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Prekariat, Kaloriat, sexy Berlin und die Unterschicht:

Wir bitten um Ihr Verständnis für die Ratlosigkeit von Politikern und sonstigen Öffentlichkeitsarbeitern

Heinz Steinert

Der geringfügige Anlass: eine Studie über die deutsche Gesellschaft ohne Kinder, Jugendliche und Ausländer

An der „Unterschicht“-Debatte, von der wir im Oktober 06 ein paar Wochen lang belästigt wurden, ist vor allem erklärungsbedürftig, wie aus so geringfügigem Anlass so viel Unsinn geredet werden konnte. Politiker der SPD tun sich bei besagtem Unsinn besonders hervor, aber Journalisten stehen ihnen kaum nach.

Der geringfügige Anlass ist eine Umfrage-Studie, die von Infratest Berlin für die Ebert-Stiftung durchgeführt wurde und in der zum x-ten Mal die seit den 1980ern üblichen Lebensstil- und Konsum-Milieus der Bundesrepublik erhoben wurden. Seit damals nämlich war die Markt- und Meinungsforschung mit den gängigen Ungleichheits-Klassifikationen der Bevölkerung nach Bildung, Beruf und Einkommen (dazu Alter und Geschlecht) nicht mehr zufrieden und erfand stattdessen „Lebensstil-Milieus“. Die beruhen immer noch auf Bildung, Beruf und Einkommen (dazu Alter und Geschlecht), werden jetzt aber über davon abhängige Aussagen zu „Wert-Präferenzen“ erhoben. In Umkehrung des früher üblichen Verfahrens werden jetzt Bildung, Beruf und Einkommen (dazu Alter und Geschlecht) als abhängige Variablen behandelt: Man beschreibt etwa die „Autoritätsorientierten Geringqualifizierten“ damit, dass sie dazu neigen würden, Männer über 60 und Rentner zu sein, statt dass man bei gering qualifizierten älteren Männern in Rente überdurchschnittlich viele autoritäre Aussagen feststellen würde.

Angeblich lassen sich Parteipräferenzen und sonstige Kaufabsichten für die so hergestellten Kategorien genauer prognostizieren als nach den „harten“ Schichtungsmerkmalen. Dass die Computer damals Plotter-Programme zur Verfügung stellten, mit denen sich zweidimensionale Felder elegant verschiedenfarbig in Bereiche einteilen und so strukturiert darstellen ließen, hat sicher zur Beliebtheit dieser immer noch hierarchischen, aber „qualitativ“ aufgelockert aussehenden Cluster-Modelle beigetragen.

Die akademische Soziologie hat sich dem seinerzeit rasch angeschlossen (und daraus etwa die Kategorien einer „Erlebnisgesellschaft“ gewonnen). Den ohnehin schon lang abgeschafften Klassen folgten damit die Schichten auf den Misthaufen der Soziologie-Geschichte (man kann sich fragen, ob außer diesem Misthaufen überhaupt noch etwas von der Soziologie existiert) und wurden durch „Lebensstil-Milieus“ ersetzt.

Aus der neuesten Umfrage1 haben die Infratest-Computer neun Lebensstil-Typen errechnet, an denen allenfalls die Aufgliederung der unteren 40% und die flapsige Namensgebung interessant sind. Folgende Typen wurden nämlich für den weniger gesicherten Teil der Bevölkerung hergestellt: Abgehängtes Prekariat (8%), Autoritätsorientierte Geringqualifizierte (7%), Selbstgenügsame Traditionalisten (11%), Bedrohte Arbeitnehmermitte (16%).2 Neu ist vor allem das „Abgehängte Prekariat“.

Vorauszuschicken ist, dass auch diese Erhebung – wie ein guter Teil der Markt- und Meinungsforschung und der Soziologie – mit der Fiktion arbeitet, es gebe in der Gesellschaft keine Ausländer: Sie beruht auf einer Stichprobe der „Wahlberechtigten Bevölkerung, Deutsche ab 18 Jahren“ (S. 4 des in Fn 1 genannten Dokuments). Das mag für die Partei-Strategen ausreichen, für die alles, was keine Wahlstimme hat, vernachlässigbar ist, als Beschreibung der Gesellschaftsstruktur ist es eine grobe Verfälschung. Ohne Ausländer wird einerseits ein Teil der Unterschicht, vor allem aber ein beachtlicher Teil der sozialen Aufsteiger und „Leistungsträger“ unterschlagen. Auch ist eine Sozialstruktur-Analyse ohne die Kinder und Jugendlichen vorsichtig gesagt unvollständig. Das Bild der Sozialstruktur, das daraus abgelesen wurde, ist also ohnehin grob irreführend.

Die Sozialdemokratie kennt keine Gesellschaft mehr, sie kennt nur noch Menschen

Die SPD-Oberen haben auf die flapsigen Typen-Bezeichnungen für viele befremdlich reagiert: Beck, indem er betonte, wie sehr seine Partei die der „Leistungsträger“ sei, und Müntefering, indem er die Existenz einer „Unterschicht“ bestritt. Beides wird nur verständlich, wenn man das als partei-strategische Aussagen versteht: nicht als Aussagen über die gesellschaftliche Wirklichkeit, sondern als Wünsche, welche Wählerschaft man gerne hätte und welche man eh aufgeben kann.

Beck sagte es offen und direkt, dass die SPD schon immer die Partei der Facharbeiterbewegung war und das auch bleiben will. Weil die Facharbeiter alten Stils immer weniger werden, muss man die Kategorie erweitern: Schon in Godesberg wurden gut fordistisch die Angestellten eingemeindet, anlässlich der neoliberalen Erosion von gesicherten Arbeitsverhältnissen aller Art fällt freilich nur mehr Schwammiges und frei Erfundenes ein wie die „Neue Mitte“ oder eben (Glotz sel. war dafür schon lange die treibende Kraft) die „Leistungsträger“. Das sind keine Kategorien mehr, die irgendeinen identifizierbaren Ort im Gesellschaftsaufbau bezeichnen könnten, sondern Angebote, sich, indem man sie übernimmt, besser vorzukommen als phantasierte Randständige oder (so Glotz) „Entschleuniger“, also Bremser, Leute, die sich an dem rasenden Stillstand nicht beteiligen, sich lieber in Hängematten aller Art aufhalten.

Müntefering reagierte etwas komplizierter: Von etwas so Unschönem wie einer „Unterschicht“ möchte er nicht reden, weder von „unten“ in der Gesellschaft, noch von „Schicht“. (So nachzulesen im Interview in der Zeit vom 19.10.06, S. 7, also wohlüberlegt und nicht in der Hitze irgendeines Wortgefechts wie am 16., als das alles begann.) Er kennt wie weiland Thatcher keine Gesellschaft (von Ungleichen), sondern nur Menschen (die es allerdings schon unterschiedlich schwer haben). Für eine SPD, die ihre Klientel nicht mehr identifizieren kann und daher in populistische Leerformeln ausweichen muss, ist das nur konsequent. Nachdem sich in nunmehr acht Jahren von maßgeblicher Regierungsbeteiligung der SPD die Arbeitslosigkeit nicht, wie immer wieder versprochen, verringert, sondern vielmehr fast verdoppelt hat, nachdem zugleich die Löhne, die Arbeitsplatzsicherheit und die Sozialleistungen reduziert wurden, möchte man mit gutem Grund über „Unterschicht“ und die Ängste, dorthin abzurutschen, lieber nicht reden.

Mediale Volksverachtung: Phantasien über die Unterschicht als Sozialschmarotzer

Der Rest der schreibenden Republik wollte aber sehr wohl. Es wurde eine Woche, in der alle Artikulationsfähigen ihre Phantasien über die Unterschicht, die es nicht geben soll, zu Protokoll gaben. Den wenig feinen Ton gab sofort und unvermittelt die FAZ am 17.10. an, indem sie das Wort „Kaloriat“ in die Arena warf: Die Kinder der Armen seien häufiger fett, und das weltweit. Das wurde noch im selben Artikel verallgemeinert zu dem Bild eines Menschen, der „so dick wird, dass er kaum noch von der Couch hochkommt“. Die Unterschicht ist fett und lümmelt auf der Couch herum. Im Titelbild der Zeit vom 19.10. wurde das optisch weiter ausgebaut: Die Unterschicht hat auch zahlreiche Kinder und einen Hund und tut auf der Couch, was wir schon ahnten: sie glotzt.

Die Unterschicht-Phantasien waren untypisch, insofern sie diesmal von den sonst dominanten jungen Männern und besonders den in erster oder zweiter Generation eingewanderten jungen Männern absahen. Auf die ist zur Zeit Frankreich abonniert. Dort ist die Unterschicht aggressiv, zündet Autos und neuerdings sogar Busse an. In Deutschland hingegen ist sie, nach den Darstellungen vom Oktober zu schließen, ein Gegenstück zu dem, was in den USA „white trash“ heißt. Sie ist übrigens auch, trotz der jüngsten Wahlerfolge der NPD, diesmal nicht rechtsradikal. Sie besteht diesmal nicht aus bedrohlichen Jung-Machos, sondern aus verfressenen, faulen, ungebildeten Familien, die – was sich aus dem fast zeitgleich laufenden Skandal um das zu Tode gekommene Baby „Kevin“ ergibt – dazu neigen, ihre (vielen) Kinder zu vernachlässigen und zu misshandeln.

Dieses Bild wurde zusätzlich noch zusammengerührt mit „Berlin“, das als Land gerade mit einer Klage auf einen höheren Anteil aus dem Steuertopf des Bundes abgeblitzt war. Im Spiegel vom 23.10. wurde Berlin in einem Untertitel (S. 22) als „auch die Hauptstadt der deutschen Unterschicht“ apostrophiert, in der Zeit vom 26.10. wurde diese Bezeichnung sogar zur Überschrift des ersten Artikels im Feuilleton-Teil gemacht. Hier erscheint das Land als Schnorrer, der tatsächlich verarmt ist, weil er über seinen Verhältnissen lebt – das Schreck- und Verachtungs-Bild des „Sozialschmarotzers“ also. Tröstlich daran ist einzig, dass offenbar der demonstrative Bonvivant Wowereit zur Verkörperung dieser Haltung geworden ist: „Arm, aber sexy“ ist als Wahlkampf-Slogan nach innen offenbar gut gekommen, wird jetzt aber von außen als doch etwas frivol angesehen.

Insgesamt durften Medien-Nutzer eine bis zwei Wochen der intensiven Volksverachtung miterleben. Die Verachtung hatte zwei Ebenen: Oberflächlich wurden Münteferings „Leute, die es schwer haben,“ als verlotterte Schmarotzer dargestellt. Tiefer verächtlich aber äußerten sich Politik und Journalismus dadurch, dass diese Schicht, die es nicht geben soll, als völlig passiv und reines Objekt von (staatlicher) Fürsorge dargestellt wurde. Über die Unterschicht wurde gesprochen, als lebe sie auf einem anderen Stern und als könne sie nicht mithören und -lesen. Der Ausschluss, von dem Müntefering scheinheilig behauptete, er solle durch korrekte Wortwahl verhindert werden, vollzog sich in der Debatte selbst.

Wie man mit wenig Geld oder gar ohne Geld lebt, davon können sich die allseitig gut gesichert lebenden Politiker nur die Vorstellung machen, man lehne sich dann zurück und warte auf eine Zuwendung.3 Tatsächlich ist die Armuts-Ökonomie eine höchst aktive und erfindungsreiche. In ihr werden die verschiedenen Einkünfte und Subsistenz-Aktivitäten selbst-unternehmerisch in einer Weise zusammengestoppelt, die den Freunden und Förderern des neoliberalen Arbeitskraft-Unternehmertums nachgerade vorbildlich erscheinen müsste. Freilich ist das nicht alles sozialversichert und darauf aus, einen Teil des Eingenommenen gleich wieder als Steuer an den Staat abzuführen. Sprich: Etliches davon ist die Schatten-Ökonomie, deren geschätzte Wertschöpfung inzwischen sogar vorteilhaft in die EU-Statistiken eingerechnet wird. Die Vorstellung, der Mensch lebe von den Einkünften aus einer angemeldeten, sozialversicherten und allseitig durchgeregelten versteuerten Lohnarbeit, ist den ärmeren Teilen der Bevölkerung nie plausibel gewesen und könnte sich eigentlich allmählich auch aus den Köpfen der Politiker verabschieden. Aber Politiker, sozialdemokratische zumal, sind immer noch überwiegend Beamte oder denken doch wie solche. Das wird umso absurder, je mehr sie den Leuten zumuten, unter schwierigen Bedingungen als Arbeitskraft-Unternehmer zu leben, und dabei die rechtschaffene Korrektheit zu zeigen, die man sich von einem Arbeitskraft-Beamten wünschen würde.

Die Politik leugnet die Lebenssituationen, die sie selbst herbeiführt

Die Politik, die sozialdemokratische zumal, hat längst die Bodenhaftung verloren. Sie steuert zielsicher an den schwierigen Lebensbedingungen der Leute vorbei, die sie selbst mit herstellt. Die Politik klammert sich noch immer an eine Illusion von Vollbeschäftigung, von der sie immer wieder verspricht, sie würde sie herbeiführen, während tatsächlich immer weniger davon die Rede sein kann. Statt sich und uns darauf realistisch einzurichten, etwa und vordringlich durch eine soziale Sicherung, die von registrierter, versteuerter und sozialversicherter Lohnarbeit unabhängig ist, betet sie die illusionären Versprechungen weiter, die immer mehr zu Lügen werden.

Müntefering hat sich von Daten zur Leugnung der Existenz einer „Unterschicht“ hinreißen lassen, die in diesen Daten gar nicht vorkommt. Seine Ebert-Stiftung beeilt sich jedenfalls mitzuteilen, dass sie dieses hässliche Wort nicht ins Gespräch gebracht habe. Müntefering hat selbst all die Typen von „Lebensstilen“ durchaus korrekt zu einer „Unterschicht“ zusammengelesen, deren Existenz er empört abstreitet. Aber es ist wohl das Wort „Prekariat“ als Modernisierung von „Proletariat“, das den Sozialdemokraten schmerzt, weil es eine so treffende Bezeichnung ist. Sie hat es in Italien schon zu einem Schutzheiligen, „San Precario“, gebracht und dürfte auch hierzulande mit allen Wortkünsten der Politikberater nicht mehr wegzubringen sein.

Das „Prekariat“ dementiert die Lebenslüge der deutschen Sozialdemokratie, die es in zwei rot-grünen Regierungen geschafft hat, die Arbeitslosigkeit im Lande fast zu verdoppeln und die auch im Verbund mit der CDU/CSU noch immer ratlos ist. Trotzdem hat sie diese letzte Dekade mit dem dauernd wiederholten Versprechen bestritten, nun aber wirklich und nun aber endlich demnächst die Arbeitslosigkeit erst halbieren, zuletzt nur mehr reduzieren zu wollen und zu können.

Man muss sich das in seiner ganzen Härte vor Augen führen: Die Sozialdemokratie als Partei der im weitesten Sinn Arbeiter wird der Arbeitsplätze wegen an die Macht gebracht, ist aber in der Frage rat- und hilflos. Über die vertraute und wirksame Politik der Arbeitszeitverkürzung wagt sie gar nicht mehr zu reden, wenn Unternehmer wie die Dienstherren des öffentlichen Dienstes Arbeitszeitverlängerungen kalt einführen. Die vertraute keynesianische Politik hat die Sozialdemokratie zugunsten von direkter staatlicher Förderung der Profit-Möglichkeiten aufgegeben: Sie könnte sie ohnehin nicht mehr durchsetzen – und alle wissen, dass sich in der gegebenen Situation mit keiner der beiden wirtschaftlichen Strategien Erweiterungs-Investitionen (sprich: neue Arbeitsplätze), sondern mit beiden nur weitere Rationalisierungen stimulieren lassen. In ihrer Not versucht sie, durch eine kostspielige Arbeitsmarktpolitik von der Unfähigkeit abzulenken. In ihrer Not verlegt sie sich auf immer schriller und weinerlicher klingende moralische Appelle an die von ihr verhätschelte Wirtschaft, nun doch dankbar, patriotisch und uneigennützig zu sein und „Arbeitsplätze zu schaffen“. In ihrer Not wird sie immer ausländerfeindlicher. In ihrer Not beschimpft sie diejenigen, die keine der nicht existierenden Arbeitsplätze finden, in diversen Varianten als „Schmarotzer“. In ihrer Not verrät sie immer unverschämter, wie sehr sie die Leute, also uns verachtet.

Dummheit ist bekanntlich keine Frage von mangelnder Intelligenz, sondern eine von Angst vor der Wirklichkeit.

Anmerkungen

  1. Basisdaten sind nachzulesen als Bericht „Gesellschaft im Reformprozess“ von Rita Müller-Hilmer, Juli 2006. Daraus wird im folgenden zitiert. Zurück zur Textstelle
  2. Die fünf Mittel- und Oberschicht-Typen sind: Zufriedene Aufsteiger (13%), Engagiertes Bürgertum (10%), Kritische Bildungseliten (9%), Etablierte Leistungsträger (15%), Leistungsindividualisten (11%)Zurück zur Textstelle
  3. Ich habe mir immer das Experiment gewünscht, man könnte Richter oder Politiker ohne Geld und ohne die Möglichkeit, Bekannte zu mobilisieren, in einer fremden (womöglich fremdsprachigen) Stadt aussetzen und dann feststellen, wie lange es dauert, bis sie festgenommen werden (weil sie etwas Verbotenes getan oder auch nur, weil sie sich verdächtig gemacht haben). Zurück zur Textstelle
© links-netz November 2006