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„Das Volk nervt derzeit ein bisschen.”1

Wie Schröders Freunde über uns reden

Heinz Steinert

Am 2. August 2004, also lange vor den Protesten gegen Hatz IV, wurde im Spiegel ein Gespräch von drei Redakteuren (Stefan Aust, Dirk Kurbjuweit und Gabor Steingart) mit drei „Schröder-Vertrauten” veröffentlicht: Peter Glotz, Professor an der Management-Kaderschmiede St. Gallen und langjähriger Funktionär und Vordenker der SPD, Günter Grass, Schriftsteller, Nobelpreisträger und SPD-Wahlkämpfer im Rückfall, und Markus Lüpertz, Malerfürst, Professor an der Kunstakademie Düsseldorf, „kein Sozialdemokrat”, sondern „ein Freund von, Schröder”, und das „ist etwas ganz anderes”. (S. 41) Der Spiegel gibt dem Abdruck die Überschrift „Wir brauchen eine neue Ideologie”, ein Satz, der so nicht fällt, bei dem sich aber die Frage stellt: Wer ist „wir”?

Markus Lüpertz und der hohle, aber unbewegliche Moloch

Lüpertz liefert zu der Frage nach dem „Wir” ein paar interessante Konstruktionen, zum Beispiel diese (S. 42): „Sie brauchen als Nation eine Ideologie, um sich zu verständigen.” Wenn Sie, Herr Grass, oder Sie, geschätzter Leser, eine Nation wären ... Mag man sich das vorstellen? Kurz davor geht es gewundener zu: „Wenn Sie immer diese Feindschaften aufbauen – der Staat, die da oben, immer nur dieses ‘das nutzt mir nichts’ –, wenn das Gemeinschaftsgefühl nicht mehr trägt ...” Hier kann nur gemeint sein: Wenn Sie, das Volk, immer diese Feindschaften gegen den Staat, gegen die da oben aufbauen ... Aber die Fortsetzung heißt: „... dann sind Ihnen als Politiker die Hände gebunden.” Herr Lüpertz verlangt von seinem Gegenüber, er möge behende von einer Rolle in die andere schlüpfen: Sie als Volk – Sie als Politiker. Schon im Satz davor hatte er dieselbe Wendung vollzogen: „Ich glaube, wenn man keine Ideologie hat, die einen bindet ...”, kann nur heißen, wenn man als Volk kein verbindendes Band hat – setzt sich aber fort als: „... dann ist es schwierig, ein 80-Millionen-Volk, einen 80-Millionen-Moloch in eine ganz bestimmte Richtung zu bewegen.” Also wieder: Sie als Volk – Sie als Politiker. Sie als Volk brauchen eine Ideologie, damit Sie als Politiker diesen Moloch bewegen können. Sie als Volk sollen sich mit dem Politiker identifizieren, der so große Mühe hat, Sie Moloch zu bewegen.

Der Moloch übrigens ist ein Götze, für den Israel und Juda im Tal Ben-Hinnom ihre Söhne und Töchter durchs Feuer gehen ließen, also opferten, ein Greuel, der dem Herrn ziemlich missfiel (Jeremia 32, 35) und dem Josia, als er König war, ein Ende setzte (2. Könige 23,10). Sie als Volk sind ein gefräßiger Götze, der sich kaum bewegen lässt. Und Sie als Politiker haben diese undankbare Aufgabe, Sie als Volk zu bewegen.

Die wird aber ganz leicht, wenn es eine Ideologie gibt: „Alles kann man mit einem Volk machen. Man kann es auch zum Sparen anhalten. Man kann ihm klar machen, dass jetzt weniger da ist und dass weniger verteilt wird, wenn es an sich selbst glaubt. Ist das nicht der Fall – und das erleben wir zurzeit –, haben wir einen reinen Egoismus, der sich in Geld ausdrückt.” (Lüpertz, S. 39) Diese Ideologie beschreibt Lüpertz recht unverblümt als „nationale Identität”, als „Selbstverständnis, sich in irgendeiner Weise deutsch zu fühlen”. Durch die Wiedervereinigung ist das „abgestorben, und ich habe das Gefühl, dass Deutschland jetzt auf Grund dieses Zusammenschlusses nicht mehr regierbar ist”. (S. 39) Mit nur wenig anderen Worten: „Du brauchst eine Identität, du brauchst eine Sprache, eine Einheit, irgendetwas außerhalb des Normalen.” (S. 42) Grass schlägt ihm als dieses Außer-Normale und statt einer Ideologie die „gelebte Demokratie” vor, was Herrn Lüpertz nicht befriedigt: „Aber was nutzt die Demokratie, wenn sie nicht begriffen wird? Wenn sie nicht benutzt wird?” (S. 42) Und nicht nur das: „Freizeit ist eine reine Betäubungsangelegenheit. Unter meinen Studenten ist kaum einer, der noch liest, wenn sie bei mir anfangen. Sie zehren auf verheerende Weise von Fun, von Lustigsein. Das hat eine seltsame Hohlheit. Das ist etwas, das ich der Politik nicht anlasten kann. Das muss ich dem Volk anlasten.” (Lüpertz, S. 43)

Sie als Politiker sind zu bedauern, weil Sie sich als Volk und hohlen Moloch kaum von der Stelle bewegen können.

Peter Glotz und die Sorge um die Motivation der fünf Prozent Leistungsträger, die den Kapitalismus am Laufen halten

Glotz spricht zwar an einer Stelle davon, dass „wir” (wohl als Volk) unregierbar sind, „weil die Arbeitsplätze zum Beispiel nach Polen verlagert werden” (S. 39). Aber sonst sind „wir” die (SPD-)Regierungspolitiker, selbst als „wir alle”: „Wir haben natürlich alle eine ganze Zeit lang geglaubt, dass diese Wachstumsperiode von 1950 bis 1975 ökonomisch weitergehen würde. Das ist der Urfehler, den wir gemacht haben.” (S. 40) Genannt werden in diesem Zusammenhang Adenauer, Brandt, Schmidt, Schiller, Möller, letztere als die „drei ökonomisch wirklich kundigen Sozialdemokraten”, von denen Schmidt 1982 an „unseren Leuten in der Fraktion” gescheitert ist. Und „wir” haben eine neue Situation: „Wir sind in der Tat in einer Situation, in der wir nicht mehr ein Proletariat haben, für das wir so vorsorgen müssen, wie wir für das Proletariat vorsorgen mussten im späten 19. Jahrhundert oder auch noch in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts.” (S. 42) „Wir” sorgen nicht mehr für das Proletariat, sondern „wir” haben eine neue Aufgabe: „Wir” müssen darauf achten, dass wir nicht „die Motivation dieser fünf Prozent von Wissensarbeitern, die den Kapitalismus am Laufen halten, zerstören”, denn dann wird „das Wachstum so absinken, dass wir Machtkämpfe bekommen, Verteilungskämpfe, die so brutal sind, wie wir sie uns gar nicht mehr vorstellen können”. (S. 42) Das hat Glotz übrigens fast wörtlich auch schon in seinem vorletzten Buch „Die beschleunigte Gesellschaft”, 1999, gesagt. Schon damals hatte er bis zu einem Drittel der Gesellschaft als „hoffnungslos” abgeschrieben. Schon damals galt seine Sorge wie heute den wenigen „Leistungsträgern”, die „wir” nicht einfach „abkassieren” dürfen, das wäre ein „Missverständnis des Kapitalismus”, da könnte man gleich sagen: Wir schaffen ihn ab. (S. 41) Dass „wir” das auch nur denken könnten, unterstellt ohnehin niemand.

Wir als SPD-Obere sind zu bedauern, weil uns von Unbelehrten immer noch zugemutet wird, für das Proletariat zu sorgen, wodurch uns unsere eigentliche Aufgabe so schwer gemacht wird: die wenigen Leistungsträger bei Laune zu halten.

Günter Grass und was die Menschen begreifen können

Selbst der Literat des Elends im Wirtschaftswunder, der sich dafür stark macht, die Leistungen der DDR anzuerkennen (S. 40) und „an die Großverdienenden, an die Besserverdienenden” heranzugehen, zum Beispiel mit einer höheren Erbschaftssteuer (wofür er übrigens von Glotz rüde zurechtgewiesen wird – beides S. 41), sieht als Problem der SPD „die Kommunikation mit den Menschen” (S. 38, den Zusatz „draußen im Lande” denkt man selbst mit). „Aber nur das, was die Menschen begreifen, können sie auch akzeptieren.” Immerhin macht er einen scharfen Unterschied zwischen den „Menschen, die ein Arbeitsleben hinter sich haben” oder den „jungen Menschen, die noch gar nicht eingestiegen sind,” und „dieser Regierung” (S. 40f), das ist schon etwas. Er spricht klar davon, dass „wir ... Politiker hatten” (S. 43), ihnen also vergleichsweise fremd gegenüberstehen. Er wechselt also die Perspektive: Der Blick der Politiker auf „die Menschen” (die nicht begreifen) ist ihm geläufig, er kann ihn gut übernehmen. Aber als „wir” blickt er von außen auf die Politiker und die Regierung. Wer also ist „wir” bei Grass?

„Wir”, das sind die Deutschen als Kulturnation: „Wir haben – eine ironische Frucht des Dreißigjährigen Krieges – durch die Aufteilung Deutschlands in Kleinstaaten überall noch bespielbare Residenztheater, Museen und anderes, eine kulturelle Substanz. Die Frage ist, ob wir nicht bei unserem dauernden Gezänk dabei sind, auch das noch kaputt- und kleinzureden.” (S. 43) „Wir sind für unseren gezähmten Kapitalismus bewundert worden.” (S. 40) Dieses „wir” ist jetzt freilich die BRD. „Wir haben die Erfahrung, dass 40 Jahre lang zwei deutsche Staaten nebeneinander existierten. Nicht nur wir im Westen haben aufgebaut; auch der Osten hat unter beschränkten Möglichkeiten aufgebaut ... Wir sind nicht in der Lage gewesen, diese Leistung anzuerkennen.” (S. 40) Auch hier stehen „wir im Westen” dem Osten gegenüber. „Wir” ist nationalstaatlich und durch die „gelebte Demokratie” definiert, ist in diesem Rahmen aber offenbar das Volk mit und allenfalls auch im Gegensatz zu seinen Politikern und Regierungen und zu seinen Reichen: „Wir müssen aufpassen, dass für Großverdiener das Ausmaß des Mitleids nicht ungeheure, fast religiöse Dimensionen annimmt.” (S. 42 – für einen, der von der Sprache lebt, eine merkwürdige Verdrehung; gemeint ist wohl: ... dass das Ausmaß des Mitleids für Großverdiener nicht ...)

Den „Menschen” aus dieser Perspektive die SPD zu empfehlen, setzt offenbar voraus, dass man die Zurechtweisung durch Glotz ebenso ignoriert wie die Tatsache, dass sonst in diesem Gespräch nach jeder substantiellen Äußerung von Grass das Thema gewechselt wird. Schröders Freunde können auf das demokratische „Wir” gar nicht eingehen.

In der strukturell populistischen Politik2 ist das Volk Verschubmasse. Es hat im Verständnis dieser Politiker keine Interessen, die zu bündeln und zu klären, die gegeneinander zu halten, zwischen denen bei Unverträglichkeit tragfähige Kompromisse zu erfinden und vorzuschlagen Aufgabe eines Politikers wäre. Vielmehr muss man sich entweder von ihm tragen lassen, seine Begeisterungen und Sym- wie Antipathien ausnützen, oder man muss ihm die bittere Pille mit Geduld verabreichen, professionell mit ihm „kommunizieren“, zur Not seinen Unmut aussitzen. Krieg und Naturkatastrophen, die idealen „populistischen Situationen“, in denen sich quer zu allen Interessen Gemeinsamkeit beschwören lässt, stehen leider nicht immer zur Verfügung. Dann muss man halt sonst Angst machen und Interessengegensätze verleugnen.

Vielleicht ist es auch das, was das Volk grantig macht: So vom hohen Ross herab benützt oder manipuliert zu werden, erscheint uns nicht als der Höhepunkt von Demokratie, auf deutsch: Volksherrschaft.

Anmerkungen

  1. Spiegel 28/2004, S. 22.Zurück zur Textstelle
  2. Vgl. Heinz Steinert (1999) Kulturindustrielle Politik mit dem Großen & Ganzen: Populismus, Politik-Darsteller, ihr Publikum und seine Mobilisierung, in: Internationale Gesellschaft und Politik, 4/1999, S. 402-413.Zurück zur Textstelle
© links-netz September 2004