Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Deutsche Zustände Übersicht

 

  Text in eigenem Fenster anzeigen    rtf-Datei herunterladen 

Einwandern nach Deutschland

Oder: Die Aussonderung der „Überflüssigen”*

Dirk Vogelskamp

Monatelang wurde im Vermittlungsausschuss um wenige inhaltliche Differenzen in Detailfragen des „Zuwanderungsgesetzes” gestritten. Nachdem die „Grünen” zahm angedroht hatten, aus den Verhandlungen mit der CDU/CSU auszusteigen, gelang es Bundeskanzler Schröder am 25. Mai 2004 in Gesprächen mit allen Parteivorsitzenden, einen Kompromiss in der Zuwanderungsregelung auszuhandeln, die auch die Unionsvorsitzenden mitzutragen sich bereit erklärten.

Nach über vier Jahren „Einwanderungsdebatte” wurde schließlich am 9. Juli 2004 im Bundesrat das „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern” abschließend beraten – so der die intendierten migrationspolitischen Ziele zusammenfassende Gesetzestitel. Damit fand die regierungsamtlich initiierte, von den selbsternannten „Regierungs- und Parteiexperten” inhaltlich formierte und gesteuerte „Zuwanderungsdebatte” einen gesetzgeberischen Abschluss. Der Bundestag hatte bereits am 1. Juli 2004 parteiübergreifend dem Gesetzentwurf mehrheitlich zugestimmt. Daraufhin verlautbarte Bundesinnenminister Schily, dieses Gesetz verkörpere den gesellschaftlichen Konsens, „dass wir Deutschland zu einem modernen, weltoffenen Land herausputzen müssen”. Es markiere, so Schily, eine „historische Zäsur” (FAZ, 2.7.2004).

Doch mehr als ein zeitgemäß neoliberales, d.h. wettbewerbsstaatliches Einwanderungs-Make-up hat sich die Bundesrepublik nicht aufgelegt. Damit sollen vorwiegend die wohlhabenden Selbstständigen (mit einem Investitionsvolumen von mindestens 1 Mio. Euro) und die Hochqualifizierten unter den arbeitswilligen Emigranten angelockt werden. Diesen wird in den Worten Schilys der „rote Teppich ausgerollt”. Zugleich soll das Allparteiengesetzeswerk die Masse der „Unerwünschten” von den Wohlstandsinseln fernhalten, insbesondere von Deutschland. Für die Entwurzelten, die Weltarmen und die Geringqualifizierten wird der rotgrüne „Menschenrechtsteppich” gleich wieder eingerollt. Der hoch- und selbstgelobte Zuwanderungsputz bröckelt bei näherem Hinsehen rasch. Darunter kommen die sicherheitspolitischen und polizeirechtlichen Wucherungen zum Vorschein, von denen das Gesetz überzogen ist. Diese stellen die Immigranten unter Generalverdacht (Regelanfrage und beschleunigte Ausweisung).

Eine grundlegende Neuorientierung der Migrationspolitik

Im Zuge des von Bundeskanzler Schröder konstatierten Arbeitskräftemangels im Bereich der Informations- Kommunikationstechnologien im Februar 2000 auf der Computer-Messe CeBIT in Hannover wurde die so genannte Greencard-Regelung, eine auf fünf Jahre befristete Sonderarbeitserlaubnis für Computer- und Softwarespezialisten, Programmierer und Informatiker kurzerhand exekutiv geschaffen (vgl. Jahrbuch 1999/2000, Harald Glöde, Inszenierung einer Debatte – Zur Kontinuität lügnerischer Ausländerpolitik, in: Komitee für Grundrechte und Demokratie, S. 101–108).

Mit dieser öffentlichkeitswirksamen Medieninitiative, die vor allem der wirtschaftlichen Nachfrage der „New Economy” nach hochqualifizierten IT-Fachkräften entsprang, sollte zugleich eine grundlegende Neuorientierung der Migrationspolitik erfolgen. Alle Parteien im Deutschen Bundestag haben daraufhin eilig zusammengezimmerte Einwanderungsentwürfe vorgelegt, welche öffentlich die Illusion nährten, die Wanderungsbewegungen umfassend steuern und zwischen „rentablen und unrentablen”, folglich zwischen erwünschten und unerwünschten Einwanderern sorgsam und gezielt auswählen zu können. Die weltweiten Wanderungsprozesse verlaufen jedoch viel differenzierter, als es diese populistischen Steuerungsmodelle vorgeben, die in dem vorurteils- und gewaltschürenden Diktum des bayerischen Innenministers Beckstein Stammtischreife erlangt haben: „Wir müssen darauf achten, dass weniger Ausländer kommen, die uns ausnützen, sondern mehr, die uns nutzen.”

Keines der parteipolitischen Einwanderungsmodelle nahm jene Migranten und Flüchtlinge in den Blick, die weder wirtschaftlich erwünscht, sprich standortnützlich sind, noch aus „humanitären oder völkerrechtlichen Verpflichtungen” aufgenommen werden müssen. Das abgestuft ausgrenzende „internationale Schutzsystem” ist angesichts der Gewalt der Globalisierung heute weniger als unzureichend; es ist geradezu untauglich; es wird systematisch blind gehalten für die Gewalt der Menschenrechtsverletzungen, die aus den Strukturen und Funktionen kapitalistischer Ökonomie erfolgen. Als seien die Migrationsschübe aus den Schütterzonen der Globalisierung unpolitisch. Diese aber machen den Großteil der weltweiten Flucht- und Wanderungsbewegungen aus. Jegliche Einwanderungsregelung geht unvermeidlich, ob nun eingestanden oder nicht, mit einem folgenreichen Ausschluss der unerwünschten Migration einher. Öffentlich werden die Folgen der intendierten Aussonderung nicht thematisiert. Dabei sind diese unübersehbar: im neuen Universum der Lager, in den verschiedenen Formen der Internierungen und sozialen Ausschließungen, in den Massendeportationen. Allen parteipolitischen Einwanderungsentwürfen des 21. Jahrhunderts mangelt es nicht nur an einem angemessenen Problembewusstsein, sie sind durch das Fehlen einer menschenrechtlichen Perspektive gekennzeichnet, die eben diese Folgen menschenrechtlich hätte genau abwägen, bedenken und konsequent thematisieren müssen. Die „zivilisierten” Standortpolitiker aller Parteien verfolgen hingegen eine darwinistisch und utilitaristisch grundierte Immigrationspolitik. Darüber können auch ihre Menschenrechtsfloskeln nicht hinwegtäuschen (vgl. Komitee für Grundrechte und Demokratie, Ein Deutschland für Einwanderer. Oder: Die Schein-Politik der Selbsttäuschungen und Lügen hat kein Ende, Köln 2001).

Herstellung eines gesellschaftlichen Konsenses

Um einen gesellschaftlichen Konsens zu simulieren, hatte der Bundesinnenminister im Juli 2000 eine überparteiliche Einwanderungskommission unter Vorsitz der CDU-Politikerin Rita Süssmuth eingesetzt, die mit Vertretern verschiedener Interessengruppen und Parteien, „Experten” aus Forschungsinstituten und Wissenschaftlern besetzt wurde. Der Bericht der „Süssmuth-Kommission” (Zuwanderung gestalten – Integration fördern), der ein Jahr später, im Sommer 2001, vorgelegt wurde, wurde unverständlicherweise von den migrations- und asylpolitisch arbeitenden Verbänden viel gelobt. Dieser vermeintlich unabhängige Expertenbericht, der einen regierungsinszenierten Suchprozess vortäuschte, formierte und orientierte in der folgenden Zeit die Einwanderungsdebatte und Diskussionen über den Umgang mit Einwanderung und den hier lebenden Ausländerinnen und Ausländern. Der mit „umfassenden Lösungsansätzen” versehene „Süssmuth-Bericht” lenkte die Debatte in eine von regierungsoben vorgegebene, migrationspolitisch alternativlos erscheinende Richtung. Sie vermochte es, die verschiedenen beteiligten Interessengruppen und Organisationen in den herrschaftlichen Konsens beinahe widerspruchslos einzubinden. Bereits die von der CDU/CSU durchgesetzte Wortwahl „Zuwanderung” (statt Einwanderung) verdeutlicht das anvisierte Steuerungsmodell: Lediglich einer kleinen Minderheit der Immigranten wird dauerhaft über die verschiedenen Einwanderungskanäle in Deutschland zuzuwandern erlaubt. Der mehrheitliche Rest hingegen wird ab- oder weiterzuwandern gezwungen sein (Rotationsmodell), wird ausgewiesen oder abgeschoben werden. Der als „Paradigmenwechsel” in der Einwanderungspolitik gefeierte Bericht vertrat nicht mehr als die nackten deutschen Wirtschaftsinteressen und den Ausschluss der Unerwünschten (vgl. Dirk Vogelskamp, Nackte deutsche Wirtschaftsinteressen und der Ausschluss der Überflüssigen, in: express 9/2001, S. 2). Die propagierte neue Politik in der Einwanderungsfrage entpuppte sich als eine den veränderten kapitalistischen Verwertungsbedingungen angepasste Politik flexibler Migrationskontrolle und -steuerung, die zu Recht als „just-in-time-migration” bezeichnet wurde.

Dementsprechend zielen die Zuwanderungsempfehlungen des vom Bundesinnenminister im April 2003 eingesetzten Sachverständigenrates für Zuwanderung und Integration unter der Leitung von Rita Süssmuth auf eine „größere Flexibilität bei Angebotsengpässen auf dem Arbeitsmarkt”. Der Zuwanderungsrat veröffentlichte am 19. Oktober 2004 sein erstes 480 Seiten umfassendes Jahresgutachten (vgl. www.zuwanderungsrat.de). Angesichts von Globalisierung und demographischer Entwicklung gehörten nach Auffassung des Zuwanderungsrates Zuwanderungssteuerung und Integrationspolitik zu den wichtigsten Gestaltungsaufgaben der Gegenwart und Zukunft. Um das Wohlstandsniveau am Standort Deutschland zu erhalten, sei dieser auf qualifizierte und hochqualifizierte Arbeitskräfte angewiesen. Eine arbeitsmarktorientierte Zuwanderungspolitik solle sich aus diesem Grund auf eben diese die sozialen Sicherungssysteme entlastende Zuwanderungsgruppe aus Qualifizierten und Hochqualifizierten konzentrieren. Derzeit sieht der Zuwanderungsrat ein Bedarf von etwa 25.000 „Engpassarbeitskräften” vor allem im Gesundheitswesen, Maschinenbau und im Bereich der Finanzdienstleistungen. Nach der green-card-Methode sollen Teilbereichsarbeitsmärkte bei festgestelltem Arbeitskräftemangel für ausländische Arbeitskräfte geöffnet werden können. Darüber hinaus müssten die Industriestaaten über ein internationales Migrationsmanagment nachdenken, das unter Einbeziehung der wichtigen Herkunfts- und Transitstaaten den globalen Wanderungsdruck steuert und kanalisiert. Notwendig sei eine migrationsorientierte Entwicklungspolitik und eine entwicklungsorientierte Migrationspolitik. (Um migrationspolitisches Wohlwollen zu erzwingen, hatte die Bundesrepublik bereits in beim Treffen der EU-Regierungschefs in Sevilla 2002 eine Politik des Aushungerns favorisiert, indem Entwicklungs- oder Wirtschaftshilfe gestrichen oder reduziert wird.) Der Zuwanderungsrat empfiehlt zudem, langjährig Geduldeten aus humanitären Gründen eine angemessene Bleibeperspektive einzuräumen, und regt an, zu prüfen, ob und inwieweit Legalisierungsmaßnahmen für „Illegale” unter bestimmten Voraussetzungen und aufgrund der Erfahrungen in anderen EU-Staaten in Frage kommen könnten. Einen Vorteil von Legalisierungsmaßnahmen sieht der Einwanderungsrat u.a. darin, dass sie Informationen über Ausmaß, Bedingungen und Strukturen der Illegalität beschaffen könnten, die ansonsten fehlten.

„Der Staat und seine Institutionen müssen sich um eine Eindämmung illegaler Einreise und illegalen Aufenthalts schon aus Gründen der staatlichen Souveränität bei der Sicherung der Grenzen bemühen, aber auch, weil die Steuerung und Begrenzung legaler Zuwanderung andernfalls inkonsequent ist. Zum andern haben aber auch illegale Zuwanderer Anspruch auf Beachtung ihrer Menschenrechte, die unabhängig von ihrem Status anerkannt, eingehalten und durchgesetzt werden müssen.” (S. 351)

Angemerkt sei an diesem Zitat, dass „Eindämmung” von unerlaubter Einwanderung in den Begriffen „Einreise” und „Aufenthalt” versachlicht wird, als handelte es sich nicht um Menschen, die die Eindämmung zu erleiden hätten, als bedeutete die staatliche Souveränität der Grenzsicherung nicht die Souveränität über Leben und Sterben zu entscheiden. Soweit einige Aspekte des Jahresgutachtens des deutschen Zuwanderungsrates, die die Inkompatibilität von dessen vorrangiger Orientierung an den „Bedürfnissen der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft” und den Menschenrechten, sprich von kapitalistischer Globalisierung und Menschenrechten verdeutlichen mögen. Die politische Klasse hat sich bislang angesichts drohender Massenentlassungen zurückhaltend bis ablehnend gegenüber den Empfehlungen des Zuwanderungsrates geäußert – öffentlich jedenfalls. Der Zuwanderungsrat, wie kann es bei diesem bestellten Gremium anders sein, erkennt in dem politischen Kompromiss in Gestalt des Zuwanderungsgesetzes einen wichtigen Schritt, um die migrationspolitischen Herausforderungen zu bewältigen.

Akzeptanzsuche:
Immigrationsbegrenzung zum Schutz der Sozialsysteme

In der Chronologie der Zuwanderungsdebatte folgte der Gesetzentwurf der Regierung, der sowohl die Empfehlungen der „Süssmuth-Kommission” als auch die unterschiedlichen Parteienvorschläge berücksichtigte und auf weiteren Zugeständnissen gegenüber der CDU/CSU bei der „Begrenzung” der Immigration beruhte. Dieser ist ebenso durch die vorbehaltlose Orientierung an den Interessen der deutschen Wirtschaft gekennzeichnet. Die „christdemokratisch” inszenierte Auseinandersetzung um die „Begrenzung der Zuwanderung” suggerierte in der Öffentlichkeit trotz seit Jahren zahlenmäßig geringerer Asylgesuche eine Bedrohung durch „unkontrollierte Einwanderung” – eine Einwanderung in die „Sozialsysteme”. Viele Facetten des Regierungsentwurfs wurden von Flüchtlingsorganisationen scharf kritisiert. Er ist in seiner wirtschaftsorientierten Ausrichtung höchst einseitig, ohne menschenrechtliche Perspektive, definiert Hunderttausende von Flüchtlingen und Migranten als für die deutsche Wirtschaft unbrauchbar (wertlos in dem Sinne, dass nicht einmal ihre Arbeitskraft kapitalistisch zu verwerten lohnt) und steuert diese repressiv aus. Wo diese Entwurzelten kapitalistischer Globalisierung verbleiben, interessiert einen deutschen Bundesinnenminister nicht (siehe unten). Dieser schlägt den gleichen Ton wie sein bayerischer Amtskollege an:

„Wir wollen keinen unbegrenzten Zuzug. ... Wenn wir international konkurrenzfähig bleiben wollen, und wir stehen in einem intensiven Wettbewerb, dann müssen wir die Möglichkeiten nutzen, die qualifizierte Zuwanderung bietet. Alle Besorgnisse, die mit Zuwanderung verbunden sind, richten sich ja auf den Zuzug in die Sozialsysteme, und wir sind uns einig, dass wir dort die Regelungen straffen müssen. Wir haben deshalb die Arbeitsmigration strikt an den Bedarf unseres Landes geknüpft.” (FAZ, 29.1.2004).

Das ist der Interessenkern des vom 1. Januar 2005 geltenden Zuwanderungsgesetzes, das nach langem partei- und wahltaktischem Hin und Her verabschiedet wurde. Nicht zu unterschlagen ist, dass das Artikelgesetz im Bereich des Flüchtlingsschutzes, zumal längst überfällig, internationale Bestimmungen übernimmt und nichtstaatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung in den Schutzumfang einbezieht.

Menschenrechtlich orientierungslos

Aufgrund dehnbarer Formulierungen wäre in der süssmuth’schen Zuwanderungsvariante in manchen Bereichen für die Belange von einigen wenigen Flüchtlingen und Immigranten möglicherweise etwas mehr herausgesprungen als mit dem aktuellen Zuwanderungsgesetz der parteipolitischen Hardliner. Der harte Interessenkern des „Expertenberichts” kann jedoch nur in selbsttäuscherischer Absicht verkannt werden. Daher erscheint es mir politisch völlig unangemessen, den Süssmuth-Bericht zum Bezugsrahmen asylrechtlicher, gar menschenrechtlicher Kritik an dem Zuwanderungsgesetz zu erheben. Die „unabhängige Einwanderungskommission” diente allein dazu, das Feld zu be- und umschreiben, auf dem sich eine „zukunftsweisende” deutsche Einwanderungsdebatte zu bewegen hatte. Und wer mitdebattieren wollte, hatte es in diesem abgesteckten Rahmen zu tun. Schließlich haben Vertreter der beiden großen Kirchen und Gewerkschafter, stets um die Belange „unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger bemüht”, mit am Tisch der „Interessengemeinschaft Einwanderung” gesessen und fest umrissen, was migrationspolitisch in diesem Lande machbar sein sollte. Die politischen Stimmen jenseits der etablierten Gruppen wurden kaum oder überhaupt nicht wahrgenommen. Deshalb ist es beinahe müßig, das gesetzliche Ergebnis einer aus der Perspektive der Immigrantinnen und Immigranten allein standort- und wirtschaftsinteressierten Einwanderungsdebatte erneut zu kommentieren.

Wenn ich es dennoch in wenigen pointierten Sätzen unternehme, dann allein um des Versuchs willen, die zukünftigen Auseinandersetzungsfelder zu bestimmen und menschenrechtliche Minima zu benennen:

Die „sans papiers”

Im Gegensatz zur Praxis anderer europäischer Staaten (Frankreich, Italien, Portugal u.a.) wird im deutschen ”Zuwanderungsgesetz” eine ”humanitäre Regelung” für die ohne Papiere in Deutschland lebenden Immigranten (sans papiers) – ökonomisch höchst eigeninteressiert – ausgeklammert. So kündigte beispielsweise die spanische Regierung an, bis Ende November 2004 auf dem Verwaltungswege 1,5 Millionen Immigranten ohne Aufenthaltserlaubnis eine Legalisierungschance einzuräumen. Zugleich plant sie für das kommende Jahr ein „außerordentliches Regularisierungsprogramm”, mit dem irreguläre Immigranten, die mindestens ein Jahr Arbeit nachweisen oder einen Arbeitsvertrag vorlegen können, eine Aufenthaltserlaubnis erhalten sollen. In den vergangenen Jahren wurden mehr als 1 Millionen „sin papeles” legalisiert. Ausschlaggebend für diese Legalisierungspraxis sind vor allem wirtschaftspolitische und arbeitsmarktorientierte Abwägungen. Im spanischen Niedriglohnsektor bzw. im informellen Arbeitsmarkt werden bereits 24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. (vgl. Tom Kucharz, Legal zur Arbeit, in Jungle World Nr. 41, 29. September 2004)

Im deutschen Zuwanderungsgesetz indes kommen die sans papiers, die erst durch dasselbe zu Illegalisierten gemacht werden (unerlaubte Einreise, unerlaubter Verbleib), lediglich als Zurück- und Auszuweisende vor. Damit werden die Menschen in ihrer prekären Lebenssituation sich selbst überlassen und sozial ausgeschlossen. Dadurch wird ihr rechtloser Status verfestigt: illegale Jobs, Ausbeutung, Marginalisierung, Rechtlosigkeit, Kriminalisierung, Inhaftierung ... . Die aus der globalen kapitalistischen Ungleichheitsordnung hervorgerufenen Flucht- und Wanderungsbewegungen werden allein aus der Abwehrperspektive der wohlhabenden und „reformgestressten” deutschen Nation wahrgenommen. Die räumlich gestaffelten Abwehr-, Kontroll- und Aussonderungsmaßnahmen tragen bereits heute zum Tod Tausender bei (vgl. Jahrbuch 2001/2002, Dirk Vogelskamp, Europawärts: Kontrollen, Lager, Tod, S. 103–112). Die fortgesetzte Einschränkung des Menschenrechts, den Aufenthaltsort frei zu wählen, des Rechts zur Flucht (Sandro Mezzadra), sprich, die weltweiten Zonen der Gewalt, des Elends, bitterer Armut und existenzieller Perspektivlosigkeit zu verlassen, ist nicht zu rechtfertigen. Die Migranten nehmen sich das Recht und sie sind im Recht. Unrecht sind allein die gewaltstarrenden Migrationsfilter, Lager und militarisierten Grenzen. Darum sind Initiativen zur Legalisierung illegalisierter Immigranten in der Bundesrepublik dringender denn je vonnöten. Ebenso Initiativen, die ihre politischen und sozialen Rechte beispielsweise als Wanderarbeiter oder als Flüchtlinge stärken. Selbstredend müssen alle hier lebenden Flüchtlinge mit prekärem Aufenthaltsstatus („Duldung”) ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten, gleich, wie lange sie hier leben und arbeiten (siehe die Kampagne von PRO ASYL „Hier geblieben”).

Menschenrechtlich nicht akzeptabel ist, dass fortgesetzt das Recht derjenigen Verfolgten, die aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Gründen ihr Herkunftsland verlassen (müssen), gegen die Rechte jener gestellt werden, die als Armuts- und Wirtschaftsflüchtlinge diskriminiert werden: die politisch unmittelbar Verfolgten und diejenigen, die, recht besehen, aus Mangel an immigrationspolitischen Alternativen nur dem eng fixierten Asylrechtsschein nach missbräuchlich um Schutz nachsuchen. Um dem internationalen Schutzsystem der Genfer Flüchtlingskonvention Genüge zu tun, reicht ein „faires”, möglichst rechtswegekurzes Asylverfahren, in dem der kleine Prozentsatz tatsächlich Verfolgter herausgefiltert wird, nicht aus. Als wäre dann menschenrechtlich „alles in Butter”! Die Differenzierung wird der erzwungenen Migration der globalen Ungleichheitsordnung ebenso wenig gerecht wie dem selbstbestimmten Recht zur Flucht. Das Menschenrecht auf Schutz (Asyl) steht dem auf Freizügigkeit, Mobilität und Leben nicht entgegen. Aktuell transportieren die Migrationsbewegungen die Forderungen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit weltweit über Grenzen und kapitalistische Zonen – um unserer und aller Menschenrechte willen.

Lager und Abschiebeknäste:
die Gewalt der Immigrationsbegrenzung nach innen

Das deutsche Zuwanderungsgesetz ist die repressive Antwort auf die weltweiten Migrationsbewegungen im Gefolge neoliberaler Globalisierung. Es löst die damit einhergehenden Probleme nicht. Es verschärft sie geradezu tödlich, wie noch zu zeigen sein wird. Kern des neuen Gesetzes bildet die „Immigrationsbegrenzung” mit weitreichenden Folgen. Nach innen gewandt bedeutet dies u.a., die unerwünschten Migranten und Flüchtlinge so rasch wie möglich wieder außer Landes zu befördern. Im „Zuwanderungsgesetz” sind zuhauf „Zwangsmomente” enthalten. Diese stellen eine Legalisierung von Menschenrechtsverletzungen dar. So wird die menschenrechtswidrige Praxis der Abschiebehaft bis zu 18 Monaten fortgesetzt, um eine Abschiebung vorzubereiten und durchzusetzen. Die gewaltsame „Durchsetzung der Ausreisepflicht” (Abschiebung), in dem tödliche Folgen in Kauf genommen werden, wird weiterhin aufrechterhalten. Ergänzend wird es den Bundesländern ermöglicht, sogenannte Ausreisepflichtige in Ausreiselager einzuweisen (Zwangsunterbringung). In diesen sollen sie zur „freiwilligen” Ausreise mit psychischem Druck gezwungen werden. Allgemein werden die Ausweisungsmöglichkeiten (zwingende, Regel- und Ermessensausweisung) bei „Straftätern” erweitert. Nach der Strafhaft, die nur herrschaftszynisch als „resozialisierend” qualifiziert werden kann, folgt die Abschiebung (doppelte ”Bestrafung”). Die möglichst schäbige, dauernd die Würde der Menschen verletzende Umgangsweise mit unerwünschten Immigranten und Flüchtlingen gehört wie ehedem zum festen Bestandteil des „Zuwanderungsgesetzes”. Die Unterbringung und Internierung von Immigranten und Flüchtlingen in Sammel-, Ausreiselager und in Abschiebehaftanstalten mit Zwang markieren ihre Entrechtung. Auch hier bleiben Initiativen dringend vonnöten, die diesen menschenrechtswidrigen Umgang skandalisieren, welche die Eingesperrten und Internierten besuchen und begleiten, ohne sich mit der Abschiebemaschinerie gemein zu machen. Die Bundesregierung solle die Hindernisse für die Abschiebung von Personen beseitigen, heißt es in einem aktuellen Antrag der CDU/CSU (BT-Drs.15/3804). Ende 2003 hätten in Deutschland 453.000 ausreisepflichtige Personen gelebt, von denen nur 227.000 aus verschiedenen „rechtlichen oder tatsächlichen Gründen” geduldet worden seien. Die Union fordert unter anderem: Um durchsetzen zu können, dass Migranten bei der Beschaffung von Pässen und Passersatzpapieren mitwirkten, sei zu Zwangsmitteln wie etwa der Beugehaft zu greifen. Entgrenzte Gewalt der Immigrationsbegrenzung in einem ansonsten angeblich weltoffenen Land.

Lager, Grenzen und „battle groups”:
die Gewalt der Immigrationsbegrenzung nach außen

Die widersprüchliche Einwanderungspolitik unter dem Diktat der Immigrationsbegrenzung reiht sich bruchlos ein in die EU-koordinierte, rücksichtslose Bekämpfung der „unkontrollierten Migration” weit im Vorfeld der Europäischen Union, in besonderem Maße an deren Außengrenzen. Es verwundert daher nicht, dass Bundesinnenminister Schily im Juli 2004 die Affäre um das Flüchtlingsschiff Cap Anamur zum Anlass nahm, Auffanglager für Flüchtlinge in Nordafrika zu fordern. Unterstützung fand er bei seinem italienischen Amtskollegen.

Der Vorschlag, Flüchtlingslager außerhalb der EU-Grenzen zu errichten, ist nicht neu. Bereits im März 2003 legte die britische Regierung eine Konzeption für von der EU finanzierte und vom UNHCR verwaltete „Flüchtlingsreservate” in den Herkunftsregionen der Flucht- und Wanderungsbewegungen vor („New vision for refugees”). Sie orientierte sich dabei am Muster der Flüchtlingslager, die in Mazedonien und Albanien während des NATO-Krieges gegen Jugoslawien/Kosovo zur „Verteidigung der Menschenrechte” errichtet wurden. Gemäß den britischen Vorstellungen sollten in diesen Flüchtlingsschutzzonen nach einer Karenzzeit mögliche Asylanträge entgegengenommen und bearbeitet werden. Migranten, die europäischen Boden erreichten, sollten kurzfristig interniert und so bald wie möglich in die „Schutzzonen” zurückgeschafft werden.

Die deutsch-italienische Initiative ist ähnlich konstruiert. „Illegale”, über das Mittelmeer eingewanderte Migranten sollen demnach in die nordafrikanischen EU-Außenlager transportiert werden, um dort ihren Schutzanspruch durch einen EU-Beamten überprüfen zu lassen. Diejenigen, die anerkannte Fluchtgründe vorbringen können, sollen in „heimatnahen”, mit „akzeptablen Schutzstandards” versehenen Regionen untergebracht, die übrigen, nicht als schutzwürdig erachtete Migranten und Flüchtlinge sollen in die Herkunftsländer zurückgeschoben werden. Der deutsch-italienische Vorstoß steht im Einklang mit den Plänen der EU-Kommission, möglichst viele Transitstaaten in „geeignete Erstasylstaaten” umzuwandeln. Diese Strategie firmiert unter dem menschenrechtlich unverdächtigen Label „den Flüchtlingsschutz auch außerhalb Europas stärken”.

Das vorgesehene außereuropäische Lagersystem ist seit den EU-Gipfeltreffen von Sevilla (2002) und Thessaloniki (2003) Teil eines europäischen Programms, in Zusammenarbeit mit den Transit- und Herkunftsstaaten irreguläre Wanderungsbewegungen „einzudämmen”. Die Bekämpfung der „illegalen Migration” nach Europa hat in den Aktionsplänen der EU inzwischen höchste Priorität erlangt und forderte Tausende von Menschenopfern. Es wurde ein repressiv ausgerichtetes, kurz- und langfristiges Maßnahmenbündel entwickelt, das darauf zielt, Migration weit im Vorfeld der militarisierten EU-Grenzen zu unterbinden. „Flüchtlingsschutz” soll, sinnigerweise, in die wirtschaftlich ärmeren Anrainerstaaten der EU ausgelagert werden. Als Motor dieser Entwicklung treibt die rot-grüne Bundesregierung.

In der europäischen Sicherheitsdoktrin, in der die Definition von Sicherheit entgrenzt und auf eine offene militärische Interventionsskala zugeschnitten wurde, werden die Flucht- und Wanderungsbewegungen nach Europa und die „Bevölkerungsverschiebungen” als Bedrohungsfaktoren festgeschrieben. Diese europäische Feinderklärung gegen die unerwünschten Immigranten schließt mit ein, dass sie, in Europa angekommen, als Illegale kriminalisiert und von elementaren Rechten ausgeschlossen werden.

Die innereuropäische Diskussion um Auffanglager außerhalb der EU ist noch nicht abgeschlossen. Bislang konnten sich nicht alle EU-Innen- und Justizminister Anfang Oktober 2004 in Scheveningen auf ein gemeinsames mit dem UNHCR abgestimmtes Konzept einigen. Pilotprojekte in verschiedenen nordafrikanischen Staaten (Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko und Mauretanien) sollen jedoch bis Ende kommenden Jahres vorangetrieben werden. Am 18. Oktober trafen sich die Innenminister Deutschlands, Italiens, Frankreichs, Spaniens und Großbritanniens erneut in Florenz. Während sich die französische und spanische Regierung gegen Auffanglager aussprachen, verteidigten Schily und der italienische Innenminister Pisanu das Lagerkonzept. Das Britische Home Office ist gegenüber der Idee der Transitlager nicht abgeneigt. Die Initiative bleibt also weiter auf der Tagesordnung der Innenminister. Derweil lässt die italienische Regierung Hunderte über das Mittelmeer geflohene und auf Lampedusa gestrandete Flüchtlinge internieren und wieder nach Libyen ausfliegen, bilateral geregelt, jenseits völkerrechtlicher Bestimmungen.

Die Eindämmung der Einwanderung an den Migrationsrouten in Nordafrika, die gegenwärtig noch nicht EU-koordiniert auf den Weg gebracht werden kann, wird in bilateralen Vereinbarungen zu regeln versucht. So bestehen zahlreiche „Rückführungsverträge” mit nordafrikanischen Staaten (Marokko, Libyen, Tunesien). Die italienische Regierung unterstützt zudem Libyen beim Aufbau von Abschiebelagern in der Wüste und liefert Zelte. Zugleich besteht ein Kooperationsabkommen, gemeinsam die libyschen Land- und Seegrenzen zu kontrollieren. Dazu liefert Italien, nachdem das EU-Embargo aufgehoben wurde, die militärische Ausrüstung und Verbindungsbeamten zur Überwachung der Grenzen. Mit Tunesien bestehen –EU-weit begrüßt – ähnliche Abkommen. Der italienische Politologe Paolo Cuttitta vermerkte kürzlich in einem Artikel:

„In Tunesien gibt es inzwischen dreizehn mit italienischem Geld finanzierte Abschiebehafteinrichtungen. Eine davon befindet sich in der Nähe von Tunis, eine in der Nähe von Gabès. Die anderen liegen an geheimen Orten. Niemand außer Regierung und Polizei weiß, wo. Keiner soll erfahren, was mit den Flüchtlingen passiert, die aus Italien nach Tunesien zurückgeschoben oder schon vor der Überfahrt von der tunesischen Polizei aufgegriffen werden. ... Laut inoffiziellen Informationsquellen werden viele Migranten von den italienisch-tunesischen Abschiebelagern einfach an die Südgrenze zu Algerien begleitet und dort in der Wüste abgesetzt. ...” (vgl. Paolo Cuttitta, Das diskrete Sterben, in: Frankfurter Rundschau vom 14. August 2004).

Unterdessen schlägt der Bayerische Innenminister Beckstein vor, die Auffanglager in Nordafrika durch die Bundeswehr aufbauen und verwalten zu lassen, die im Jugoslawien/Kosovo-Krieg bereits ähnliche Lager eingerichtet und Erfahrungen gesammelt hätte. Es sei ihm lieber, wenn ein derartiger Einsatz auf europäischer Ebene geregelt werde, stimmten die nordafrikanischen Regierungen jedoch ausdrücklich zu, sähe er keine „existenziellen Hindernisse” (Spiegel online, 19. Oktober 2004).

Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die regierungsnahe Strategie-Schmiede, wirbt unter dem Titel „Flüchtlinge aus Afrika” (SWP-Aktuell 33/August 2004) für eine kohärente deutsche und europäische Afrika-Politik. Sie erfordere u.a. auch die Bereitschaft zur militärischen Intervention. Deutschland, das sich an der Zusammenstellung so genannter „battle groups” (Kampfgruppen) beteiligt, dürfe sich Überlegungen nicht mehr verschließen, wo und unter welchen Bedingungen diese Einheiten eingesetzt werden sollen. Großbritannien und Frankreich hätten wiederholt betont, der Haupteinsatzort dieser „battle groups” sollten afrikanische Konfliktgebiete sein.

Das Fazit des think-tank lautet: da der Entwicklungsunterschied zwischen Europa und Afrika auf Jahrzehnte weiter bestehen werde, werde man, „will man den Zustrom nach Europa eindämmen und den Sprung in eine großzügige Zuwanderungspolitik nicht wagen, ... weiterhin nicht um restriktive Maßnahmen herumkommen”. Und weiter heißt es: „ ... auch ein frühes Filtern des Migrantenstroms und ein zielstrebiges Abschiebeverfahren werden dann Bestandteil der europäischen Flüchtlingspolitik sein müssen.”

Die vom deutschen Innenminister zynisch als „Begrüßungszentren” deklarierten Auffanglager sind nur ein Element jener von der SWP angeregten Migrationsfilter. Deutlich wird, europäische Migrationspolitik stellt einen Teilbereich militärisch-politischer Aufrechterhaltung der globalen Ungleichheitsordnung dar, aus der sich der Reichtum der Metropolen speist. Das europäische Migrationsregime einschließlich des nationalen „Zuwanderungsgesetzes” dient dazu, das Eindringen aus den Zonen der Armut und Gewalt in die Zonen des Reichtums zu verhindern, in die die gewaltsame Globalisierung die Welt fragmentiert hat. Es ist Teil des Krieges gegen die Massenarmut der drei Kontinente und ihren, in der Migration verkörperten Anspruch nach Leben und ihre Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit – nach praktizierten Menschenrechten. Die Gewalt der Migrationsbegrenzung spiegelt lediglich die gesellschaftliche Perspektive einer nach innen repressiven Integration aller Bürgerinnen und Bürger.

Oujda:
die tödliche Gewalt der Immigrationsbegrenzung

Der portugiesische Journalist Paulo Moura hat in einer lesenswerten Reportage („Im Wald von Missnana, ein Lager afrikanischer Flüchtlinge vor der Festung Europa”), die in Lettre International Herbst 2004 auszugsweise abgedruckt wurde, das Überleben und Sterben „illegaler” afrikanischer Flüchtlinge im Wald von Missnana in der Nähe Tangars (Marokko) beschrieben. Er hat die Flüchtlinge in ihrem Waldversteck aufgesucht und mit ihnen gesprochen. Einige Hundert Flüchtlinge hausen dort in Erdhöhlen und warten auf eine Gelegenheit, nach Europa zu gelangen. Vielen fehlt das Geld für Schlepper, viele finden keinen Job, sind krank. Paulo Moura berichtet von den Razzien der Polizei im Wald und von den Überfällen marokkanischer Banditen, die hoffen, bei den afrikanischen Flüchtlingen Beute zu machen. Die Flüchtlinge selbst bezeichneten sich als camarades in der Überzeugung, es sei Arabisch und bedeute Ausländer. Moura erwähnt nebenher, dass Marokko Geld von der EU erhalte, das Problem der „Illegalen” an Ort und Stelle zu lösen. Marokko tue dies auf seine Weise. Paulo Moura fährt in seiner Reportage fort:

„ ... Oujda, in der Welt der camarades ein noch schrecklicheres Wort als Missnana. Oujda, an der marokkanisch-algerischen Grenze.
Man ‚deportiert‘ sie, in Lastwagen, zu Hunderten. Männer, Frauen, Kinder, die, bis auf ihre Kleider am Leib, nichts bei sich haben. In verschlossenen Transportern geht es per Express in den Tod, unaufhaltsam, wie damals, in den Waggons nach Auschwitz.
Sie werden nicht in ihre Ursprungsländer abgeschoben, sondern zurückgebracht, auf die andere Seite der Tür, durch die sie gekommen sind, in die Gegend von Oujda. Hinter der Grenze, im Niemandsland zwischen Marokko und Algerien (das sie ebenfalls nicht aufnimmt), dort, mitten in der Wüste, werden die camarades ausgeladen.
In einem unwirtlichen, menschenleeren Landstrich, glühend heiß bei Tag und eiskalt bei Nacht. Dort irren die camarades halb verhungert, wie Zombies, durch die Sandstürme, verrotten zu Tausenden. Dort kreuzen sich Tag für Tag die Flüchtlingsströme aus dem Süden mit denen der ‚Deportierten‘ aus dem Norden. Dort sterben sie, auch wenn keiner zum Sterben gekommen ist.“

Hat es der deutsche Bundesinnenminister so gemeint, als er in der FAZ vom 23. Juli 2004 davon sprach: „Afrikas Probleme müssen in Afrika gelöst werden. Europa ist dabei gewiss in der Pflicht, Afrika nach Kräften zu unterstützen und es mit seinen tiefgehenden sozialen und wirtschaftlichen Problemen nicht allein zu lassen.” Das Fragezeichen ist nur in schwach-hoffender Schrift zu setzen.

Anmerkungen

* Der Beitrag ist die geringfügig aktualisierte Fassung eines Artikels, der Mitte Dezember 2004 im Jahrbuch 2003/2004 des Komitees für Grundrechte und Demokratie erscheint, in dem der Schwerpunkt „Armut, Kapitalismus und Menschenrechte” bearbeitet wird.Zurück zur Textstelle

© links-netz Oktober 2004