird, bleibt ungeklärt. Zurück zur Textstelle
  4. Nur nebenbei sei angemerkt, dass hier ein sehr banales Problem der „Ausstellbarkeit“ von Video-Kunst sichtbar wird: Eineinhalb-Stunden-Videos und gar mehrere davon werden in einer Ausstellung kein Publikum finden. Dass man sie dort trotzdem abspult, ist nur ein weiteres Beispiel für die Lieblosigkeit, mit der Kuratoren ihre Exponate behandeln. Zu Begriff, Praxis und Verbesserungsmöglichkeiten von „Ausstellbarkeit“ vgl. den gleichnamigen zweiten Teil in Christine Resch und Heinz Steinert (2003) Die Widerständigkeit der Kunst: Entwurf einer Interaktionsästhetik. Münster: Westfälisches Dampfboot. Zurück zur Textstelle
© links-netz Juni 2005