Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Deutsche Zustände Übersicht

 

  Nur Text    rtf-Datei    pdf-Datei 

Deutschland sarrazinisiert sich

Wie wir unser Land zurück gewinnen

Heinz Steinert

Es hat sich eine Bewegung gebildet: Deutschland liest wieder. Der Niedergang durch Verlust der Lesefähigkeit, wie ihn PISA diagnostizierte (69ff, 208ff, mit Tabellen und Schaubildern1), wurde zuerst durch Harry Potter, dann und durchschlagend von Thilo Sarrazin gestoppt: Eineinhalb Millionen Käufer können nicht irren. (Freilich dürfte ihnen wohl höchstens eine halbe Million Leser entsprechen, und auch die werden vor allem nach den „Stellen“ gesucht haben.) Wie Harry musste auch Thilo gegen böse Hexen und Zauberer kämpfen und sich gegen tückische Schulleiter (hier Sigmar G.) durchsetzen. Aber mit Hilfe einer treuen Lesergemeinde kann das nicht misslingen. Schön ist: Harry kann man nur im Kino und als etwas übermütigen jungen Buben sehen – Thilo aber tritt in überfüllten Buchhandlungen und Literaturhäusern auf und ist ein ernst blickender Held für Erwachsene. Wie Harry steht er (fast) allein gegen eine korrupte Welt, deren Untergang sicher schien. Aber dank Thilo wird die Bedrohung von seinen Anhängerinnen erkannt und abgewendet. Nun lesen sie wieder und alles wird gut.

Lesen allein freilich genügt nicht. Sie werden auch die Fertilität erhöhen und sich damit – von Thilo gewarnt – dem bisherigen Trend widersetzt, nach dem Lesen einem „höheren Bildungsstand“ (355) und damit einer geringeren „Nettoreproduktionsrate“ entspricht, die „zwingend“ dazu führt, „dass sich der Anteil der weniger Tüchtigen und weniger Intelligenten von Generation zu Generation erhöht, solange die Gruppen je nach sozialer Stellung eine unterschiedliche Fruchtbarkeit haben“. (356) Die „vierte demografische Grundlast“, dass die mit hohem IQ weniger Kinder haben als die mit niedrigem, was „in nur wenigen Generationen erhebliche Auswirkungen auf das intellektuelle Potential der Gesellschaft“ hätte (347), muss von den Deutschen genommen werden. Besonders der universitäre Mittelbau, „Paare, bei denen beide Wissenschaftler sind“, und Professorinnen (357) werden in die Pflicht genommen, ihre besonders niedrige Nettoreproduktionsrate zu erhöhen. Es wäre ein einfaches Mittel gewesen, ihnen einfach das Lesen von Sachbüchern zu verbieten, aber zu einer so paradoxen Maßnahme wollte man nicht greifen. Stattdessen gelingt der Umschwung durch eine geheimnisvolle „Kombination familienpolitischer Maßnahmen, bei denen immer wieder nachgesteuert wurde“ (405) und durch „Revisionen in der Familien- und Sozialpolitik, bei denen wiederholt nachgesteuert worden war“ (407). Entscheidend ist das Nachsteuern.

Die so erhöhte Lesefähigkeit führt auch zu einem verbesserten Verständnis von Wissenschaft. So ist zum Beispiel die Bell-Curve-Debatte der 90er Jahre in den USA (ausgelöst durch die anschließend methodologisch völlig zerpflückte Untersuchung von Herrnstein und Murray, als Buch The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life veröffentlicht 1994), in der die Privilegien der Weißen gegenüber den Farbigen durch ihren vererbt höheren IQ gerechtfertigt wurden, bisher an der deutschsprachigen Öffentlichkeit vorbeigegangen. (Das „Wissen“ über Hautfarbe und Intelligenz blieb in Neonazi-Nischen versteckt.) Höchste Zeit, dass die, wenn das möglich ist, noch dubioseren Verallgemeinerungen von Richard Lynn (Dysgenics: Genetic Deterioration in Modern Populations, 1996) hier bekannt gemacht werden.

Zugleich lernen die Leser, was Wissenschaftlichkeit ist: Man hält sich an ein, zwei Bücher und vernachlässigt alle Kritik an ihnen, wenn man die nicht sogar als Unterdrückung wegwischt und trotzig bekämpft. Thilo hat sich „schon in den siebziger Jahren intensiv mit der Intelligenzforschung beschäftigt ..., er nennt das seine 'psychologische Phase'“. (Spiegel 51/2010: 50) Das war die Zeit, in der in GB Cyril Burt und Hans Jürgen Eysenck, in den USA Arthur Jensen mit Behauptungen über die Vererbung von Intelligenz hervortraten. Freilich erwiesen sich Burts Daten zur Intelligenzübereinstimmung zwischen Zwillingen, mit denen sie alle arbeiteten, als gefälscht, aber das Geld des 1937 gegründeten Pioneer Trust, der seinerzeit maßgeblich zur Eugenik-Bewegung in den USA beitrug, floss weiter (bis zu Lynn) und machte diesen Rückschlag wieder gut. Wissenschaftlichkeit signalisieren auch Tabellen und Schaubilder – und so kann man sich der Zustimmung oder jedenfalls Hinnahme sicher sein. Den meisten ist das Gelesene nicht wichtig genug, um es genau zu überdenken, vor allem, wenn es eh dem entspricht, was sie immer schon wussten.

Etwas peinlich ist allenfalls, dass der Ex-DDR-Bevölkerungswissenschaftler Volkmar Weiss (Die IQ-Falle. Graz: Stocker. 2000) und der Ex-FAZ-Redakteur Udo Ulfkotte (in mehreren Büchern, zuletzt: Kein Schwarz. Kein Rot. Kein Gold. Armut für alle im „Lustigen Migrantenstadl“. Rottenburg: Kopp. 2010) schon dieselben Behauptungen verbreitet hatten. Weiss ist ein wenig untergegangen und Ulfkotte hatte etwas zu wenig Berührungsscheu gegenüber Neonazis. Über deren analoge Verlautbarungen reden wir ohnehin nicht. So gab der überragende Publikumserfolg doch schließlich Thilo recht.

Die Einsicht, in der Biologie liege unser Schicksal, hatte sich, auch dank FAZ und Spiegel, schon hinreichend verbreitet. Wir handeln, wie es uns unser Hirn befiehlt. Und was es befiehlt, hängt zumindest zu einem Teil von den vererbten Genen ab. Wenn wir das noch mit etwas vereinfachtem Darwin (349ff) und Bevölkerungslehre kombinieren, sind wir schon bei den Entwicklungen, die wir alle bis dahin nur aus Diskussionen mit Neonazis kannten: Die Dummen vermehren sich hemmungslos und die Klugen sterben aus. (Davon handelt das ganze Kapitel 8.) Aber diese zunächst schockierende Einsicht ist auch wieder tröstlich. Man kann durch geeignete Politik die Tendenz vielleicht umkehren – und noch ein Stück weitergedacht: Man hat damit vielleicht sogar ein Instrument gewonnen, um die Gesellschaft zu verbessern. Wenn sich bis jetzt die Klugen selbst weggezüchtet haben, muss man doch auch umgekehrt die Dummen dazu bringen können, das zu tun. Biologie ist Schicksal, aber man muss auch konsequent weiterdenken, was die früher liberale Öffentlichkeit sich nicht traut: Die Degeneration der Gesellschaft lässt sich genau damit abwenden.

Mit diesen Ideen einer selektiven Züchtung von Bevölkerungen und ihren Anteilen ist es naheliegend, auch das „Unterschicht-Problem“ so (end)lösen zu wollen: Die Armut und die ganze Unterschicht werden weggezüchtet. Da muss man sich nicht wirtschaftlich und sozialpolitisch mit allerlei Transfers und ihrem zweifelhaften Erfolg herumplagen. Armut und die Unterschicht werden einfach abgeschafft. Die soziologische Parole der 50er Jahre, Deutschland (also damals die BRD) sei eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ geworden, haben sie so endlich ernst genommen. Sie ist ja auch in studentischen Protesten der jüngeren Zeit mit der Forderung „Reiche Eltern für alle!“ wieder aufgenommen worden. Diese Abschaffung geschieht biologisch: Die Unterschicht hat sich zuletzt nur deshalb vermehrt, weil sie für jede Geburt und jedes Kind von dem verfehlten Sozialsystem finanziell profitierte. Das zeigt ein erfundenes Fallbeispiel einer alleinerziehenden Mutter (375) drastisch. Wenn man diese staatlichen Anreize wegnimmt, hören die einfach auf, Kinder zu haben.

Ohnehin besteht das Problem der Armut darin, dass es diesen Leuten an den „Sekundärtugenden: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Genauigkeit, Ordnungsliebe, Frustrationstoleranz, Ein- und Unterordnung“ (170) mangelt. Daher scheitern sie schon in der Schule und anschließend im Arbeitsleben (171f) und legen sich in die Hartz-IV-Hängematte. Eine vernünftige Sozialpolitik muss darin bestehen, ihnen ein Leben auf diesem Niveau zu verweigern. Um das zu erreichen, muss man den Regelsatz absenken (178ff) und alle Transferleistungen mit einer Arbeitspflicht verbinden (182ff). Diese „Gegenleistung“ muss nicht produktiv sein, entscheidend ist, dass „die Anforderungen in Bezug auf Pünktlichkeit, Disziplin und Arbeitsbereitschaft dem regulären Arbeitsleben möglichst nahe kommen“ (183). Das gilt sinngemäß auch für das Kindergeld: „In Haushalten, die vorwiegend von Grundsicherung leben, steigt der Lebensstandard mit der Zahl der Kinder, und entsprechend ist das Geburtenverhalten.“ (319) Daher können „Reformen bei den Sozialtransfers in wenigen Jahren“ dazu führen, dass die Fruchtbarkeit in diesen Gruppen radikal gesenkt wird. (407) Mit diesen „Reformen“ kann nur gemeint sein, das derzeitige Kindergeld abzuschaffen. Sie sprechen das ungern so offen aus. Sagen lässt sich aber immerhin, dass das Kindergeld von „Gegenleistungen“ abhängig sein soll. Als Utopie formuliert: „Für den Bezug von Kinderzuschlägen in der Grundsicherung und von Kindergeld war Voraussetzung, dass die Kinder diese Einrichtungen (Ganztagsschulen und Ganztagskindergärten) tatsächlich besuchten. Jedes unentschuldigte Fehlen, auch wenn es sich nur um wenige Stunden oder einen Tag handelte, führte zu scharfen Abzügen.“ (406)

Das leidige Migrations-, also genauer: Migrantenproblem schließt hier nur an. Die Bewegung hat nichts gegen Migranten, sie sind ja dank eifriger Lektüre keine Dumpfbacken, sie haben nur etwas gegen arme und „bildungsferne“ Migranten, die sich ungebührlich vermehren. Und das sind und tun leider besonders die muslimischen Zuwanderinnen, die dazu noch Kopftücher tragen. Von den Deutschen, auch „autochthone Bevölkerung“ genannt, sind zwar 14 Millionen unmittelbar nach dem Krieg selbst zugewandert (258), aber jetzt sind sie von den statistisch ausgewiesen 4 Millionen (wenn man sich bemüht, kann man sie aber auch auf 5,7, vielleicht sogar 7 Millionen schätzen) „muslimischen Migranten“ (Zuwanderer aus Bosnien-Herzegowina, Türkei, Naher und Mittlerer Osten und Afrika) (261f) in ihrem Bestand gefährdet. Sie allein machen Integrationsprobleme: Sie arbeiten wenig, leben von Transfers und vermehren sich übermäßig.

Migration ist im Prinzip ganz in Ordnung, jedenfalls nicht ungewöhnlich. Schließlich ist auch der Name „Sarrazin“ nicht richtig „autochthon“ und treu deutsch. Thilo erzählt: „Migration über die Grenzen hat es immer gegeben. Meine väterlichen Vorfahren wanderten über Lyon nach Genf und dann über Basel nach Deutschland, wo sie schließlich Westfalen wurden. Meine mütterlichen Vorfahren waren 1920 als pommersche Grundbesitzerfamilie im polnisch gewordenen Korridor plötzlich sogenannte Volksdeutsche, und was von ihnen übrig blieb, fand sich 1945 in Westfalen ein. Möglicherweise waren von dort ihre Vorfahren im 12. Jahrhundert aufgebrochen.“ (392f) Das Ergebnis müssen nicht unassimilierte Kopftuchträgerinnen sein. Es kann und soll eine Person wie Thilo sein, streng und diszipliniert und aufgeklärt, deutscher geht es nicht.

Der Islam hingegen ist intolerant und aggressiv und verweigert sich der Aufklärung – der bekanntlich „die Deutschen“ verpflichtet sind. Der Islam kann daher nicht „gedacht werden ohne Islamismus und Terrorismus, auch wenn 95% der Muslime friedliebend sind. Die Übergänge sind zu verschwommen, die Ideologien zu stark und die Dichte gewalttätiger und terroristischer Ereignisse zu groß.“ (277) Und diese muslimischen Einwanderer leben in einer muslimischen Parallelgesellschaft. Ihr Ziel ist es, durch Familiennachzug und hohe Fertilität Deutschland (und Europa) zu erobern. (316ff) Der deutsche Sozialstaat unterstützt sie dabei, indem er Kinder zu einem Gewinn statt zu einem Kostenfaktor im Familienbudget macht. (320ff) Der falschen Liberalität und Ängstlichkeit der deutschen Politik wird es gelingen, diese Eroberung geschehen zu lassen. 2045 werden „bereits 30 Prozent der Erstwähler einen muslimischen Hintergrund“ haben, 2065 schon 50%. (401) Die deutsche Sprache und Kultur wird verschwinden.

Die Thilo-Bewegung der Ermutigung zum Lesen kann dem allen schöne Erfolge entgegensetzen. Ziel ist es, jeden Haushalt mit einem Exemplar von „Deutschland schafft sich ab“ zu versorgen. Die damit gewonnene Lesekompetenz wird die Gebildeten wie die „Bildungsfernen“ in sich gehen und ihr Fertilitätsverhalten überdenken lassen. Vor allem aber muss jeder einzelne Politiker, von der Kanzlerin bis zum Bürgermeister der kleinsten Gemeinde, das Buch studieren. An sie ist es adressiert und sie haben auch entsprechend reagiert. Andere Bücher dieses Inhalts wurden einfach als töricht und durchgedreht gar nicht angefasst, dieses aber wurde sofort von Spitzenpolitikern kommentiert. Auch wenn das ablehnend geschah, so hat es doch zu großer Aufmerksamkeit der Journalisten und zu einer freudig erregten Debatte geführt. Die bemühten Provokationen von Schirrmacher oder Sloterdijk oder Žižek oder gar von einem „Unsichtbaren Komitee“ können da nicht mithalten, so sehr einzelne oder alle Gazetten sich bemühen mögen.

Entscheidend dafür, die Degeneration aufzuhalten, aber ist: Es soll jetzt überall so zugehen wie früher bei Sarrazins zu Hause (192ff): „Die jungen Männer machten eine Ausbildung und erste berufliche Schritte, bis sie eine auskömmliche Anstellung hatten. Im Alter zwischen 27 und 32 hielten sie um die Hand einer Tochter aus gutem Haus an, also um ein Mädchen mit guter Erziehung und einer gewissen Mitgift. Die jungen Frauen waren mindestens 19, aber kaum älter als 25 Jahre. Dann kamen in rascher Folge vier bis sieben Kinder, und wenn die Frau Anfang bis Mitte 30 war, war die Phase der Familienbildung abgeschlossen. Scheidungen sind mir aus dem Familienarchiv nicht überliefert.“ (374) Die Ausbildung schließt möglichst das Gymnasium ein, für das durch eine Aufnahmeprüfung drei von fünfzig ausgewählt werden. (192) Und die haben eine gründliche Lese-Karriere hinter sich, zu der „Tausendundeine Nacht“ und eine vierbändige „Große illustrierte Weltgeschichte“ aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gehören. (193) An Grimms Märchen mit Illustrationen von Ludwig Richter haben sie sich selbständig das Lesen erarbeitet. (194) Vor Mathematik und Naturwissenschaften dürfen sie sich drücken, denn die Lesekompetenz „erleichtert auch den Zugang zur mathematischen und zur naturwissenschaftlichen Kompetenz, denn logische und empirische Zusammenhänge und Problemstellungen müssen zunächst erklärt werden, damit man einen Ansatzpunkt für die formale Problemlösung und eine Diskursebene findet“ (194f). In erster Linie also lesen sie.

Die Bewegung, die das Buch kauft und zu den Lesungen strömt, hat einen Antrieb, den man dem Text leicht entnehmen kann: Es ist einfach nicht zu verstehen, warum nicht alle Leute so sein und leben sollen wie Thilo und seine Familie. Armut und Fremdheit lassen sich diszipliniert überwinden. Und die Politiker haben die Aufgabe, nach Gutsherrenart zu dieser Disziplin anzuhalten. Statt nachgiebig und opportunistisch zu lavieren, sollen sie ihre biologistischen und nationalistischen Überzeugungen nur konsequent zu Ende denken und dann rücksichtslos durchführen, was sich daraus an Züchtungsaufgaben stellt. Der Traum von den „autochthonen“ Deutschen ist eine Gesellschaft aus lauter Thilos.

Anmerkungen

  1. Alle Zitate und Verweise, sofern nicht anders angemerkt, aus: Thilo Sarrazin (2010) Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München: DVA. 14. Auflage. Hinzuweisen ist auf die empirische Studie von Naika Foroutan (2010) (Hg) Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand: Ein empirischer Gegenentwurf zu Thilo Sarrazins Thesen zu Muslimen in Deutschland. Berlin: Humboldt-Universität. Link zum download auf der Seite www.heymat.hu-berlin.deZurück zur Textstelle
© links-netz Januar 2011