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Notizen zur Rationalisierung der Universität (I)

Aspekte der neuen Bildungskatastrophe1

Heinz Steinert

Die Situation der Universitäten ist heute wieder ungefähr so, wie ich sie in den 1960er Jahren erlebte, als ich zu studieren begann: Großveranstaltungen in überfüllten Hörsälen, kein Kontakt zwischen Lehrenden und Studierenden, man steht einem bürokratischen Monster gegenüber, das in abgewohnten Gebäuden haust. Das galt damals als „Bildungskatastrophe“ (Georg Picht) und wurde mit einem großzügigen Programm zum Ausbau der Hochschulen beantwortet und auch bewältigt. Die Hochschulreform der 1960/70er war auch Demokratisierung, aber vor allem war sie eine beachtliche Erweiterung der Kapazitäten.

Die analoge Situation seit den 1990ern wird im Gegensatz dazu mit einem Programm der Rationalisierung beantwortet: Indem jegliche Erweiterung der Kapazitäten angesichts der wachsenden Nachfrage verweigert wurde, waren wir gezwungen, die Arbeit zu intensivieren. Es ist tatsächlich ein schöner Rationalisierungserfolg gelungen: Wir haben im Lauf von zehn/fünfzehn Jahren einen Zustand erreicht, in dem wir bei gleich bleibendem bis sinkendem Personal mehr als doppelt so viele Studierende „durchschleusen“. Mit anderen Worten: Mein Fließband läuft heute mindestens doppelt so schnell wie seinerzeit – und das wird auch für unsere NachfolgerInnen so bleiben, nur bei deutlich verringertem W2/W3-Salär mit einem „leistungsabhängigen“ Anteil.

Diese Rationalisierung wurde uns zunächst einfach faktisch aufgezwungen. Wir haben sie inhaltlich in Selbstverwaltung des Mangels durchgeführt: Rationalisierung in Dienstleistungseinrichtungen ist nur über Mehrarbeit des Personals und mehr „Selbstbedienung“ möglich. Um der nicht abweisbaren Nachfrage nachzukommen, machten wir die Veranstaltungen langsam größer, die Sprechstunde wurde länger, die Zeit, die wir mit Prüfungen und den Vorbesprechungen für Prüfungsarbeiten verbrachten, wurde viel länger, die Verteilungskämpfe zum Beispiel darum, wer welche Anfänger-Veranstaltungen zu halten und wie viele Prüfungen abzunehmen hat, wurden schriller.

Ab den 1990ern setzte sich dazu eine betriebswirtschaftliche Ideologie der Rationalisierung durch: Die Selbstverwaltung wurde durch ein machtvolles Management, Exzellenz-Initiativen, Akkreditierungs-Agenturen und Instrumente der Evaluation ersetzt. Die fachfernen Präsidien wurden analog zur Leitung eines Konzerns zu Eingriffen in die Autonomie der Fächer ermächtigt und zum Mikro-Management ermutigt. Die öffentlich bereitgehaltene Infrastruktur „Höhere Bildung“ wurde in Analogie zur Produktion einer Ware als „Humankapital“ verstanden. Diese Produktion sollte auch analog organisiert und rationalisiert werden.

Diese betriebswirtschaftliche CHE-Religion2 hat, so würde ich das einschätzen, nichts mehr zu weiterer Rationalisierung unserer Dienstleistung beigetragen, im Gegenteil: Die damit verbundene Studienreform war ein gewaltiges zusätzliches Beschäftigungsprogramm für uns. (Nicht nur die Geschwindigkeit des Fließbandes wird erhöht, dazu wird die Arbeitszeit verlängert, die für Verwaltungstätigkeiten aufgebracht werden muss. Genauer: Da müssen der Zentralverwaltung Papiere zugeliefert werden, die sie in der Schublade verschwinden lässt und die nur verwendet werden, wenn sie für die längst getroffene Entscheidung brauchbar sind.) Was aber wichtiger ist: Die vorhandene Verwaltung wurde dadurch gestärkt und es wurden neue, externe Verwaltungen der Akkreditierung und Evaluation aufgebaut, die beide dafür sorgen, dass besagtes Beschäftigungsprogramm erhalten bleibt und immer neu aufgelegt werden wird. Das Ergebnis der BA/MA-Studienordnungen bedeutet Verschulung nicht nur für die Studierenden, sondern auch für uns. (Hier in Kassel – und das ist kein Einzelschicksal – gibt es für die BA-AnfängerInnen kein Vorlesungsverzeichnis mehr, sondern einen Stundenplan – an den sich auch die Profs alle Jahre wieder halten müssen.)

Die Wissenschaft stand in diesen Rationalisierungen nicht zur Debatte, noch weniger die Unterschiede zwischen den Disziplinen und die unterschiedlichen organisatorischen Bedingungen, die sie zu ihrem Gedeihen brauchen. Es wurde davon ausgegangen, dass Professorinnen ohnehin forschen und Bücher schreiben, dass sie das wie ein Laster ohnehin betreiben – und wenn nicht, würde es auch kaum auffallen. Es ist wohl kein Zufall, dass wir in dieser Zeit auch eine Debatte darum hatten, wofür wir eigentlich Geisteswissenschaften brauchen – zu denen im PolitikerInnen-Verständnis die Soziologie allemal gerechnet wird. Als Odo Marquardt damals den Geisteswissenschaften die Funktion zuordnete, die Schäden der Modernisierung zu kompensieren, war die Aufregung über diese „Instrumentalisierung“ groß – heute haben wir uns schon völlig daran gewöhnt, uns so rechtfertigen zu müssen. Schließlich rechtfertigen Museumsdirektoren auch die Kunst mit so einer Denkfigur. Schließlich leben wir in einer Wissensgesellschaft.

Dass mit der Durchsetzung der Betriebwirtschafts-Ideologie auch die Selbstverwaltung der Wissenschaft an den Universitäten schwer beeinträchtigt wurde, musste daher garnicht diskutiert werden. Der Wert der Wissenschaft wird ohnehin nur als Summe der eingeworbenen Drittmittel gemessen. Und wir haben ja durch die neue Ermächtigung der Verwaltungen keine besseren Manager bekommen, sondern dort sitzen immer noch Beamte, denen Hoheits-Verwaltung am meisten Freude machen würde, und in den Präsidien ProfessorInnen, die schon einen Grund gehabt haben werden, sich aus der Wissenschaft zu verabschieden, aber jedenfalls nicht den, dass sie sich als begnadete Leiter eines Großbetriebs ausgewiesen hätten oder irgendwelche Erfahrung damit hätten. Mit den gesetzlich erweiterten Machtmöglichkeiten ist die Notwendigkeit zu einer hohen sozialen und demokratischen Kompetenz nicht unbedingt gewachsen.

In dieser Durchsetzung des Betriebwirtschafts-Aberglaubens war der wissenschaftliche Nachwuchs recht uninteressant. Er wird in diesem Rahmen ohnehin vor allem als „Ausstattung“ von Professuren und „Sachmittel“ in Projektaufträgen thematisiert. Die Ausnahme waren die beiden unglücklichen Regelungen der Juniorprofessur und der Begrenzung der Gesamt-Aufenthaltsdauer im Mittelbau von zwölf Jahren ab der Anmeldung zur Promotion unter Einrechnung von Hilfskraftverträgen, die man davor hatte. (Seit wir das wissen, schließen wir mit Leuten, die Mittelbau-verdächtig sind, nur mehr Werkverträge ab, und raten ihnen, sich möglichst spät zur Promotion anzumelden. Aber eine Zwischen-Generation, die das seinerzeit nicht wissen konnte, ist davon erwischt worden.) Die Juniorprofessur war ohnehin eine der vielen missverstandenen USA-Übernahmen und wurde nur angenommen, so lange der Bund dafür Extra-Gelder zahlte. Selbst die „Zeit“ bezeichnet inzwischen das Modell als gescheitert.

Aber egal ob Juniorprofessur oder Habilitation: Die PrivatdozentInnen stehen in der Situation der verweigerten Universitäts-Erweiterung wieder einmal an den fehlenden Professuren an. Die Lücke von vielen Jahren klafft vor allem zwischen dieser Qualifikation und der Professur. Mein Fachbereich etwa hat zu jedem Zeitpunkt um die zwanzig Privatdozentinnen, alle mehrere Jahre lang. Von der Fiktion, dieser Übergang sei kurz, können sie nicht leben. Es gäbe eine recht einfache Möglichkeit der Überbrückung: die Wiedereinführung der Kolleg-Gelder für Privatdozentinnen. Damit hätten sie ein Minimaleinkommen, vielleicht (so wie seinerzeit die erfolgreich vortragenden Privatdozenten Franz Oppenheimer oder Georg Simmel) sogar ein brauchbares Einkommen – und sie blieben in ihre Fachbereiche integriert, die ihrerseits damit mehr Interesse an ihnen und ihren Schicksalen haben könnten als jetzt. (Übrigens wäre das Kolleggeld auch eine simple Möglichkeit, die Lehr-Evaluation der ProfessorInnen und damit deren „leistungsabhängigen“ Gehalts-Anteil dem Markt anzuvertrauen. Allerdings wird die Verwaltung das Machtmittel einer mit finanziellen Folgen verbundenen bürokratischen Evaluation der Profs nicht gerne aus der Hand geben.)

Es wäre eine eigene Forschungsfrage, wie es geschehen konnte, dass – bei allgemeinem Klagen über diese Reform – die Gegenwehr praktisch komplett ausgeblieben ist. Tatsache ist, dass es auch unter den ProfessorInnen einerseits eine starke Fraktion gibt, die vielleicht nicht unbedingt diese, aber jedenfalls eine Reform wollte und will, andererseits Desorganisation, die individualistische Reaktionen zur Folge hatte und uns auf die seit Thatcher übliche TINA-Suggestion („There Is No Alternative“) eingehen ließ. Aber das ändert sich, und es gibt auch jetzt noch Mittel der Gegenwehr:

Zum Beispiel sind wir in die interessante Position gekommen, uns gegen die eigene Verwaltung gerichtlich und sonst rechtlich zur Wehr setzen zu müssen. Ich würde davon ausgehen, dass die Hochschulgesetze in den nächsten Jahren durch die Gerichte noch um einiges verändert werden: Wir haben in Frankfurt durch ein Rechtsgutachten die Überinterpretation der Hausberufungs-Regelungen, die das Präsidium als Machtmittel benutzte, ein wenig reduzieren können. In Marburg klagt die Soziologie gerade gegen die Zwangs-Einstellung des Diploms. Wir sollten dieses Mittel nicht ganz vernachlässigen.

Wir hätten freilich die mir viel angenehmere Möglichkeit, bestimmte Praktiken der Verwaltung einfach nicht mitzumachen, also zum Beispiel nicht im Auftrag eines Präsidiums Geheim-Gutachten (die dann ja doch bekannt werden) gegen die Entscheidung eines Soziologie-Fachbereichs zu schreiben, noch dazu ohne diesen zu kontaktieren. Wir könnten als Profession mit guten professionellen Gründen beschließen, keine vergleichenden Gutachten mehr zu schreiben, sondern nur empfehlende Einzel-Gutachten (wie im gesamten angelsächsischen Raum üblich).3

Wir könnten auch die Beteiligung an Evaluationen verweigern, wenn dabei nicht Mindeststandards der Gegenseitigkeit eingehalten werden. Wir könnten also unsere eigenen professionellen Regeln der Begutachtung und Evaluation entwickeln und praktizieren, statt sie uns von der Verwaltung vorgeben zu lassen. (Die Form von Enwiss, die in Darmstadt entwickelt wurde,4 ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie solche Evaluation auf Gegenseitigkeit professionell organisiert werden kann.)

Schließlich wird es auch weitere Gesetzesänderungen geben und geben müssen. Die genannte Zwölf-Jahre-Regelung im Hochschulrahmengesetzt etwa ist nur durch Gesetz aufzuheben. Sogar eine Änderung der Bildungs- und Wissenschaftspolitik, die zu einer Ausweitung des Universitätssystems führt, ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen. (Auszuschließen ist hingegen, dass die Lücke durch Privat-Unis gefüllt wird: Die werden sich weiter auf MBA und Executive MBA konzentrieren.)

Folgende Kategorien von Gegenwehr sind also ganz immanent möglich:

  • Verweigerung der Mitarbeit an der Verwaltungsherrschaft (Gutachten, Evaluation)
  • Entwicklung eigener Formen der kollegialen und professionellen Evaluation (Enwiss)
  • rechtliche Prüfung der gesetzlichen Regelungen
  • administrative Maßnahmen (Kolleggeld)
  • gesetzliche Maßnahmen (Aufhebung der 12-Jahres-Regel)

Lassen Sie mich das Gesagte in zwei Punkten zuspitzen:

1/ Die Universität hat das mit dem Gefängnis gemeinsam, dass die Reform in ihr kein krisenhafter Ausnahmezustand ist: Sie gehört vielmehr zu ihrem normalen Funktionieren. Ich bin jetzt etwa 25 Jahre in diesem Geschäft, und je nachdem, wie man zählt, ist das die dritte oder vierte Studienordnung, die ich geschrieben habe. Dauer der Reform jeweils etwa drei Jahre. Auch die nächste Reform kommt also bestimmt. Unsere Aufgabe ist es, klug darauf zu achten, dass die Schäden in den kurzen Zwischenzeiten möglichst gering bleiben und reversibel sind.

2/ Die „Bildungskatastrophe“ vor fünfzig Jahren wurde wohl nur deshalb politisch mit einer Ausweitung des Universitätssystems, also einer Vermehrung der Professuren, damit der Verbesserung der Situation für die Studierenden und der Berufs-Chancen für den Mittelbau beantwortet, weil es eine Studentenbewegung gab, die innerhalb der Universität auch eine Mittelbau-Bewegung war. Die „vernünftige“ Reaktion auf eine Problemsituation setzt sich nicht deshalb schon durch, weil sie vernünftig ist: Sie muss auch erarbeitet, erfahrungsgemäß sogar erkämpft werden.

Anmerkungen

  1. Dieser Text lag meinem Referat im Forum 1: Hochschulpolitik zwischen Leitungsautoritarismus und Personal-„Verschrottung“ auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel am 10.10.2006 zugrunde. Zurück zur Textstelle
  2. Das Centrum für Hochschul-Entwicklung der Bertelsmann-Stiftung ist ein Think-Tank hauptsächlich von Betriebswirtschaftlern, der seit vielen Jahren die neoliberale Universitätsreform propagiert und die Politik entsprechend berät. Die Selbstdarstellung findet sich unter www.che.de, aus der zunehmenden Kritik nur zwei Beispiele: Tagesspiegel vom 24.9.2006 und Telepolis vom 19.07.2005.Zurück zur Textstelle
  3. Vgl. dazu Heinz Steinert (2004) „Zur Professionalität des Gutachtens: Eine Aufforderung, vergleichende Gutachten zu verweigern“, in: Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 33(4): 36-43.Zurück zur Textstelle
  4. Es handelt sich um ein Evaluations-Netzwerk, das für die beteiligten Unis Evaluationen auf Gegenseitigkeit statt durch außenstehende (und teure) Evaluations-Agenturen organisiert. In einem immer noch technokratischen Rahmen entsteht damit professioneller Austausch und damit tatsächlich die Möglichkeit von Qualitätsverbesserung (die sonst von den Evaluations-Ritualen ohnehin nicht erreicht wird). Zurück zur Textstelle
© links-netz November 2006