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Die Universitätsreform der Gegenaufklärung1

Heinz Steinert

I. Die Universität der Aufklärung

Die Universität der Aufklärung war religiös, konservativ und staatstragend. Nach ihren mittelalterlichen Anfängen als Priester-Seminar war die Universität nun Ausbildungs-Ort für Staatsdiener geworden. Das beste, das dort entstehen konnte, waren aufgeklärte Staatsbeamte. Als Wissenschaftler-Typus hat die Aufklärung den säkularisierten Privat-Gelehrten und den bürgerlichen Radikalen hervorgebracht: Man denke an Rousseau, Voltaire und Diderot. Nirgends außer in Deutschland kam man auf die Idee, ausgerechnet an den Höheren Schulen, Orten der Orthodoxie und der verknöcherten Autorität, könne ernsthaft Fortschritt passieren.

Die Radikalen waren entweder selbst vermögend, wurden von Mäzen(inn)en ausgehalten oder lebten von privatwirtschaftlich (z.B. als Subskription) organisierten Anstrengungen der Volksaufklärung wie etwa der Encyclopédie oder des beginnenden Journalismus.

Wenn man, wie es sich empfiehlt, drei Stränge der westlichen Aufklärung unterscheidet, die sich auch national zuordnen lassen – die herrschaftskritische und ironische in Frankreich, die pragmatische und projektemacherische angelsächsische und die innerliche und reflexive deutsche –, dann zeichnet sich die deutsche Aufklärung durch ihre relative Folgenlosigkeit aus. Sie wurde von Professoren von Kant bis Hegel getragen, sowie von Hauslehrern, Fürstenerziehern und Fürstenberatern wie Goethe, Herder und Wieland. Den Einschlag von hemdsärmeliger Kraftmeierei und schwärmerischem Geniekult, „Sturm und Drang“ genannt, sowie den Beitrag des protestantischen Pfarrhauses in Empfindsamkeit bis Sentimentalität sollte man nicht übersehen. Es ist diesem Gemisch von Positionen geschuldet, dass aus der deutschen Aufklärung weder eine Revolution noch pragmatische Reformen entsprangen, sondern die Konzeption von Befreiung als einerseits die anderswo nie erreichte hohe Reflexivität Kants und ansonsten als „Anerkennung“ (durch die Herrschenden).

Die angewandte französische Aufklärung der Privatgelehrten und des entfremdeten intellektuellen Proletariats ließ den König köpfen – und endete im Blutrausch des Tugendterrors und im bonapartistischen Eroberungskrieg. Die angelsächsische Aufklärung hatte den Königsmord schon hinter sich (England) oder hatte sich als Kolonie von dem fernen Monarchen befreit (Vereinigte Staaten) und konnte sich daher pragmatisch der Pflege bürgerlichen Reform-Fortschritts widmen („Aufklärung als Projektemacherei“). Einzig die deutsche Aufklärung der Professoren und Fürstenerzieher und -berater verlangte für die Bürgerlichen und ihr überlegenes Wissen um Gott und die Welt, besonders aber den Staat, „Anerkennung“ und ging gleich direkt in den aufgeklärten Absolutismus und anschließend in die monarchische Reaktion über. In der Humboldtschen Universitätsreform am Beginn des 19. Jahrhunderts sollte die deutsche Aufklärung in den Alltag der akademischen Bildung umgesetzt werden: akademische Freiheit, Einheit von Forschung und Lehre, Einheit von wissenschaftlicher und sittlicher Bildung – im Prinzip für alle. In Wirklichkeit wurde damit eine nationale „gebildete Klasse“ geschaffen und reproduziert, die aber immerhin erweiterbar ist.

Um es zusammenzufassen: Aufklärung fand, von den paar Professoren des deutschen Idealismus und den nationalistischen Studenten von 1848 in Deutschland abgesehen, nicht an der Universität statt.

Wo sie herrschaftskritisch praktisch wurde, besonders in Frankreich, war die bürgerliche Befreiungsbewegung und ihre Philosophie: die Aufklärung, keine harmlose Angelegenheit, keine Sache von freien Wahlen, Rechtsstaat und „vernünftigen“ Klassenkompromissen; vielmehr eine lange Periode von Aufständen, Massenhinrichtungen, Militärputsch, Diktatur, einem europäischen Krieg, der dem Ersten Weltkrieg nur im Ausmaß der Technisierung des Tötens nachsteht, insgesamt mindestens ein halbes Jahrhundert von blutigen Revolutionen und Kriegen in Europa, das sich im Großteil Europas in einem weiteren halben Jahrhundert von aristokratischer Reaktion in konstitutionellen Monarchien erschöpfte. Die angewandte Aufklärung des bürgerlichen Reformfortschritts, besonders in England und Amerika, fand in „naturforschenden Gesellschaften“ und in den Werkstätten der Erfinder, im Militär („Ingenieure“ sind ursprünglich Festungs- und Belagerungs-Spezialisten), in praktischen Reformen der Verwalter, Beamten und Staats-Techniker, dann in Großprojekten wie dem Bau von Eisenbahnen und Kanälen statt. Die Naturwissenschaften und die Technik mit ihren Instituten und Schulen kamen zu Universitäts-Status frühestens Ende des 19. Jahrhunderts.

In keiner der drei Formen von Aufklärung hatte die Universität eine radikale Rolle. Die Radikalen fanden sich in anderen Positionen und oft genug im Exil. An der Universität fanden sich im besten Fall Reformer – in Deutschland die „Kathedersozialisten“ am Ende des 19. Jahrhunderts, die sich im „Verein für Socialpolitik“ zusammenfanden, unter ihnen nicht zuletzt Max Weber, Werner Sombart und andere aufgeklärte Ökonomen. Die 1914 gegründete Universität Frankfurt mit ihrer (für Deutschland ersten) sozialwissenschaftlichen Fakultät war anfangs von dieser Strömung geprägt und konnte daher, wenn auch widerwillig, eine radikalere Stiftung wie das „Institut für Sozialforschung“ aufnehmen, zumal auch dieses sich ab dem Direktor Horkheimer als die Akademisierung von Marxismus (ohne unmittelbaren Praxisbezug) profilierte.

Das 20. Jahrhundert wird in die westliche Geschichte als das Zeitalter der Gegenaufklärung2 eingehen. Das gilt auch für seine Bildungsreformen. Die derzeit stattfindende Reformierung der deutschen Universität setzt die post-fordistisch markt-populistische Phase der Umwälzungen des 20. Jahrhunderts in organisierte Wirklichkeit um: undemokratisch in Zielen und Verfahren, mit Elite- und Leistungs-Rhetorik verbrämt, auf instrumentell brauchbares, also in (persönlichen, Firmen- und Staats-)Einkünften ausdrückbares Wissen als Konkurrenzvorteil – und auf ebensolche Menschen – fixiert.

Die Siege der Gegenaufklärung sind zugleich das Ergebnis von Dialektik der Aufklärung: Sie hat nicht nur Feinde, sondern hebt sich in ihren Widersprüchen auch selbst auf. Die im deutschen humanistischen Gymnasium und in der deutschen Universität nach Humboldtschen Prinzipien „organisierte Aufklärung“ hat Angehörige des so produzierten „Mandarinats“ und besonders der deutschen Universitäten weder daran gehindert, die Kriegsbegeisterung von 1914 führend mitzutragen, noch später daran, sich aktiv am Völkermord der Nazis zu beteiligen. Die deutsche Aufklärung mit ihren Einschlägen von Geistesaristokratie und a-politischer Innerlichkeit bei gleichzeitig äußerer Herrschafts-Frömmigkeit vertrug sich gut mit den Angeboten von Herrenmenschentum wie Unverantwortlichkeit. Gerade an den deutschen Universitäten hat sich die selbstdestruktive Widersprüchlichkeit der deutschen Aufklärung als Rückzug auf die Pflege der (sozial nicht verantwortlichen) Persönlichkeit und Anschlussfähigkeit für Herrenmenschen-Phantasien („überlegene Kultur“) verheerend dokumentiert.

In den Universitäts-Reformen der 60/70er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde versucht, das in der Entwicklung einer „kritischen Wissenschaft“ (mit Rückwirkungen auf das gesamte Bildungs-System) zu korrigieren. Die „Bildung“ der Aufklärung sollte sozial verantwortlich gemacht werden. Nicht mehr Innerlichkeit und Persönlichkeit, sondern politische Teilhabe und demokratische Solidarität sollten als „Bildung“ verstanden werden. Nicht einmal in den Sozialwissenschaften, die damit die Geisteswissenschaften als Form und Inhalt von „Bildung“ ablösen sollten, war der Erfolg durchschlagend, geschweige denn nachhaltig. Zur Zeit wird er endgültig zurückgenommen.

Die techno- und bürokratischen Anteile jener seinerzeitigen Reform lassen sich hingegen gut mit dem verbinden, was in der derzeitigen markt-populistischen Reform durchgesetzt wird: Instrumentalität, kapitalistisch reduziert auf Profitabilität von Wissen ist einzig interessant. Selbstverwaltung der Wissenschaft und der Universität wird zugunsten von „Effizienz“ (immer verbunden mit „Sparsamkeit“) zurückgenommen. Von „Bildung“ ist gar nicht mehr die Rede, vielmehr von Qualifikation für „die Wirtschaft“ und den Arbeitsmarkt und den internationalen Wettbewerb um die Profite – oder worum sonst? Von einem Teil der Infrastruktur, die allen zur Verfügung steht, wird Wissen zu einem persönlichen, lokalen und nationalen Konkurrenzvorteil, um dessen Schaffung und Erwerb man sich in einer scharfen Konkurrenz zu bemühen hat. Wissenschaft soll sich in Patenten ausdrücken, wissenschaftlich ausgebildet zu sein in persönlichem Einkommen.

Die derzeitige Universitäts-Reformierung steht im Rahmen des seit der krisenhaften Auflösung von Fordismus in den 80er Jahren betriebenen Umbaus der Produktionsweise zu einem globalisiertem Neo-Liberalismus, der auch als Dienstleistungs- oder Wissensökonomie thematisiert wird. Diese Form von Kapitalismus geht mit Gesellschaftsspaltung und einer hohen Toleranz für soziale Ungleichheit, wenn nicht sogar positiver Bewertung von Elitismus („Leistungsträger“) und Ausschließung („Überflüssige“) einher. Die Behauptung von „Wissen“ als dominantem Produktionsfaktor beruht einerseits auf neuen Möglichkeiten der Rationalisierung, besonders im Bereich der Kopfarbeit, andererseits auf der Kommodifizierung von Bereichen, die bisher als Infrastruktur verstanden wurden (soziale Absicherung, (Aus-)Bildung, Verwaltung). Das Zusammentreffen mit der inzwischen geplatzten Spekulationsblase der „New Economy“, in der man mit ungeprüften Internet-Ideen Risikokapital abzocken konnte, hat der Plausibilität der Gesellschaftsdiagnose den Anfangs-Schwung gegeben. Die zugehörige „Arbeitsmoral“, die propagiert und durchgesetzt wird, ist der „Arbeitskraft-Unternehmer“ (im Gegensatz zum wohlfahrtsstaatlich abgesicherten „Arbeitskraft-Beamten“).3

Auf diese Grundlage bezogen hat die Universitätsreform, an der wir gerade teilnehmen dürfen, eine solide Logik und innere Konsistenz.

Um diese gerade stattfindende Reform, die von oben und außen durch Politik und Verwaltung betrieben wird, und die besondere Wehrlosigkeit der Universitätsangehörigen, Studenten, Mittelbau und Professoren in gleicher Weise, besser verstehen zu können, erscheint es sinnvoll, ihr Verhältnis zu der letzten Uni-Reform, der der siebziger Jahre, zu klären. Die derzeitige Reform ist auch schockierend, weil sie alles zurückzunehmen scheint, was damals erreicht wurde: innere Demokratie wie demokratische Orientierung der Universität nach außen. Dazu muss daran erinnert werden, dass das kein Einzelschicksal der Universität, vielmehr ein verbindendes Merkmal der neoliberalen Gegen-Reform ist. Dazu kommt ein Enthusiasmus für die Universität, der die Studentenbewegung auszeichnete und der jetzt eklatant abgeht. Diesem Enthusiasmus und seiner Abnützung ist daher nachzugehen.

Zwei erstaunliche rückblickende Äußerungen über die Universität mögen das einleiten.

II. Die erotische Universität

„Die Universität ist nicht mehr Hass- und Liebesobjekt, so wie zuletzt noch für die Generation der Studentenbewegung der sechziger Jahre, die ihr unter heftigem Rütteln und Schütteln eine Liebeserklärung machte, die sie als Institution nicht verstand, und sie wird auch nicht mehr mit der Bitterkeit der Unverstandenen verteidigt.“ (9)
Klaus Heinrich (1989) ‚Zur Geistlosigkeit der Universität heute’, in: Das Argument 31(1) Nr. 173: 9-19
„Die ‚Studentenrevolte’ war vor allem dies: eine ‚Liebeserklärung’ an die Universität, eine Wiederentdeckung der Universität als Lebensraum, eine Proklamation der Universität als Experimentierfeld schöpferischen Denkens in Freiheit, ein Ernstnehmen der Autonomie, die sich aber zugleich in den Dienst ‚der Gesellschaft’, sprich: der unterprivilegierten Schichten hier und der ausgebeuteten Menschen in den Ländern der Dritten Welt stellen wollte.“ (435)
Ekkehart Krippendorf (1996) ‚Die Idee der Universität’, in: PROKLA 26(3) Nr. 104: 431-439

Eine erotische Beziehung zur Universität, an die vor zehn und fünfzehn Jahren noch erinnert wurde, ist heute kaum mehr vorstellbar, und selbst eine solche Erinnerung daran klingt überspannt: Die Instrumentalisierung der Universität wird von allen Seiten offen und selbstbewusst betrieben und ausgesprochen. Die Gegenreformation der Universität erfolgt im Namen von Output, Effizienz und Funktionieren, also unter den Prinzipien von instrumenteller Vernunft. Dazu kommt die ebenso offene Rückkehr zur Universität im Dienst der Reproduktion von Eliten, womit betriebswirtschaftlich denkende Manager und Berater gemeint sind, nicht mehr allgemein und besonders politisch gebildete Staatsbürger. Die von dieser Gegenreformation überrollten Studierenden haben sich ebenso auf ein Verständnis von Universität als Einrichtung einer (wenn auch angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt prekären) Berufs-Ausbildung zurückgezogen, wie die dort tätigen Wissenschaftler auf das eines Dienstleistungs-Arbeitsplatzes wie andere auch. Sie haben damit exakt die Ziele vorweggenommen, die sich besagte Gegenreformation für die Universität gesetzt hat.

Im folgenden soll diese besondere „Liebesbeziehung“ der Studentenbewegung zur Universität in Erinnerung gerufen und in ihren Inhalten genauer bestimmt werden. Daran schließt sich wie selbstverständlich die Frage, was aus dieser ambivalenten Liebe in fünfzig Jahren geworden ist, wie sie zuletzt so veraschen konnte, wie wir sie heute vorfinden. Die Metapher von der „Liebe“ kommt schnell an ihre Grenzen: Das „Liebes“-Objekt, die Universität, sollte radikal verändert, gar neu geschaffen werden. Pygmalion ist über die von ihm geschaffene Gestalt in erster Linie in sich selbst verliebt – keine solide Grundlage für eine lange und glückliche Ehe. Die „Liebesbeziehung“ war mehr eine Affäre, stürmisch und kurz. Wo daraus im „langen Marsch durch die Institutionen“ eine Dauerbeziehung wurde, hat sich die Liebe schnell im bürokratisierten Alltag aufgerieben. Dazu erwies sich die Universität als ein kleinliches, kontrollierendes, zugleich schwerfälliges und abweisendes Gegenüber. Aus der Affäre wurde eine nörgelige Kampf-Beziehung, zunehmend geprägt von der Rache, die gekränkte Studentenbewegungs-Geschädigte in Professorenschaft und Verwaltung an den schwächer werdenden seinerzeitigen Enthusiasten nahmen.

Dazu wurde alles getan, um die Enthusiasten nicht nur (per Berufsverbot oder schlicht durch Berufungspolitik) draußenzuhalten und den wenigen, die es hinein schafften, den Enthusiasmus auszutreiben, nach einer Schrecksekunde wurde auch mit einer Gegenreformation begonnen, die immer mehr Schwung bekam und heute dominant und hegemonial ist. Der Generationenwechsel bei den Profs, demnächst abgeschlossen, wurde genützt, um den „linken Spuk“ abschließend zu einem einmaligen Anfall, der sich nicht wiederholen darf, zu erklären und die damalige Universitätsreform zu einem kaum mehr verständlichen Stück Vorgeschichte zu verkapseln.

Angesichts des grauen Technokraten-Alltags, der stattdessen eingezogen ist, fragt man sich natürlich, ob da noch Reste einer Glut sind, die wiederaufflammen könnte, ob in der nächsten Generation eine Verjüngung in einer neuen Leidenschaft denkbar oder gar zu erwarten ist.

Typischer Verlauf einer leidenschaftlichen Affäre

Die Ambivalenz der „Liebesbeziehung“ der Studentenbewegung bestand zentral darin, dass ihr Objekt, die Universität, als massiv diskreditiert und von der Teilnahme am Nationalsozialismus beschädigt erkannt wurde. In Bernhard Schlinks „Vorleser“ wird romanhaft personalisiert vorgeführt, wie eine solche Affäre in Fremdheit enden muss. Die „Liebesbeziehung“ bestand zur Idee, nicht zur Realität der Universität, sie bestand zu ihrer Substanz, einer denkbaren und in wenigen Beispielen verwirklichten kritischen Wissenschaft, nicht zu der Forschung, die da wirklich geschah. Die Deutsche Universität musste aus ihrem bildungsbürgerlichen Elitismus und Dünkel und aus ihrem nationalistischen Korsett befreit werden. Sie musste demokratisiert und internationalisiert, in die Gesellschaft und die Welt zurückgeführt werden, aus der sie sich traditionell elitär abgesetzt und damit gerade den Zugriffen der Politik hilflos ausgeliefert hatte. In den Mühen der bürokratischen Ebenen, der internen Konflikte und der „Stellungskriege“ zur Abwehr der Gegenreformation misslang vieles, siegte zuletzt wie in allen Revolutionen bisher die Verwaltung, wurde den Enthusiasten die Liebe ausgetrieben, wurde die Dauer-Beziehung erst zur Überforderung, dann zur grauen Langeweile.

Humboldts großartige Berliner Universitätsreform mit ihren Zentralstücken der Einheit von Lehre und Forschung und dem Ziel von Bildung im Gegensatz zu Ausbildung hatte einen Geburtsfehler: Sie setzte Elitismus und Nationalismus von Wissenschaft und Bildung stillschweigend voraus. Es ging um die Bildung einer nationalen Kultur-Elite. Vielleicht wäre das gutgegangen, wären die politischen Ansprüche dieser nationalen Kultur-Elite, die immerhin liberal und republikanisch waren, nicht 1848 nachhaltig niedergemacht und anschließend von der monarchischen Reaktion auf Dauer niedergehalten worden. So blieb nur das nationale Projekt übrig, das sich 1914 in der Kriegsbegeisterung auch und gerade der Kultur-Elite endgültig desavouierte.

Nicht genug damit, gab es auch in der anschließend endlich erreichten Republik genügend Angehörige der Kultur-Elite, denen es nicht genügte, dass ihnen die Sozialdemokratie ohnehin schon die weitergehenden Ansprüche der Kommunisten niedergekämpft hatte. Nationalismus und Antisemitismus waren nicht den ungebildeten oder akademisch abgestürzten Rabauken wie Hitler oder Röhm vorbehalten. Dr. Goebbels war auch dabei – und dazu zahlreiche willfährige Juristen, höheren Beamten und Verwaltungsfachleute, alle gebildet und elitär – und „schreckliche Juristen“ oder allgemeiner „schreckliche Verwalter“. Die Künstler und Intellektuellen, besonders aber die Universitäten waren nur zu bereit, jüdische Kollegen zu vertreiben oder doch vertreiben zu lassen. Ein nicht geringer Arisierungsgewinn bestand in den von ihnen geräumten Positionen, in die man nachrücken konnte. Die besonders Feinsinnigen aus der Kultur-Elite wandten sich angeekelt ab und zogen sich in eine Privatheit zurück, die später „innere Emigration“ genannt wurde.

Die Nazis brauchten die Intellektuellen nicht als Ideologen. Aber die Wissenschaft und die Universität dienten sich freiwillig der Nazi-Politik an: eher folkloristisch z.B. in germanistischer Germanenkunde, in deutscher Volkskunde, auch in soziologischen Lehren von der Volksgemeinschaft und vom Führertum in Betrieb und Staat, schon gefährlicher in Rassenlehren mit ihren Vermessungen und in medizinischen Eingriffen und Experimenten, in sozialer und körperlicher Auslese über Lehren von Degeneration und Unverbesserlichkeit, von Volksschädlingen, Verwahrlosten und Schmarotzern am Volkskörper. Es ist nicht wahr, dass während der Nazi-Zeit die gute Tradition der Deutschen Universität sich ins Exil in den USA, in Shanghai oder in der Türkei verlagert hätte – ein relevanter Teil davon trat sehr wohl in den Dienst der Nazis mit öffentlichen Rektoratsreden oder mit weniger öffentlichen Ausschluss-Legitimationen in der Fürsorge-Politik und wertfreier Planung für die Besiedelung der Ostgebiete, die nach 1945 bruchlos in Forschung über die Vertriebenen umgeleitet werden konnte – von der medizinischen Forschung gar nicht zu reden, die ihr „Material“ aus den KZs und den dort stattfindenden Menschenversuchen bezog.

Die „Liebesaffäre“ der Studenten mit der Universität bestand darin, deren republikanische Anteile gegen diese elitäre, bornierte, nationalistische, opportunistische, autoritäre, quietistische, kurz: der Dialektik der Aufklärung gründlich verfallene Tradition wiederbeleben zu wollen. Die „Liebesaffäre“ bestand in der unverzagten Zuversicht, dass diese ruinierte Einrichtung noch zu retten war. Sie war es nicht und sie hat den Enthusiasten diesen Glauben an ihr Bestes nie verziehen.

Wieviele Sendungen der Flaschenpost sind nötig?

Es wäre zu billig, die Entwicklung, die heute von vielen als Niederlage verstanden wird, nur auf die Stärke der anderen Seite zurückzuführen. Man muss nach den eigenen Fehlern fragen. Der wesentliche Fehler war die Unklarheit und Uneinheitlichkeit des Projekts.

Das Extrem an Uneinheitlichkeit äußerte sich in den K-Gruppen, die keinerlei „Liebesaffäre“ mit der Universität hatten, vielmehr sie als Hort der Reaktion oder zumindest des falschen Bewusstseins sahen und daher entweder a/ sie rechts liegen ließen und sich lieber gleich der Agitation der Arbeiter zuwandten oder b/ die dort gelehrten Inhalte scharf kritisierten, und zwar die mit einem „linken“ Anspruch – und als bessere Alternative ihre eigenen Kapital-Kurse und sonstigen Schulungen anboten. Ein nicht geringer Teil der Bewegung wandte sich also sehr wohl von der Universität ab, ein anderer machte denen, die das nicht taten, das Leben schwer. Seminare zu „linken“ Themen gerieten dadurch zu marxologischen Schaukämpfen, die für die meisten Studierenden von sehr begrenztem Interesse waren und ihnen unmissverständlich deutlich machten, was Marx-Grundkurse mit Prüfungs-Abschluss ohnehin vermittelten: Ein jetzt „linker“ Katechismus war zu memorieren; wer den nicht beherrscht, wird fertiggemacht – und die anti-autoritär eingestellten unter den „linken“ Profs nach Möglichkeit gleich mit.

Die Unklarheit äußert sich darin, dass wir hauptsächlich die Inhalte austauschten, aber jedenfalls auf Dauer die Form nicht ändern konnten. Studium blieb in Summe ein Vehikel des sozialen Aufstiegs, der Rekrutierung in „gehobene“ Positionen. In den Sozialwissenschaften sind übrigens die Positionen, um die es geht, nur maßvoll „gehoben“, in der Hauptsache Funktionärs-Positionen, mittlere und nur gelegentlich obere, darunter damals vor allem die von LehrerInnen, dazu Positionen in Planung und Verwaltung. Die wissenschaftliche Ausbildung dafür hätte den Witz (und die einzige Berechtigung) darin, dass die so Ausgebildeten die Institutionen, in die sie gehen, fortschrittlich verändern können sollen. Beides, die Ausbildung gezielt dafür wie die anschließende umwälzende Praxis hat nur sehr begrenzt stattgefunden.

Andere wissenschaftlich unterstützte Projekte, etwa meines, das zuletzt auf Abschaffung des staatlichen Strafens zielte und sich gut mit der breiten Strömung einer Erziehungs-Reform aus dem Geist der anti-autoritären Aufklärung verband, erreichten immerhin Zwischenerfolge, die aber enorm erschwert wurden durch die militanten „linken“ Fraktionen. Gerade auf dem Gebiet hatten wir damals und haben wir heute wieder unter der Fahne „Terrorismus“ den endgültigen roll-back. Schon davor gab es eine Phase der neoliberal forcierten sozialen Ausschließung, die auch hier – die USA und GB waren Vorreiter – das Gefängnis und die Härte im staatlichen Umgang mit der unteren Unterschicht, denn darum geht es in der Hauptsache, als legitim bis erforderlich umdefinierten. Dieses Projekt war an der Universität ohnehin nicht am besten aufgehoben und wurde auch nicht vorrangig von dort betrieben. Ein Forschungsinstitut wie das, das ich (in Wien) gegründet habe, ist dafür besser geeignet.

Das verweist auf die Universität als Hegemonie-Projekt: Die zukünftige herrschende Klasse soll mit Selbstverständlichkeiten versehen werden, die einer befreienden Entwicklung der Gesellschaft zuträglich sind. (Wie oben gesagt: Wir erreichen in den Sozialwissenschaften ohnehin nur den unteren Funktionärs-Teil der herrschenden Klasse, die „Herrschafts-Knechte“.) Irgendwelche „linke“ Hegemonie ist schon ab den 70ern verlorengegangen: Heute hat die mit der neoliberalen Phase verbundene betriebswirtschaftliche Denkweise in inzwischen schon zwanzig Jahren die Selbstverständlichkeiten gründlich umgedreht. Heute ist wieder selbstverständlich, dass der Staat die Aufgabe hat, die Bevölkerung zu Diversem zu zwingen, nicht die, eine Infrastruktur zu schaffen, die uns allen das Leben erleichtert. Der Staat ist heute dazu da, bestimmten Schichten das Leben schwer zu machen, zumindest wird das billigend in Kauf genommen.

Bleibt das Projekt, sich und andere „Linke“ in die relativ komfortablen Positionen an der Universität zu bringen. Das ist ohnehin kein besonders zukunftsfähiges Projekt, wenn es sich nicht mit anderen Inhalten verbindet, für die man gerade solche Leute braucht. Das geht in zweierlei Hinsicht zu Ende: „Linke“ waren schon seit einiger Zeit nur mehr gelegentlich in diese Positionen zu bringen, wenn sie zugleich Frauen waren. Ansonsten war die Selbstbezichtigung schon lang ein Hindernis, mit oder ohne „Berufsverbot“. Zugleich wird daran gearbeitet, die universitären Positionen möglichst unkomfortabel zu machen. Als Infrastruktur für Forschung waren sie ohnehin schon lang nicht mehr besonders geeignet, in Zukunft werden die Universitäten auch die Lehre so reglementieren und unter Bürokratie-, Kontroll- und Arbeitshetze-Druck setzen, dass das entfremdete Arbeit wie andere auch sein wird.

Hier kommt ein Verständnis von intellektueller und gesellschaftskritischer Arbeit ins Spiel, das erläutert werden muss: Die Arbeit von „genau hinsehen, geduldig nachdenken und sich nicht dumm machen lassen“ wird durch Forschung nur gelegentlich gefördert und von dem Typus von bürokratischer Forschung, den uns Drittmittel-Geilheit und DFG-Selbstverwaltung aufdrücken, eher behindert. Sie wird auch durch die Arbeit in der universitären Lehre nur befördert, wenn man sehr gezielt studentische Projekte initiiert und betreibt, was derzeit noch möglich ist, aber zu wenig getan wurde und wird. Sie braucht vor allem eigene freie Zeit, in der man Beobachtungen sortieren und Nachdenklichkeit pflegen kann. Wissenschaft hat (wie Kunst) häufig davon gelebt, dass Leute sich eine Brot-Arbeit fanden, die genug solche freie Zeit übriglässt. (Frühe Astronomen und Physiker haben dafür dem Herrscher das Horoskop gelegt, frühe Chemiker haben ihm versprochen, aus Blei Gold zu kochen, frühe Sozialwissenschaftler haben dafür als Fürstenerzieher und Berater fungiert.) Das kann man alles tun, man kann sich sein Geld auch als IT-Consultant oder in der Marktforschung verdienen, wenn dabei genügend Zeit und Energie für wissenschaftliche (oder künstlerische) Arbeit übrig bleibt. Das ist auch an der Universität nicht grundlegend anders: Man unterrichtet die Kinder der Oberschicht – und das ist durchaus entfremdete Arbeit –, um im Gegenzug seine wissenschaftliche Arbeit einigermaßen unbehelligt tun zu können. Das Verhältnis des entfremdeten zu dem selbstgewählten Anteil muss stimmen, egal wo und mit welcher Arbeit ich meine Brötchen verdiene. An der Universität ist dieses Verhältnis sogar besonders gefährdet, weil die Lehre, sofern ihre Verbindung zur Forschung noch hergestellt werden kann, Aspekte von „nicht-entfremdet“ hat. Für den Prof, der als Forscher antritt (auch dafür ausgewählt) und dann gezwungen wird, zum Wissenschafts-Manager und Lehrer zu mutieren, stimmt es ohnehin nur bedingt. Wenn die gegenwärtige Uni-Reform abgeschlossen ist, wird es überhaupt nicht mehr stimmen. Man kann als Sozialwissenschaftler durchaus besser dran sein, einen anderen entfremdeten Job zu tun, in dem mehr selbstbestimmte Zeit und Energie übrigbleibt.

Kleiner Exkurs über moralische Universitätskritik als Eliten-Sehnsucht

Natürlich kann man sich eine neue emotionale „Besetzung“ der Universität nicht herbeiwünschen, wie es die wöchentliche Moralpredigt in Zeitungsform, Die Zeit aus Hamburg tut. Dort erhalten wir etwa von Martin Spiewak4 die Aufforderung, die Universität „muss sich zuallererst selbst ernst nehmen“. Der Schaden bestehe vor allem in Stillosigkeit: „Bis heute sind unsere Hochschulen auf Gleichförmigkeit getrimmte Ausbildungsfabriken geblieben. Die 68er-Bewegung hat ihnen nicht nur den Muff aus 1000 Jahren ausgetrieben, sondern gleichzeitig Stil, Tradition und Identität. Im Zuge der Vermassung machte sich Heimatlosigkeit, ja Verwahrlosung breit. Akademische Formen wurden durch Verordnungen ersetzt, die persönliche Bindung des Studenten an einen Hochschullehrer durch anonymes Desinteresse.“

In diesen wenigen Sätzen ist das ganze Elend der moralistischen Universitäts-Kritik enthalten: Der „Muff aus 1000 Jahren“ wird als Gegensatz zu „Stil, Tradition und Identität“ gesetzt und also missverstanden als „verstaubter Traditionalismus“. Gemeint war in der damaligen Aktion der Hamburger Studenten5 aber der Gestank des „tausendjährigen Reichs“ der Nazis, verwiesen wurde damit (am 9. November, dem damals öffentlich nicht beachteten Tag der Nazi-Pogromnacht) auf die aktive Teilnahme der bildungsbürgerlichen Deutschen Universität am Antisemitismus und am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen, sowie darauf, dass es an den Universitäten personelle und intellektuelle Kontinuitäten aus der Nazi-Zeit bis in die 60er Jahre gab. Der Moralist der Zeit hat diesen Hintergrund vergessen. Er geht davon aus, schlampige Recherche könne durch Moralismus kompensiert werden.

Kritisiert wird ferner die auf „Gleichförmigkeit getrimmte Ausbildungsfabrik“, offenbar im Gegensatz zu einer auf Ungleichheit, also Auslese getrimmten Bildungs-Werkstatt mit „persönlicher Bindung des Studenten an einen Hochschullehrer“. Dieses kuschelige Ideal einer Eliten-Anstalt mit persönlicher Bindung steht gegen die „Vermassung“ mit ihrer „Heimatlosigkeit, ja Verwahrlosung“. Impliziert wird, die „Vermassung“ hätte etwas mit der mangelnden Selbstachtung der Universitäten zu tun und sei ein Effekt der 68er Bewegung und der Universitätsreform jener Zeit, die tatsächlich in den 1970ern einen Ausbau der Universitäten von historischem Ausmaß brachte. Wer davor an einer Großstadt-Universität studierte, weiß noch, dass es damals eine „Vermassung“ zu erleben gab, die sich mit der heutigen leicht messen kann. (Ich erinnere aus den frühen 1960ern in Wien Vorlesungen, deren Ton in einen zweiten Hörsaal übertragen wurde, und das Germanistik-Proseminar im Audi Max.)

Was der Moralist „Ausbildungsfabriken“ nennt, war eine ungeheure Anstrengung, um die „Vermassung“ durch Ausbau der alten und den Bau neuer Universitäten zu beenden. Dass der Baustil der 1970er zum Fabrikartigen tendierte, ist kaum den Universitäten anzulasten – ebensowenig wie die Tatsache, dass diese damals erweiterten Kapazitäten seither (genauer: seit den 1990ern) wieder auf das Niveau der frühen 1960er Jahre vollgepumpt (und trotz zunehmender Nachfrage aktiv reduziert) wurden.

Die Hochschul-Pädagogik jener Reform setzte genau auf das kuschelige Ideal der kleinen Arbeitsgruppen, das der anschließenden „Vermassung“ nicht gewachsen war und zur großen Massen-Veranstaltung zurückreformiert werden musste. Das hat nichts mit den Universitäten selbst zu tun, aber alles mit der Sparpolitik, die trotz wachsender Studentenzahlen (die in Deutschland immer wieder als im internationalen Vergleich zu niedrig kritisiert werden) seit nunmehr bald zwanzig Jahren rigoros durchgezogen wurde und wird – auf dem Rücken des Personals (an meinem Fachbereich kommen heute doppelt so viele Studierende auf eine Professur wie Ende der 1980er) und der Studierenden.

Die Wiedereinführung akademischer Rituale, die man in der Tat allenthalben beobachten kann, ist der hilflose Versuch, in dieser „Massensituation“ Würde zu simulieren. Das ist nett, aber keine Kompensation für den würdelosen Alltag der Universitäten, der die Folge ihrer aktiven Verelendung durch die Hochschulpolitik ist.

III. Die Rahmenbedingungen der Reform und der ausbleibenden Gegenwehr

Die Bildungsreformen des Neoliberalismus

Am Beginn stand der entschlossene Wille der Politik, den Staat kleinzufahren, also die Ausgaben zu verringern. Der Drang zur Reformierung der Universitäten entstand in den 1980ern zuerst aus dem staatlichen Sparprogramm. Der großzügige Ausbau des Bildungssystems in der Reform der 1970er, der die Universitäts-Kapazitäten in einer beachtlichen finanziellen Anstrengung und mit einem Konzept von politischer Bildung in historischem Ausmaß erweitert hatte, wurde jetzt durch entschlossenes Sparen zu Ende gebracht. Besonders die Universitäten wurden von den Spar-Politikern als relativ wenig riskantes Betätigungsfeld erkannt. Es wurde nicht mehr investiert, sondern rationalisiert – was in der Dienstleistung nur schlechtere Dienste, mehr Selbstbedienung oder intensivere Arbeit des Personals heißen kann.6 Das alles wurde durch eine Politik erreicht, in der die aktive Verelendung der Universitäten durch eine Beschimpfung der Universitäten als verkommen und ineffektiv und der Studenten wie der Profs als „faule Säcke“ und „Scheinstudenten“ begleitet wurde. Es wurde tatsächlich ein gewaltiger Produktivitäts-Schub erreicht: Heute werden in den großen Fächern doppelt so viele Studenten pro Prof durch die Universität geschleust wie am Beginn der Spar-Politik. Es ist gelungen, die Zustände an Überfüllung und Infrastruktur-Schäbigkeit wiederherzustellen, die vor der Reform der 1970er herrschten.

Seit den 1990er Jahren hat das betriebswirtschaftliche und Berater-Vokabular sich auch in der Bildungs- und der Bildungsreform-Diskussion durchgesetzt. Die Universitäten wurden davon ohnehin eher spät erreicht: „Leistungsvereinbarungen“ und „Monitoring“, auch „Module“ und „Flexibilisierungen“ gab es in verschiedenen Bereichen der Verwaltung, zum Beispiel in der Sozialarbeit oder im Knast, schon in den 90ern. Das betriebswirtschaftliche Vokabular, entwickelt zur Durchsetzung von „shareholder value“ und „lean production“, auf deutsch: Personalreduktion, war dafür gut zu gebrauchen und wurde hegemonial.

Es wurde zwar auch jetzt wieder von „Bildungskatastrophe“ geredet, aber einen Paukenschlag wie seinerzeit das Buch von Picht als Markierung des Beginns gab es nicht. Der neue „Diskurs“ entstand eher schleichend, der Paukenschlag kam später in Erscheinungsform von PISA und IGLU. Seither ist es besonders dringlich, Deutschland oder Österreich oder welcher Nationalismus immer gerade ansteht, auch in der Ausbildung „europareif“ und „in der globalen Wirtschaft wettbewerbsfähig“ zu machen.

Natürlich wird das Konkurrenz-Vokabular auch auf die Ebene der Universitäten heruntergerechnet (auch wenn es in Deutschland eine relevante Mobilität zwischen den Unis gar nicht gibt), vorbereitet durch die „Rankings“ von Spiegel und anderen Unterhaltungsmedien. Die Freude daran, anderen dabei zuzusehen, wie sie in einem möglichst harten Wettbewerb untergehen, gehört ja längst zu unseren liebsten Freizeit-Hochgefühlen und äußert sich noch in dem Beratervorschlag, den Wettbewerb darum, wer Elite-Uni wird, als „Deutschland sucht die Spitzenuni“ (mit derselben Abkürzung DSDS wie „Deutschland sucht den Superstar“, der erfolgreichen Teenie Casting-Show von RTL) zu etikettieren. In der populistischen Unterhaltungs-Politik lassen wir uns diese Chance nicht entgehen.

Die Reform hat sich also um mehrere Motive angereichert und hat auch weitere Interessen auf sich gezogen, nicht zuletzt das der Beraterfirmen, die den öffentlichen Dienst als Geschäftsfeld öffnen wollen, aber auch das von neuen Bildungsplanern, z.B. an den Unis von Greifswald, Bochum oder Hohenheim. Das Motiv der erleichterten Internationalisierung des Studiums (als ob das bisher nicht möglich gewesen wäre) leuchtet Hochschullehrern besonders ein, auch eine genauere Strukturierung der Studiengänge finden manche gut (andere lehnen das als „Verschulung“ ab). Mit dem schönen Wort „Bologna-Prozess“ wird suggeriert, dass hier ein Zug rollt, der nicht mehr aufzuhalten ist. Vielen ist ein solches Bild Anlass, schnell aufspringen oder gar weit vorne dabeisein zu wollen.

In einer Kurzformel kann man sagen, dass es in dieser Universitätsreform der Gegenaufklärung um die Anpassung an die neue Produktionsweise des Neoliberalismus und ihren „Arbeitskraft-Unternehmer“ geht.

Aus dem, was bisher an Veränderungen beschlossen und dekretiert, sowie aus dem vielen Unsinn, der in den letzten Jahren besonders von Politikern zum Thema Universitätsreform öffentlich geredet wurde, samt Lehrer-, Studenten- und Professoren-Beschimpfungen, Elite- (deutsch: Großmanns / frau-) Phantasien, sowie uninformierten USA-Bezügen, kristallisieren sich inzwischen deutlich die widersprüchlichen Ziele der Reform heraus:

  • Es soll gleichzeitig der Anteil der Leute mit Zertifikaten der höheren Bildung erhöht und am System der höheren Bildung gespart werden. Das ist nur möglich durch eine Erhöhung des „Durchsatzes“, also Verkürzen der Zeit bis zum (ersten) Zertifikat. Dazu sollen die Lehrer und Professoren zu mehr und schnellerer Arbeit veranlasst werden. Dem dienen auch BA, Verschulung durch Modularisierung, Leistungsprämien für Profs und allmähliches Aufheben des Beamten-Status, in Aussicht genommene Deputat-Erhöhungen, Altersklauseln für den Mittelbau, Abschaffen der Habilitation, Demontage der Selbstverwaltung, Verschärfung von Kontrollen und Evaluationen (als Grundlage für Leistungsprämien).
  • Studiengebühren werden für den ersten Abschluss (BA) moderat bleiben und mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht den Universitäten, sondern den klammen Staatskassen zugute kommen. Richtiges Geld wird hingegen der MA kosten (und einbringen), besonders wenn er als berufsbegleitend oder Weiterbildung, also für Leute organisiert werden kann, die schon verdienen oder denen die Firma zuzahlt.
  • Das Zertifikat soll noch stromlinienförmiger als bisher den Bedürfnissen von Wirtschaft und Verwaltung entsprechen und es soll (weil Berufe wie Lohnarbeitsplätze tendenziell reduziert werden) seine Träger zu selbständiger Tätigkeit (als Arbeitskraft-Unternehmer und nicht mehr unbedingt in der klassischen Form von Professionen) instand setzen. Dem dient der MA, der mit seiner Berufsorientierung den Charakter vorgeschrieben bekommt, der bisher Fachhochschul-Studiengänge auszeichnen sollte.
  • Die Reform ist hier besonders auffallend unentschieden: Einerseits wird auf erhöhte Relevanz der Abschlüsse für Wirtschaft und Arbeitsmarkt gedrückt und abstrakt von höherer Flexibilität geredet, andererseits kann man Abschlüsse doch nur berufsförmig denken und will die Ausbildung (mit dem Zaubermittel der Module) genau planen und möglichst schulisch durchorganisieren. Es ist gerade in der Ausbildung für die viel berufene „Wissensökonomie“ absurd, auf Berufe zu setzen, die zugleich zugunsten einer weniger stabilen Form von Qualifikation der Arbeitskraft aufgelöst werden sollen. „Flexible Berufe“ sind ein Widerspruch in sich.
  • Wissen soll als Rohstoff von „Innovationen“ profitabel verwertbar sein und seine Produktion und Vermittlung soll selbst profitablen Kapitaleinsatz ermöglichen. Das lässt sich durch Privatisieren der Forschung wie der Ausbildung erreichen. Besonders teure und riskante, also nicht so schnell profitable Forschung soll freilich weiter staatlich finanziert werden. Dazu soll offenbar die von den Universitäten unabhängige Struktur ausgebaut werden (Max-Planck-Institute, Staatsforschung). Die Verbindung von Lehre und Forschung ist in die Sonntagsreden abgedrängt worden: Organisatorische Ideen, wie sie herzustellen und zu sichern sei, gibt es nicht, geschweige denn Anstrengungen zur Realisierung.7

Die Universität der Zukunft

Das angestrebte Modell von Universität ist dreistufig:

Die neuen BA-Studiengänge (sechs-semestrig) sollen wohl in der Hauptsache der schnellen Abfertigung möglichst großer Studenten-Zahlen mit doch einem akademischen Grad ohne Aufhebung des freien und allgemeinen Universitäts-Zugangs dienen. Inhaltlich können wir uns offenbar nicht entscheiden, denn es ist von „berufsbildend“ die Rede, aber allen ist klar, dass es in der kurzen Zeit keine Spezialisierungen geben kann, noch ganz abgesehen von der Frage, ob „die Wirtschaft“ den neuen akademischen Abschluss „annehmen“ wird. Am wahrscheinlichsten ist, dass der BA jedenfalls in den Sozialwissenschaften einer nachgeholten gesellschaftlich-politischen Allgemeinbildung dienen wird (wie es jetzt schon das „Warte-Studium“ tut, das abgebrochen wird, wenn sich doch die eigentlich angestrebte Arbeitsstelle findet).

Die neuen MA-Studiengänge, ein- bis zwei-jährig, aber bisher gibt es praktisch nur zwei-jährige, sollen entweder spezialisierte Berufsausbildung bieten oder wissenschaftliche Orientierung haben. Die Vorgaben für sie wie für die Modularisierung der Studienordnungen lassen keinen Zweifel daran, dass es auch hier um einen hohen Grad von Verschulung, wenig Selbständigkeit und also um das Gegenteil dessen geht, was die Fähigkeit zur wissenschaftlichen Arbeit ausmacht. In allen bisherigen MA-Entwürfen verkürzt sich die Abschlussarbeit von bisher sechs bis neun Monaten auf drei bis vier – sie wird also zu einer größeren Seminararbeit werden. In vielen Fällen wird durch die Spezialisierung der MAs die Identität der Fächer aufgelöst: Man kann nicht mehr (wie immer exemplarisch, aber doch dem Anspruch nach) eine wissenschaftliche Disziplin studieren und nach Abschluss für sie zuständig sein, sondern man hat einen Abschluss für eine interdisziplinäre Spezialität, von der irgendein universitäres Gremium phantasiert und hofft, es gebe dafür einen „Markt“ innerhalb oder außerhalb der Universität. Insofern stehen die MAs besonders unter Erfolgsdruck und auch unter dem Vorbehalt, dass sie nicht stabil sein müssen: Ihre Module sollen je nach Nachfrage neu zusammengesetzt und quer zu den traditionellen Fächern wie den bestehenden Curricula zu jeweils verkäuflichen Qualifikations-Profilen kombiniert werden.

Das Verhältnis der universitären MA-Studiengänge und -Abschlüsse zu denen der Fachhochschulen ist offenbar nicht sehr gut durchgedacht. Beide sollen einer (flexiblen) Berufsausbildung dienen. Im Zweifel haben die Universitäten die Beweislast zu zeigen, warum eine bestimmte Berufsausbildung nicht genauso oder besser an einer Fachhochschule stattfinden sollte. Umgekehrt: Wenn sie ihre Studiengänge zu sehr über Berufsausbildung legitimieren, gibt es keinen Grund, warum die Bedingungen (besonders die Lehrdeputate) an den Universitäten nicht mit denen an den Fachhochschulen gleichgezogen werden sollten.

Für die Pflege der wissenschaftlichen Disziplinen bleibt im Ausschluss-Verfahren nur das Doktorats-Studium übrig. Davon wird freilich derzeit nicht mehr viel gesprochen, nachdem die Welle der Graduiertenkollegs schon durchgelaufen ist. Die Graduiertenkollegs sind allerdings auch nicht nach Fächern organisiert, sondern nach Themen, die meist enger als ein Fach sind und nur im glücklichen Fall wirklich interdisziplinär funktionieren. Die einzige „disziplinär“ geschnittene Form ist das „Promotionszentrum“. Auch hier ist übrigens die mit dem Schlagwort „Betreuung“ verbrämte und besonders unsinnige europäische Tendenz, ein eigenes „Promotionsstudium“ zu installieren, also auch auf dieser Ebene noch mögliche Selbständigkeit einzuschränken.

Von Forschung an den Universitäten ist in den Reform-Begeisterungen auch nicht viel die Rede. Sie kommt freilich – operationalisiert als Menge der „eingeworbenen Drittmittel“ – in den Kriterien für die Leistungs-Entlohnung allgemein und bei den Junior-Professuren besonders vor. Irgendwelche Infrastruktur für Forschung ist an den Universitäten auch weiterhin nicht vorgesehen, obwohl sie kontrafaktisch von der DFG und bei sonstiger „Drittmittel-Einwerbung“ vorausgesetzt wird. Insgesamt wird Forschung an der Universität eher als ein Traditionsbestand und im Zweifel als ein Mittel der Finanzierung von Mittelbau-Stellen gesehen. Irgendwelche starken Aussagen, wie die Verbindung von Forschung und Lehre (die nach wie vor in allen Sonntagsreden vorkommt) tatsächlich organisiert werden soll, sucht man vergebens. Die Unterscheidung von Lehr- und Forschungs-Professuren, die man manchmal genannt findet, verweist ebenso wie die Ideen zur Abschaffung der Habilitation darauf, dass man die Bindung der Lehre an Forschung eher zugunsten reiner „Lehrer“, jedenfalls im BA- und wahrscheinlich auch im MA-Bereich, abschaffen möchte. Tatsächlich wird eher davon gesprochen, die außeruniversitäre Forschung zu stärken. Die Universität ist schon lange kein Ort der Forschung mehr. Wer hier Forschung betreibt, tut das gegen die Strukturen. Diese Tendenz wird in der laufenden Reform weiter vorangetrieben.

Warum es kaum Gegenwehr gibt

Es ist auffallend, auf wie wenig politische Gegenwehr die von außen angetragene Reformierung innerhalb der Universität selbst stieß. Fast alle Profs lehnten sie ab oder fanden sie zumindest überflüssig, übten sich zunächst in Passivität und taten, was alle Lehrer in Gesellschaft von anderen Lehrern am liebsten tun: jammern. Der Mittelbau konzentrierte sich auf seine Promotionen und Habilitationen. Die Studenten sahen auf ihre möglichst schnellen Abschlüsse und entpolitisierten sich.

Überall gab es auch eine Fraktion, die sich von einzelnen Elementen der Gegenreformation einen Vorteil versprachen: Die Verwaltungen der Universitäten und besonders die Präsidenten wurden mit enormem Machtzuwachs dafür eingekauft und setzten sich an die Spitze der Bewegung, weil sie so ihre Fachbereiche und Profs unter Druck setzen konnten. Einzelne Fachbereiche hatten besonders zu gewinnen, zum Beispiel die Wirtschaftswissenschaften, die nicht nur das betriebswirtschaftliche Vokabular beisteuern, in dem neoliberale Reformen generell abgehandelt werden, sondern sich mit MBA- und besonders Executive-MBA-Studiengängen in eine lukrative Branche der Aus- und Weiterbildung einklinken können. Und einzelne Prof-Gruppen, die ohnehin am liebsten ein Spezial-Fach unterrichten oder sich mit einem MA aus ungeliebten Grund- oder Lehrer-Studiums-Verpflichtungen ausklinken, betrieben schnell entschlossen neue MA-Studiengänge. Kaum jemand engagierte sich – verständlicherweise – mit besonderem Elan für die BA-Studiengänge. Alle Profs wollen ihre Lehre möglichst weit „oben“ im Studium angesiedelt wissen: Das bringt Prestige und kleine Gruppen, während am Studien-Eingang die Massen-Veranstaltungen und Vorlesungen dräuen, kein Prestige, enorme Vorbereitungs-Arbeit, anstrengend in der Durchführung, anonym und ohne Erfolgserlebnisse – und ein beachtlicher Teil dieser Anfänger bricht ohnehin bei erster Gelegenheit ab, wobei diese erste Gelegenheit in einem Job-Angebot oder in einem Studienplatz in dem Fach oder an dem Ort besteht, die man nicht gleich im ersten Anlauf bekommen konnte.

Man kann die abwartenden wie die vorwärtsdrängenden Reaktionen in einem Satz zusammenfassen: Alle versuchten, die eigene Haut zu retten.

Dazu gab es schon vor dem Reformierungs-Angebot einigen Anlass: Der gröbste war die enorme Zunahme der Studenten bei gleichzeitigem Stellenabbau in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften.8

Die Situation des fast kompletten Personal-Austausches innerhalb eines Jahrzehnts (Folge des starken Ausbaus der Unis in den 1970ern) macht Widerstand nicht gerade leichter. Die Fachbereiche verfügen, besonders seit der de-facto Auflösung der Selbstverwaltung, nur über schwache Mechanismen, um Neue zu integrieren – aber auch für eine Neu-Konstitution, die eigentlich nötig wäre, reichen jedenfalls die institutionellen Vorgaben nicht. Ob sich gegen diese etwas Neues entwickelt, bleibt abzuwarten.

Die Reform von oben wurde und wird weitgehend abgelehnt, auch die neue Art von byzantinischer Politik wird abgelehnt. Das Verhältnis zur Verwaltung, das immer schon gespannt war, ist jetzt besonders gestört, seit die Verwaltung mit ihren neuen Möglichkeiten betont „herrisch“ auftritt. Die bürokratische Arbeit hat dadurch enorm zugenommen. Das wird von den meisten mit privatistischer Verdrossenheit beantwortet.

Was stark geblieben ist, ist interessanterweise die Forschung in ihren vorgebahnten Ausrichtungen, also die Projekt-Forschung über DFG und EU – zugleich der Ausweg ins Internationale, in „die Profession“, wo Ansehen auf Forschung und Publizieren beruht. Als Prof kann man sich damit zumindest auf Zeit dem lokalen Elend entziehen.

Grundlegend verändert hat sich die Situation des Studierens, an einer Uni wie Frankfurt, die trotz Kleinstadt funktioniert wie eine Großstadt-Uni, besonders sichtbar: Die schlichte Entwicklung der Wohnungspreise hat die hier früher besonders starke studentische Subkultur aufgelöst. Dazu kommt die allgemeine Tendenz Jugendlicher, länger in der Herkunftsfamilie zu bleiben. Das Ergebnis ist, dass Studenten am Stadtrand und im Umland wohnen und damit Schwierigkeiten haben, auch nur abends an organisierten Veranstaltungen teilzunehmen, geschweige denn, die Möglichkeiten von spontanen Zusammentreffen zu genießen. Damit haben sich auch die politischen Zusammenhänge reduziert. Übrigens trifft das weitgehend auch auf die Profs zu, die ebenfalls außerhalb wohnen. Die allgemeine Verarmung der Städte, die das kulturelle Angebot zuerst getroffen hat, hat nichts gegen den Zerfall einer intellektuellen Kultur getan. Eine universitäre Politik, dem wenigstens mit Wohnheimen und sonstiger studentischer Infrastruktur gegenzusteuern, hat es nicht gegeben. Nach den Unruhen der 60er und 70er Jahre (in Frankfurt „Wohnungskampf“ – besonders im Westend, also in unmittelbarer Uni-Nähe – und „Startbahn-Auseinandersetzung“) waren wohl alle erleichtert, die studentische Kultur verschwinden zu sehen. Dass das auch Kosten haben könnte, hat niemanden interessiert. Mit der Infrastruktur an Wohngemeinschaften sind auch die Szene-Lokale weitgehend verschwunden.

„Studium“ hat wohl insgesamt seinen Charakter verändert:

In der Reform der 70er sollte es die Verallgemeinerung eines Oberschicht-Privilegs sein und allen jungen Leuten die Möglichkeit der „Bildung“ durch die Beschäftigung mit Wissenschaft geben. Als Statuszuweisung sollte es damit entwertet werden, durch die Verallgemeinerung sollte die Konkurrenz herausgenommen werden. Das Gegenteil ist eingetreten: Durch den Verlust der Funktion von Statuszuweisung hat sich die Konkurrenz verschärft. Außerdem ist sie „defensiv“ geworden: Man kann durch ein Studium nur mehr wenig gewinnen, aber ohne einen akademischen Abschluss wird man zum weiteren Karriere-Wettlauf gar nicht zugelassen.

In der Reform der 70er sollte Wissenschaft politisch werden, also einen Beitrag zur Produktivkraft-Entwicklung im emphatischen Sinn leisten, zur Befreiung der Menschheit von Unterdrückung und Not. Bildung war deshalb ein „Bürgerrecht“, weil sie Demokraten hervorbringt, so war man plötzlich gegen alle historische Evidenz überzeugt. (Gerade in Deutschland hatte Bildung traditionell eher „Geistes-Aristokraten“ und andere Demokratie-Verächter erzeugt.) Aber es sollte natürlich auch eine andere als die traditionelle Bildung sein, eine politische Bildung, in der die deutsche Geschichte nicht mehr mit dem Ersten Weltkrieg endete und die Shoah nicht verschwiegen wurde, im günstigen Fall eine anti-autoritäre Bildung, die zum Widerstand gegen Un- und Anti-Demokratisches auch und gerade im Staat befähigte und ermutigte.

Dass die staatlichen Einrichtungen sich dafür nicht widerstandslos und nicht lange hergaben, ist wenig verwunderlich. Auch nicht wirklich verwunderlich ist die Tatsache, die bald sichtbar wurde, dass nämlich das Studium nur von einigen von denen, die sich das leisten konnten, mit solchen Zielen, sich für den Kampf um die Befreiung der Menschheit fit zu machen, aufgenommen wurde. Die meisten sahen es kürzer und pragmatischer: Sie wollten eine gute Ausbildung für eine gute Arbeit mit einer guten Bezahlung und guten Karriere-Aussichten. Dieser Wunsch ist subversiv genug in einer Wirtschaft, die sich am Betriebs-Ergebnis orientiert und nicht an der Art, wie es erarbeitet wird. Manche haben ihn auch so ernst genommen, dass sie gleich andere Betriebs-Formen erfanden und erprobten: Erst selbstverwaltete Betriebe und Landkommunen, später start-up Unternehmen am PC und im Internet. Irgendwelcher Hochschätzung der Universität war das alles nicht gerade zuträglich.

Noch einmal: Die Universität der Aufklärung

Erstaunlich an der ganzen Entwicklung ist: Der Widerstand gegen diese Politik war und ist gering und unwirksam. Das wiederum liegt gewiss nicht daran, dass es bei den Betroffenen nicht massiv Kritik gäbe: Die üblichen Jammer- und Überarbeitungs-Gespräche zwischen akademisch Beschäftigten sind seit vielen Jahren voll von abfälligen über ironisch-zynische bis zu Katastrophen-Bemerkungen über das, was der deutschen Universität gerade angetan wird. Auch in Veröffentlichungen, nicht zuletzt im Feuilleton (besonders der FAZ, aber auch in Zeit, Süddeutscher und FR) findet man genug an Kritik. Studentische Aktionen („Flitzer“-Demos, in denen durch Nacktheit symbolisiert wurde, wie die Studenten ausgenommen würden, haben immerhin die Aufmerksamkeit des Spiegel gefunden), Streiks und Demos haben sich zumindest gegen die Studiengebühren gerichtet. Zugleich ist aber, so scheint es, die allgemeine Überzeugung ungebrochen, die Universität sei „im Kern verrottet“ und bedürfe dringend einer durchgreifenden Reform.

Wie in der Sozialpolitik ist es gelungen, eine „defensive Reformbereitschaft“ herzustellen: Niemand will eine Reform, alle sind überzeugt, dass dabei nichts Gutes herauskommen wird, aber alle sind überzeugt, dass es wie bisher nicht weitergehen kann, dass eine „Anpassung an den Weltmarkt“ unerlässlich ist. Niemand in der Universität hat starke Vorstellungen davon, wie die Universität der Zukunft aussehen soll, aber Unzufriedenheiten aller Art bekommen in dieser Stimmung Beispiel-Charakter für eine allgemeine „Verrottung“. Für die gibt es einige wenige sehr banale Gründe: Die vielen Neugründungen der 1970er Jahre kommen baulich jetzt in den Zustand der Renovierungsbedürftigkeit. Die Zahl der Studenten hat seit den 1980ern dramatisch zugenommen – hauptsächlich wohl aufgrund der Situation am Arbeitsmarkt: Wer nach dem Abitur nicht gleich einen Arbeitsplatz findet, überbrückt die Zeit am besten mit einem Studium. Und bei den Lehrern gibt es einen Generationenwechsel und daher für einige Jahre gute Einstellungs-Chancen, daher ist die Zahl der Lehrer-Studenten an den Unis so hoch wie schon lange nicht mehr. Unter „normalen“ Bedingungen müsste man das mit einem Investitions-Programm beantworten: Z.B. Universitäts-Renovierung statt Banken-Subventionen. Personal-Erweiterungen wären zunächst auf zehn Jahre befristet sinnvoll: Jedenfalls der Lehrer-Boom wird dann vorbei sein. So einfach und undramatisch würde eine vernünftige Politik und Verwaltung das bewältigen können.

Stattdessen wird populistisch dramatisiert – und zugleich zu sparen versucht. Bildung war immer schon ein Gebiet, auf dem sich relativ leicht staatliche Mittel einsparen lassen: Dass massive Interessen auftreten, ist nicht wahrscheinlich, so lange man die Elternverbände nicht zu sehr reizt. Auch das wäre zwar zynisch, aber doch undramatisch möglich gewesen. Was dazukam und solche unspektakulären Bewältigungen verhinderte, war neben dem allgemeinen Dramatisierungs-Bedürfnis von strukturell populistischer Politik der Druck auf eine Öffnung der Bildungs-“Dienstleistungen“ für profitversprechende Investitionen und der Einbruch von betriebswirtschaftlicher Planungs-Ideologie in alle Bereiche der öffentlichen Infrastruktur. Die Öffnung zur Kapitalisierung vollzog sich als „europäische Vereinheitlichung“ unter dem Namen „Bologna-Prozess“ und in wohl nicht ganz zufälligem Zusammentreffen mit allgemeineren Versuchen der Marktöffnung für Dienstleistungen unter dem Namen GATS und auch unabhängig von diesen internationalen Verträgen. Der Einbruch der Betriebswirtschaft in die Universität geschah in Deutschland besonders über die Bertelsmann-Stiftung und ihr Centrum für Hochschul-Entwicklung (CHE), unterstützt von allerlei Hochschul-Planern, neuen aus dem Bereich der Betriebswirtschaften, aber nicht zuletzt auch den aus der Reform der 1970er übriggebliebenen. Die Universitätsverwaltungen waren und sind daran besonders interessiert, weil für sie dabei ein ungeahnter Machtgewinn abfällt, indem stillschweigend die universitäre Selbstverwaltung der Wissenschaft zugunsten von Präsidial-Diktatur aufgelöst wurde.

Alle diese beteiligten Interessen scheinen nicht im einzelnen besonders stark und besonders zielgerichtet zu sein: Es geht nicht primär darum, eine bestimmte Art von Universität herbeizuführen, von der jemand eine genaue Vorstellung hätte. Die Universität kommt fast zufällig in den Bereich allgemeinerer markt-ideologischer Ziele. Aber die Konstellation dieser schwachen Interessen lenkt sie dann doch in eine Richtung: Verschulung und Bürokratisierung.

Die Schwäche und Unklarheit der Interessen zeigt sich an einzelnen Widersprüchen: Zum Beispiel wird die Auflösung der universitären Selbstverwaltung damit begründet, es müssten moderne Management-Methoden für erhöhte Effizienz sorgen. Aber dann bleiben die Universitätspräsidenten doch praktisch überall mehr oder weniger machthungrige, jedenfalls aber Wissenschaftler, die damit die Wissenschaft aufgeben. Es wird keineswegs dafür gesorgt, dass auf diese Posten tatsächlich erfahrene Manager kommen. Ähnlich wird behauptet, die Reform diene der Verschlankung und Effizienz-Steigerung der Verwaltung. Tatsächlich ist der Verwaltungsteil der Universitäten nicht abgebaut, dazu aber eine neue, externe Verwaltung von Akkreditierung und Evaluation zusätzlich aufgebaut worden. Tatsächlich war der Verwaltungsaufwand an den deutschen Universitäten noch nie so aufgebläht wie jetzt. In der Begründung, die Modularisierung der Studiengänge diene der Mobilität zwischen den Universitäten, steckt der Denkfehler, die Module seien tatsächlich an den verschiedenen Universitäten identisch. Das sind sie keineswegs, und es gibt auch keinerlei Anstrengung, eine solche Standardisierung herbeizuführen. Damit ist die studentische Mobilität zwischen den Universitäten, die nie ein Problem war, weil einzelne Scheine bei Vergleichbarkeit angerechnet werden konnten, tatsächlich wenn irgendetwas, dann schwieriger geworden.

Angesichts solcher Ungereimtheiten mag es sich empfehlen, keine starken und klaren Absichten bei einzelnen Akteuren und Interessenten anzunehmen, sondern von einer Konstellation von schwachen Interessen auszugehen, die im Effekt etwas herbeiführt, was keiner der Beteiligten in dieser Form beabsichtigt hat. Das macht Politik einerseits leichter: man läuft nicht gegen ein übermächtiges Einzelinteresse auf; andererseits schwieriger: das Gelände ist unübersichtlich und allseits vermint.

Diese Schwierigkeit addiert sich zu der, dass an und mit der Universität klassische Interessenpolitik kaum möglich ist. Konfliktfähigkeit in dem Sinn, dass man die Verweigerung einer gesellschaftlich benötigten Leistung glaubhaft androhen könne, ist einfach nicht gegeben. Alle Leistungsverweigerungen sind entweder Selbstschädigungen oder sie schädigen das unmittelbare Gegenüber: Wenn ein Fachbereich bürokratische Anforderungen verweigert, bekommt er frei gewordene Professuren nicht ausgeschrieben oder gar gestrichen oder bestimmte mögliche Mittel nicht zugewiesen. (Insofern verfügt die Universität über sehr wirksame Management-Techniken, die von der BwL nur noch nicht ausreichend beschrieben und gewürdigt werden: „Management durch Erpressung“ und „Management durch Bestechung“.) Wenn Studenten Veranstaltungen boykottieren, bekommen sie keine Scheine, wenn sie die Uni komplett blockieren, ziehen sie sich den Unmut der Forscher zu, die an ihre Arbeitsgeräte wollen. Profs können als Beamte ohnehin nicht streiken und der Dienst nach Vorschrift macht vor allem den Studenten das Leben schwer. Die Verweigerung der einzigen gesellschaftlich benötigten Leistung: der Ausstellung von Scheinen und sonstigen Bestätigungen, ginge zunächst auf Kosten der Studenten und würde von ihnen nicht toleriert. (Wie in allen Dienstleistungsbetrieben fordern die Klienten real und unmittelbar die von ihnen benötigten Leistungen viel wirksamer ein, als jede bürokratische Kontrolle das könnte.)

Die in den letzten Jahrzehnten so beliebte Politik aus der Opferhaltung (Viktimismus) ist ohnehin ungünstig, geht aber an der Universität schon gar nicht: Nach außen sind Studenten eine privilegierte Gruppe, überwiegend oberschichtig und jung, jedenfalls nicht in die Disziplin eines fabrikartigen Betriebs eingespannt. Das zieht ohnehin eine Menge Neid und Ressentiment auf sich. Auch wenn das „fröhliche Studentenleben“ längst nicht mehr so fröhlich ist, wie die alten Lieder das suggerieren, so ist das Privileg doch nicht zu leugnen – schon gar in Zeiten von verbreiteter Arbeitslosigkeit einerseits, Arbeitshetze andererseits. Der studentische Versuch, sich als Opfer von Sparpolitik darzustellen, greift nicht. Wenn sie sich als Opfer von ungenügender Ausbildung darstellen, richtet sich das gegen die Profs und bestätigt damit die Politik der Spaltung, in der den Studenten suggeriert wird, die Profs seien faul, und den Profs, die Studenten seien zu viele und daran seien sie selbst schuld, weil so viele Ungeeignete auch an die Unis drängten. Dazu leidet studentische Interessenpolitik ohnehin grundsätzlich daran, dass die Situation passager ist und am besten dadurch bewältigt werden kann, dass man sie rasch hinter sich bringt. (Sogenannte studentische Politik war daher immer de facto Mittelbau-Politik: Aktivität der Studenten, die an der Uni bleiben wollen.) Und professorale Politik leidet an der Möglichkeit, sich auf die Forschung und auf die internationalen Kontakte zu konzentrieren – beides anerkannte Anteile der Tätigkeit, die persönlich viel befriedigender und auch langfristig viel nützlicher sind als noch so gute Lehre. (Zu der wird man ohnehin durch die real anwesenden Studenten gezwungen – es sei denn, sie treten nur massenhaft auf und können daher weder Einzel-Anforderungen stellen, noch befriedigende Kontakte abgeben.)

Interessenpolitik ist an der Universität also nach außen nicht überzeugend möglich, nach innen richtet sie sich borniert gegen die Interessen der anderen Beteiligten oder ist überhaupt selbstschädigend. Es muss daher eine andere Politikform gewählt werden, die ohnehin naheliegt: Intellektuellen-Politik. Die Aufgabe von Intellektuellen ist es ohnehin, für die Gesamt-Vernunft zuständig zu sein und also die allgemeinen Interessen zu vertreten, für die sich keine Einzelinteressen-Lobby findet. Die Eigenheiten von Intellektuellen-Politik sind in der nachfolgenden Tabelle gegen die von Interessenpolitik und gegen das andere Extrem: populistische Politik9 abgegrenzt.

Tabelle: Interessenpolitik, Intellektuellenpolitik und populistische Politik

Interessenpolitik

Intellektuellenpolitik

Populistische Politik

vertritt möglichst spezifische Einzelinteressen

vertritt die allgemeinen Interessen

Interessen werden verheimlicht

sucht Koalitionen mit anderen Interessen

bietet Koalitionen mit spezifischen Interessen an

behauptet identische Interessen

arbeitet mit Macht/Drohung

arbeitet mit Angeboten

arbeitet mit Angstmachen

verteidigt „wohlerworbene Rechte“ von Gruppen

fordert Bürger- und Menschenrechte ein

fordert Ausschließung von Feinden und „Schädlingen“

Verteilungsgerechtigkeit

Autonomie und Solidarität

Herrenmenschentum

Aktionen üben Druck aus

Aktionen sind erkenntnisfördernd

Aktionen machen Stimmung

setzt Herrschaft und ihre Form voraus und stabilisiert sie

stellt Herrschaft und ihre Form in Frage

will an die Herrschaft

Die Universität, ihre Vielfalt, ihre Zuständigkeit für Wissenschaft und die Notwendigkeit von Autonomie, wenn es um Wissenschaft geht, all das ist nur zu verteidigen, wenn man Bildung und Wissenschaft als Infrastruktur verteidigen kann, als ein öffentliches Gut, das allen zur Verfügung steht. Ausbildung für einen guten und gut bezahlten Beruf ist kein öffentliches Gut, sondern in der Tat eine Investition in das eigene Humankapital, die sich nur betriebswirtschaftlich rechnen muss. Infrastruktur ist eine Bildung, die zur Arbeit für das Große & Ganze befähigt und auch dazu motiviert bis verpflichtet. Das gilt für die Wissenschaftler aller Stadien, also von den Studierenden bis zu den Profs. Wissenschaft, das muss in der heutigen Situation das sein, was man nicht kaufen kann.

Daraus ergibt sich eine klare Trennung, die die als Vorbild so gerühmten US-Universitäten selbstverständlich praktizieren: Berufsausbildung ist in Business, Management, Law und Medical Schools auszulagern. Betriebswirtschaftslehre und Ausbildung für die Praxis des Rechts gehören an die Fachhochschule oder an ein Zwischending, das noch zu erdenken wäre. Darüber hinaus sollte der Unterschied zwischen Natur-, Geistes-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften herausgearbeitet werden. Die derzeitige Reform geschieht vor allem angetrieben von den Wirtschaftswissenschaften, toleriert von den an der Universität unterausgelasteten Naturwissenschaften und zu Lasten der Geistes- und Sozialwissenschaften, auf die das Muster der rationalisierten Wissenschafts-Produktion noch besonders viel schlechter passt als für jene.

Daher ist auch Kritik an der Wissenschaft und ihrem Betrieb nötig. Die weit verbreitete Skepsis gegenüber den Wirtschafts- und den Naturwissenschaften ist nicht unbegründet. Dagegen haben die Geistes- und Sozialwissenschaften die Aufgabe, die Schäden zu benennen, die von jenen angerichtet oder doch ermöglicht werden. Wo alle anderen betriebswirtschaftlich die Konkurrenz maximieren, ist es unsere Aufgabe, die Kosten aufzuzeigen. Wenn die Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt „Law and Finance“ zu ihrem Schwerpunkt machen will, ist es unsere Aufgabe, Sozialpolitik in den Vordergrund zu schieben. (Damit tun wir nicht mehr, als an die Tradition von „Kathedersozialismus“ anzuschließen, die bei der Gründung der Uni Frankfurt wichtig war.) Dass die Form der Projektforschung nicht die einzig mögliche und guter Wissenschaft nicht unbedingt zuträglich ist, ist eine weitere Ebene der notwendigen Kritik, freilich angesichts des Drittmittel-Fetisch auch besonders aussichtslos.

Im übrigen war und ist Intellektuellen-Politik immer auch erstens anti-autoritäre Politik und zweitens Politik des Utopischen. Erkenntnisfördernde Politik muss Selbstverständliches unselbstverständlich werden lassen: Sie wird daher Herrschaftsakte umkehren (Bürger beobachten die Polizei, Studenten und Profs evaluieren den Präsidenten) und in ihrer Lächerlichkeit vorstellen („Wenn es der Wahrheitsfindung dient!“), sie wird mit Übertreibungen und sonst paradoxen Interventionen arbeiten müssen (welche Bildung haben eigentlich die wirklich Reichen? Forderung nach Reichtum für alle; Ökonomie zur Beseitigung von Armut, nicht zur Schaffung von Reichtum; Forderung nach noch effizienterem Leben). Sie wird Versuche eines richtigeren Lebens mitten im falschen vorstellen: Kommunen, Genossenschaften, andere Ökonomien. Dazu gehören auch Beispiele von anderer Forschung: Ereignis-Forschung, Forschung über die Machenschaften der Herrschenden, Forschung in der Bewegung und im Handgemenge.

Man muss die Universität nicht ganz aufgeben. Sie hat immer noch ihre Nischen und selbst ihre neo-liberale Reform ist, um eine Wendung von Adorno abzuwandeln, nicht so streng auf bestimmte Inhalte fixiert, dass nicht gelegentlich sogar die Wahrheit durchgehen könnte. Aber man soll nicht annehmen, sie könnte – und sei es nur in einzelnen Fächern – ein „linkes“, also ein Projekt der Befreiung und der herrschaftskritischen Aufklärung sein, noch gar in Deutschland. Sie wird aber Einsprengsel von Reflexivität und von pragmatischer Reform-Orientierung zulassen und das ist schon eine Menge.

Wichtiger mag aber sein: Die Produktion von Wissen für Aufklärung und Befreiung findet – wie das in Deutschland immer so war – anderswo statt. Erfahrungen von anti-autoritärer Haltung finden nicht in erster Linie in staatlich organisierten Schulen, allgemeinen wie höheren, statt. Es mag daher wichtig sein, zum Beispiel zukünftige Lehrer auf die Tätigkeit an Privatschulen bis hin zu familiärer Eigenschulung (es wird wieder Hauslehrer geben, selbstorganisierte Ausbildungen) vorzubereiten. Es mag nötig sein, zu Unternehmungen wie einer Encyclopédie und zu den anti-autoritären Diskussions-Zirkeln der vorrevolutionären Zeit zurückzukehren und so an der „Demoralisierung der herrschenden Klasse“ zu arbeiten.

Eine Universität, eine Wissenschaft, eine Bildung, um die sich zu kämpfen und für die und in der sich zu arbeiten lohnt, muss anders aussehen als das, was wir gestern hatten, und erst recht als das, was wir morgen haben sollen: Es muss Bildung, Wissenschaft und Universität als Infrastruktur, für alle und für eine Zukunft jenseits des kapitalistischen Reichtums und der zugehörigen Not sein.

Anmerkungen

  1. Diese Interpretation dessen, was der deutschen Universität gegenwärtig zugefügt wird, beruht auf Erfahrungen: Meine ersten Erfahrungen als Professor der Soziologie in Frankfurt waren der „deutsche Herbst“ 1977 und Auseinandersetzungen mit der „Marxistischen Gruppe“ (die natürlich nicht die konservativen, sondern die als „links“ identifizierten Profs bekämpfte). Eine frühe Erfahrung war auch, dass es in Frankfurt einen Bewerber für eine Professur disqualifizierte, dass er im Vortrag das Wort „Klassenkampf“ (übrigens völlig korrekt und unpolemisch) verwendete. Spätere Erfahrungen wuchsen mir als (mehrfachem) Dekan des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften in den damit verbundenen Auseinandersetzungen mit diversen Uni-Präsidenten und dem überwiegenden Rest der Universität zu. Dazu gehörte freilich auch die Erfahrung von Selbstverwaltung der universitären Wissenschaft, so mühsam sie auch im einzelnen jeweils erkämpft werden musste. Vor diesem Hintergrund ist die Erfahrung des neuen Byzantinismus in der Uni-Politik in den letzten etwa zehn Jahren ein roll-back, den ich nicht für möglich gehalten hätte. Ich habe mich dieser Erfahrung besonders intensiv ausgesetzt, indem ich mir nun im zweiten Jahr das Amt des Studiendekans antue, teils um die aufgezwungenen Studienreformen mit Hilfe meiner Erfahrung aus zwei bis drei früheren möglichst schnell und ohne allzuviel Schaden durchziehen zu helfen, teils um mir eine privilegierte Möglichkeit der teilnehmenden Beobachtung zu verschaffen. Die Erfahrung, dass diese Gegenreform bei entsprechender personeller Konstellation (vor Ort und in der „Profession“) auch dazu benützt werden kann, um den „linken Spuk“, leider damit auch die Kritische Theorie in Frankfurt abschließend zu erledigen, habe ich in der Analyse einer konkreten Fallgeschichte bearbeitet: Steinert (2004) Zur Professionalität des Gutachtens: Eine Aufforderung, vergleichende Gutachten zu verweigern, in: Soziologie 33(4): 36-43. Insgesamt versteht es sich, dass auf diesem Hintergrund von Erfahrungen die Uni-Gegenreformation aus der Perspektive der Sozial- und Geisteswissenschaften und nicht aus der der Wirtschaftswissenschaften, die sie betreiben und von ihr profitieren, analysiert wird.
    Aus der beruhigenden Gewissheit, dass ich in spätestens fünf Jahren diese Einrichtung verlassen werde und mich dann unbehelligt der Sozialwissenschaft widmen kann, an der mich die Universität zunehmend hindert, beobachte ich die unerhörten Vorgänge mit Distanz, wenn auch Bedauern: Ein wenig ist es doch schade um die deutsche Universität, der ich in einer Ausnahme-Zeit angehört habe. Zurück zur Textstelle
  2. Auf den nicht unwichtigen Unterschied zwischen „Gegenaufklärung“ und „Dialektik der Aufklärung“ sei hier nur hingewiesen: Dialektik der Aufklärung meint die konsequente Durchsetzung von instrumenteller Vernunft in allen Lebensbereichen; Gegenaufklärung die Re-Mythisierung in (pseudo-)religiösen Denkformen, die direkte Bekämpfung der aufklärerischen Haltung zur Welt durch die Formen der alten Herrschaft: demütige Selbstunterwerfung unter eine Ordnung, die von Gott und sich selbst gerechtfertigt wird, unter eine Herrschaft, die weder eine vernünftige Begründung noch ebensolche Beschränkungen braucht. Horkheimer / Adorno haben bekanntlich großen Wert darauf gelegt zu zeigen, wie Aufklärung in Mythos umschlägt. Aber die Verbindung von Dialektik der Aufklärung und Gegenaufklärung ist enger und vielschichtiger. Hier ist nicht der Ort, das zu entfalten. Zurück zur Textstelle
  3. Vgl. dazu den Abschnitt „Vom Arbeitskraft-Beamten zum Arbeitskraft-Unternehmer“ in Steinert (2004) Über die hilflose Verteidigung des Sozialstaats, wie er war, und die Notwendigkeit einer sozialen Infrastruktur, die von Lohnarbeit unabhängig ist, in: links-netz. Zurück zur Textstelle
  4. Martin Spiewak (2004) ‚Würdelos: Die Universität muss sich selbst wieder ernst nehmen’, in: Die Zeit 44/2004: 39. Zurück zur Textstelle
  5. Vor einer akademischen Prozession von Professoren in Talaren zur Rektoratsübergabe am 9.11.1967 trugen Studenten ein Transparent mit der Aufschrift: Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren. Es hieß „von 1000 Jahren“, nicht „aus 1000 Jahren“, und dieser Fehler im Zitat von Martin Spiwak ist eine symptomatische Fehlleistung. Zurück zur Textstelle
  6. Die Möglichkeiten der technischen Rationalisierung kommen in der Dienstleistung nicht den Konsumenten zugute, erleichtern gewöhnlich auch nicht die Arbeit der Dienstleister, sondern sparen Verwaltung ein, etwa indem die Bezahlung der Ware oder das Ausdrucken der Fahrkarte durch den Computer mit Lagerhaltung, Bestellung / Buchung und Abrechnung verbunden wird. In der Universität sind nicht einmal diese Effekte einer innerbetrieblichen Rationalisierung bisher eingetreten. Die Verwaltung erfuhr im Gegenteil eine ungeahnte Ermächtigung und wurde für neue Kontrollen – Akkreditierung und Evaluation genannt – ausgeweitet. Das universitäre „e-learning“ als erweiterte Selbstbedienung steht uns erst noch bevor. Das Studium zu Hause ist ohnehin schon Realität: Die räumlichen Kapazitäten wären schon jetzt völlig überfordert, würden die Studenten wirklich alle Veranstaltungen besuchen, die die Ordnungen ihnen vorschreiben. Der erweiterte Zugang zu Literatur im Internet macht gewöhnlich nicht die Texte selbst zugänglich, dafür aber Referate, die man als Prüfungsarbeiten „herunterladen“ kann – „Rationalisierung“ in einer etwas eigenwilligen Bedeutung.Zurück zur Textstelle
  7. Der ebenso simple wie vernünftige Vorschlag von Paul Baltes (Die Zeit, 26.2.04), die DFG möge bei Forschungsfinanzierungen nicht eine Forschungsinfrastruktur an den Universitäten voraussetzen, von der alle wissen, dass es sie nicht gibt, sondern „Overheads“ dazuzahlen, aus denen man sie einrichten könnte, wäre ein Schritt in die richtige Richtung.Zurück zur Textstelle
  8. In meinem Fachbereich hat sich die Zahl der Studierenden pro Prof in dieser Zeit verdoppelt. In den Naturwissenschaften ist das durchaus nicht der Fall: Sie haben dank der Konkurrenz, die ihnen die Fachhochschulen machen, in derselben Zeit eine Unterauslastung in der Lehre entwickelt, die ihnen diesen Teil des Lebens leicht macht.Zurück zur Textstelle
  9. Vgl. dazu Heinz Steinert (1999) Kulturindustrielle Politik mit dem Großen & Ganzen: Populismus, Politik-Darsteller, ihr Publikum und seine Mobilisierung, in: Internationale Gesellschaft und Politik 4/1999: 402-413. Nachzulesen auch in links-netz. Zurück zur Textstelle
© links-netz Mai 2005