Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Schwerpunktthema: Sozialpolitik als Infrastruktur

 

  Nur Text    rtf-Datei    pdf-Datei 

Sozialpolitik als Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur - Was heißt das in Bezug auf das „Wohnen“?

Nicole Vrenegor und Manuel Osório

2003 hat die Ag links-netz eine Diskussion zum Thema „Sozialpolitik als Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur“ angestoßen und dazu ein Grundsatzpapier verabschiedet, das 2010 ergänzt und aktualisiert wurde. Die Aufgabe von Sozialpolitik ist es, die „Voraussetzungen für das gute Leben aller zu schaffen“, so die prägnante Forderung. Für die Themenbereiche „Gesundheit“ und „Verkehr/Mobilität“ gibt es bereits Beiträge, die diese Diskussion aufnehmen und anhand konkreter Politikfelder weiterführen.1 Wie wohnt und lebt es sich in einem „guten Leben für alle“? – fragen sich Nicole Vrenegor und Manuel Osório vom BUKO-Arbeitsschwerpunkt Stadt Raum. Der Text ist auch als Debattenbeitrag zur Tagung „Öffentliche Güter für alle!“ gedacht, die vom 8.-9. Juli in Reutlingen stattfinden wird.2

I Wohnen anders denken

„Wohnst du noch oder lebst du schon?“, fragt eine große schwedische Möbelhauskette. Das Leben fängt damit an, so wird zumindest suggeriert, sich mit ihren Produkten einzudecken. Eine ungemein erfolgreiche Werbekampagne für ein ungemein erfolgreiches Unternehmen. Es ist kein Zufall, dass die größte Niederlage der Hamburger Recht-auf-Stadt-Bewegung in einem Volksbegehren lag, in dem über die Ansiedlung eben dieses Möbelhauses in der Innenstadt abgestimmt wurde. Dreiviertel der Befragten hatten dafür gestimmt. „Was wollt ihr eigentlich?“, war häufig von den Befürwortenden zu hören, „ist doch toll, wenn ich mal eben schnell ein Paket Teelichter auf dem Nachhauseweg kaufen kann“. Leben heißt, mal eben schnell zu konsumieren.

Die Wohnung gilt als die Sphäre des Privaten schlechthin, als der Rückzugsort in einer kalten kapitalistischen Welt, als Ausdruck der eigenen Identität. Hier lebe ich - hier darf ich sein. Das „Ich-Sein“ wird meist über Konsum hergestellt. Auch wenn die Idylle vom heimischen Nest trügt, der Mythos lebt. Kaum ein Bereich des gesellschaftlichen Lebens wird so strukturkonservativ gedacht wie das Wohnen, so unsere These. Nicht wenige Linke kopieren in „ihrem“ Wohnen einen großbürgerlichen Wohnstil des letzten Jahrhunderts in Altbauwohnungen mit Kronleuchtern und Holzdielen. Und nicht selten scheitern kollektive Versuche des gemeinsamen Wohnens an individuellen Differenzen und Unvereinbarkeiten. Die jeweiligen Klassenzugehörigkeiten sind an und in den Wohnungen ablesbar, soziale Distinktion prägt die Art und Weise, wie der/die Einzelne „seinen/ihren“ Raum gestaltet. Das Private ist Politisch, ja, aber wie kann dem Bedürfnis nach „eigenem“ Raum Rechnung getragen werden ohne dabei einen völlig privatisierten Raum zu schaffen? Auch verändern sich Ansprüche und Bedürfnisse an das Wohnen im Laufe der Zeit und je nach Lebenslage: Einmal irgendwo wohnen, immer dort wohnen, führt zu Häusern, in denen ganze Etagen leer stehen, weil die Kinder nicht mehr dort wohnen oder auch zu überfüllten Zwei-Zimmer-Wohnungen, weil die Familie sich keine größere Wohnung leisten kann. Wie flexibel und anpassungsfähig wird also das Wohnen gedacht? Und überhaupt: Wer schließt sich warum, zu gemeinsamen Wohneinheiten zusammen?

„Die Stadt ist konkreter Widerspruch“, so der französische Stadt-Soziologe Henri Lefebvre, und da die Stadt ständig in Veränderung begriffen ist, müssen auch diese Widersprüche ständig ausgehandelt und ausgetragen werden. Großstädte bestechen durch die Vielzahl an unterschiedlichen Lebens- und Wohnkonzepten. In einer Stadt der „verdichteten Unterschiedlichkeit“ kann sich keine Identität sicher sein, die einzige zu sein. Dies gilt insbesondere auch für das Wohnen, für das es kein Patentrezept und keine allgemeingültige Formel geben kann.

„Emanzipative Gesellschaftsveränderung, und sei es auch nur schrittweise, ist ohne das Denken in radikalen Alternativen nicht möglich“, schreibt die AG links-netz3. Was wären also radikale Alternativen in Bezug auf das Wohnen? Die Hauptthese des Textes liegt darin, dass „in einer (potentiell) reichen Gesellschaft die Priorität von privaten auf den öffentlichen Konsum verlagert werden (muss)“. D'accord. Die Umsetzung dieses Gedankens auf den Bereich des Wohnens fällt jedoch schwer. So liegt es in einem ersten Schritt nahe, vom privat genutzten Auto auf den öffentlich genutzten Nahverkehr umzusteigen. Wir können Gesundheitsvorsorge als öffentliche Dienstleistung denken, die unentgeltlich und für alle zur Verfügung gestellt wird. Ein Grundeinkommen - ohne Bedingungen und Kontrolle - wir sind dabei! Aber wie können Wohnungen öffentlich konsumiert werden? Welche Instanz entscheidet über die Vergabe von Wohnraum und nach welchen Kriterien geschieht dies? Was heißt öffentlich, das nicht gleichzeitig (welch ein Graus!) als staatlich gedacht wird? Wir teilen die Forderung der AG links-netz, dass das Planen und Betreiben der sozialen Infrastruktur möglichst unbürokratisch, dezentral und selbst verwaltet geschehen soll und fragen uns doch, wer sind denn diese selbstlosen, kommunikativen Subjekte, die die konkreten Aushandlungsprozesse moderieren und entscheiden?

Eine Idealform wäre sicherlich ein radikaldemokratisches Verfahren, das die Vergabe von Raum nach den „wirklichen“ Bedürfnissen gewährleistet, ohne die Bevorteilung Einzelner zu ermöglichen. In Anlehnung an das, was Oskar Negt in Bezug auf eine Utopie der Arbeit entworfen hat, könnte man sich eine Idealform folgendermaßen vorstellen: Alle BewohnerInnen einer Stadt kommen zusammen, um zu diskutieren, wie der Wohn- und Arbeitsraum gestaltet werden soll: Wie viel Platz hat jede/r? Wie laut oder leise ist es? Wie grün soll es sein? Wie kinderfreundlich? Wie sind die Verkehrsanbindung und die soziale Infrastruktur? Voraussetzung für die Diskussionen ist, dass niemand weiß, wo er oder sie am Ende landen wird. Wer sich also für abgeschottete Wohnsilos an den Rändern der Stadt ausspricht oder für ungebremsten Verkehr in der Innenstadt, der oder die kann sich nicht sicher sein, später nicht selbst dort zu leben. Wohnen in schlechter Lage würde dann, so die Idee, über eine Verbesserung der Infrastruktur oder über andere Anreize ausgeglichen werden. Ziel ist es, insgesamt eine gerechtere Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen herzustellen.

Wohnen und Segregation

Nicht selten ist das Verhältnis des Menschen zur Stadt als entfremdet erlebt und beschrieben worden. Man denke an Engels’ Beschreibungen des frühkapitalistischen Londons mit seinem unglaublichen Elend, an die Expressionisten oder später an Alexander Mitscherlichs Analyse der „Unwirtlichkeit unserer Städte“. Henri Lefebvre sieht die Stadt als einen Ort, in dem die Entfremdungserfahrung eine neue Qualität erhält: „Die städtische Entfremdung umgibt und verewigt alle anderem Entfremdungen. In ihr, durch sie wird die Absonderung zum Allgemeinzustand: die Trennung nach Klassen, nach Stadtvierteln, nach Beruf, nach Alters- oder Volksgruppe, nach Geschlecht, nach Menge und Einsamkeit.“4

Durch den das Privateigentum an Grund und Boden und den massiven Verkauf öffentlichen Grundbesitzes wird der Raum zunehmend zu einem Privileg weniger. In der Stadt werden Reichtümer, aber auch Kultur monopolisiert und Macht wird konzentriert. Die Organisation von Städten orientiert sich nicht am Gebrauchswert von Stadt, also an den Bedürfnissen derjenigen, die in der Stadt leben, sondern am reinen Tauschwert von Stadt: Wie kann Mehrwert, die kapitalistische Inwertsetzung von Stadt realisiert und umgesetzt werden?

Unter den derzeitigen kapitalistischen Bedingungen ist Wohnen ohne zu segregieren kaum denkbar, da der Markt und die Verortung der/des Einzelnen an diesem über die Wohnungsvergabe entscheiden. Privilegierte Wohnlagen: ruhig, in Wassernähe oder grün, sind eben nicht für alle vorgesehen, sondern bleiben denjenigen vorbehalten, die aufgrund ihres sozialen, kulturellen oder ökonomischen Kapitals sich im Wettbewerb um attraktive Wohnungen behaupten können.

Lefebvre hatte bereits in den 1960er Jahren beobachtet, wie vor allem MigrantInnen an den Rand der Stadt verdrängt wurden. Darüber hinaus wurde und wird ihnen der Zugang zu wichtigen städtischen Ressourcen verwehrt (fehlende Mobilität und fehlende Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen Leben). Daraus hat Lefebvre die Forderung nach einem kollektiven Recht auf Stadt abgeleitet, das vor allem ein Recht auf Teilhabe an den Reichtümern der Stadt beinhaltet. Die Stadt ist also von den Rändern her zu denken und die jeweiligen Ausgeschlossenen und das jeweils Nichtthematisierte sind es, die die Widersprüche von Stadt deutlich machen. Eine soziale Bewegung, die sich beispielsweise für günstigen Mietraum einsetzt, muss u.a. die Dynamik zwischen Peripherie und Zentrum mitdenken. Wenn innenstadtnahe Viertel im Prozess der Gentrifizierung „aufgewertet“ werden, welche Auswirkungen hat dies dann für die Stadtteile, die „außerhalb“ liegen und sich nicht im Fokus von Politik und Ökonomie (und häufig auch nicht im Interesse der sozialen Initiativen) befinden? Die Stadt ist als „konkreter Widerspruch“ zu denken, als etwas, das in beständiger Veränderung ist, das im Entstehen schon wieder zerfällt und per se Ausschlüsse produziert.

Wohnen und Soziale Beziehungen

„Wenn es eine Verbindung gibt zwischen den sozialen Beziehungen und dem Raum, zwischen dem Ort und der menschlichen Gruppe“, schreibt Lefebvre, „dann müsste man, wollte man einen Zusammenhalt schaffen, die Raumstrukturen radikal verändern.“ In Anlehnung an die SituationistInnen hatte er sich für das Konzept des „Dérive“/des Umherschweifens stark gemacht. Das klingt äußerst bescheiden: das Erkunden, das Neue-Erfahrungen-machen als Ausgangspunkt zu setzen. Das Umherschweifen ist eine Haltung, die keine fertigen Lösungen parat hat, sondern die offen ist für neue Erfahrungen im und mit dem Raum. Kein großer Wurf also, kein Metaplan, aber eine Richtung. So gibt es z.B. bei Besetzungen einen Moment von Aneignung von Raum, der utopisches Potential hat und eine Ahnung einer anderen sozialeren Stadt vermittelt. Ein Haus, ein Platz, ein Ort wird sich angeeignet und neue Möglichkeitsräume tun sich auf: Was wäre, wenn ... hier ein Gemeinschaftsgarten, ein Jugendzentrum, ein Nachbarschaftstreffpunkt ... entsteht?

Die AG links-netz spricht von der Suche nach „neuen Formen der Vergesellschaftung“, die sich „erst im Zuge der Kämpfe, Auseinandersetzungen, Debatten, konkreter Versuche und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der dabei gemachten Erfahrungen allmählich entwickeln“. Einen Zusammenhalt zu schaffen, der auf der Grundlage eines nichthierarchischen Austausches stattfindet, ist heute angesichts der tiefen sozialen Spaltung der Gesellschaft, eine immense Herausforderung. So fehlt die Fähigkeit, soziale Beziehungen und das Zusammenleben überhaupt jenseits des Marktes und der Nutzbarmachung zu denken und es fehlt die Fähigkeit, sich das Ganze radikal anders vorzustellen. Neue Formen der Vergesellschaftung zu schaffen, heißt also auch neue Formen von Subjektivität zu schaffen. Wie können sich Identitäten bilden, die nicht von der Logik von Kapital- und Verwertungsinteressen durchzogenen sind? Welche Orte des Austausches und der Begegnung müssen geschaffen werden, an denen diese neuen Formen der Kommunikation und des Seins stattfinden können?

Wohnen und Utopie

Es kann kein fertiges Modell einer idealen Stadt geben. Die Utopie einer ganz anderen Stadt ist ortslos; ein (im Blochschen Sinne) Noch-Nicht im Sinne einer Möglichkeit. Die Kritik am Vorhandenen führt uns nicht zum Auspinseln eines neuen, städtischen Fertighauses, sondern zu mehr Sensibilität in Bezug auf die eigenen Ausschlüsse und Begrenzungen. Dennoch bleibt die Sehnsucht nach dem „Anderen“. Diese Sehnsucht, die Hoffnung auf ein besseres Sein, findet sich bereits im Hier und Jetzt in den Wohnungen wider. Die Wünsche, die sich in Wohnungen materialisieren, sind so verschieden, wie die Menschen, die in ihnen leben: Ein Gemälde vom Sonnenuntergang am Bosporus, eine antike Puppensammlung, die verbildlichte Sehnsucht nach Natur (Segelschiff- & Landschaftsbilder), Urlaubs-, Paar- und Familienfotos, Kunstdrucke. „Wenn diese Wünsche die Wohnung verlassen, dann wäre das die Revolution“, sagt Christoph Schäfer.5 Gemeinsam mit AnwohnerInnen hat der Hamburger Künstler einen kollektiv genutzten Park in St. Pauli erdacht und gegen den Willen der Stadt erkämpft. Als erster Schritt haben sie eine „Wunschproduktion“ in Gang gesetzt: Was soll auf dem leeren Gelände entstehen? Was ist der Bedarf? Diese Verständigung über Wünsche an das Wohnen und Leben gilt es weiter zu fördern. Ziel ist es, im großen Stil „Wolkenkuckucksheime“ und „Luftschlösser“ zu entwerfen und auf eine Materialisierung derselben hinzuwirken.

„Etwas fehlt“, beklagt Bertolt Brecht und das Bewusstsein, dass Etwas fehlt, ist die Antriebsfeder dafür, sich auf die Suche zu begeben. Das Wissen über das Ungenügen des Bestehenden und die Negation dessen, was ist, liefert eine Ahnung davon, wie ein Leben in möglicher Erfüllung sein könnte.6. Die großen sozialen Wohnutopien der 1960er/70er Jahre zeigen aber auch, dass in der konkreten Umsetzung dessen, was vormals ersehnt und erdacht wurde, die Crux liegt. Nicht wenige der als Modellprojekte konzipierten Sozialsiedlungen sind heute Denkmäler für tragisch gescheiterte Wohnentwürfe: trist, mit vereinsamten Gemeinschaftsflächen und in sozialer Isolation. Was ist es also, das fehlt, damit alle, die Orte und Kontakte finden, die sie brauchen? Und welche Orte braucht es, um allen, die bestmögliche Möglichkeit zur Entfaltung zu geben?

II Butter bei die Fische

„Ohne Einschränkung des privaten Eigentumsrechtes an städtischen Grund und Boden ist freilich keine Freiheit für die Planung einer neuen Urbanität zu denken.“ (Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, 1971)

Sucht man Ansatzpunke für die Verlagerung von privatem Konsum zu öffentlicher Infrastruktur im Bereich Wohnen, so lassen sich drei Ebenen unterscheiden: Grundlegend sind Veränderungen der Eigentumsrechte an Grundstücken und Gebäuden, um den Zugang zu bezahlbarem Wohnraum zu sichern. Darauf können Gestaltungsmöglichkeiten und Selbstverwaltungsstrukturen der BewohnerInnen aufgebaut werden, die durch eine Dezentralisierung und Demokratisierung der Wohnungsverwaltung geschaffen werden. Mit diesen Gestaltungsrechten lässt sich schließlich an einer Vielzahl von historischen und aktuellen Beispielen anknüpfen, bei denen über das private Wohnen hinaus gemeinschaftliche Elemente des Zusammenlebens verwirklicht werden.

Zugang zu bezahlbarem Wohnraum

Das grundlegende öffentliche Gut“, das geschaffen werden müsste, wäre der offene Zugang zu bezahlbarem Wohnraum für alle Gruppen der Bevölkerung auf dem gesamten städtischen Territorium. Dem steht entgegen, dass die knappe Ressource „Grund und Boden“ nicht gesellschaftlich kontrolliert wird, sondern in hohem Maß von privaten Eigentümern beherrscht wird.

Allerdings gibt es nach wie vor erhebliche kommunale und staatliche Grundstücks- und Wohnungsbestände, mit denen gestaltet werden könnte. So besitzt z.B. die Hamburger Wohnungsbaugesellschaft SAGA/GWG, die zu 100% Eigentum der Freien und Hansestadt ist, rund 130.000 Wohnungen (von ca. 883.000 Wohnungen in Hamburg insgesamt). Dazu kommt in Hamburg ein Flächenpotenzial für den Neubau von mehreren tausend Wohnungen7. Schließlich gibt es weitere, schwer zu überblickende Grundstücksreserven, z.B. Erbbaurechte, und die Möglichkeit, als Stadt Grundstücke anzukaufen oder durch Enteignung zu übernehmen. Die Situation in anderen Kommunen müsste im Einzelnen erhoben werden, um abschätzen zu können, welche öffentlichen Flächenpotentiale bestehen.

Kommunale Wohnungsbestände sind allerdings häufig in zentral und hierarchisch ausgerichteten Gesellschaften zusammengefasst. Dadurch befinden sie sich in der Gefahr, dass parteipolitische Interessen die Besetzung des Führungspersonals dominieren und die strategische Planung und das operative Geschäft kurzfristig beeinflusst werden können. Das wird besonders schwerwiegend, wenn – wie bereits von vielen Kommunen vollzogen – das städtische Eigentum im Privatisierungswahn und/oder aus Haushaltsnot verkauft wird.

Notwendig ist daher zum einen, dass hohe Hürden geschaffen werden, um den Bestand des öffentlichen Grundbesitzes zu sichern. Denkbar wäre, die Eigentumsrechte an kommunalen Grundstücken so komplex zu gestalten, dass mehrere Beteiligte, z.B. Mieterorganisationen und gemeinnützige Stiftungen mitwirken müssen, wenn über die Bebauung von Grundstücken oder die Vergabe von Erbbaurechten u.ä. entschieden wird. Eine vollständige Privatisierung der Grundstücke sollte ausgeschlossen sein. Anregungen für ein solches Konzept lassen sich bei der Stiftung Trias finden.8 Brandaktuell wird diese Diskussion nach dem Schlichterspruch zu Stuttgart 21 geführt. Dort soll eine Stiftung die Bodenspekulation mit den Grundstücken verhindern, die auf dem Gleisgelände frei werden.9

Neben dem Eigentum an Grund und Boden sollte auch das Eigenkapital neutralisiert werden, das in die Gebäude investiert wurde oder investiert wird. Dies bedeutet in einer gemäßigten Form, dass nur in sehr begrenztem Ausmaß Gewinne an die Anteilseigner ausgeschüttet werden und die Eigner nach einer Kündigung höchstens den ursprünglichen Wert ihrer Anteile zurückerhalten. In einer radikaleren Fassung der Kapitalneutralisierung würden keinerlei Überschüsse ausgezahlt und auf die Rückzahlung des eingebrachten Eigenkapitals bestünden ebenfalls keine Ansprüche (s. Matthias Neuling, Auf fremden Pfaden, Berlin 1985, S. 20 f).

Kapitalneutralisierung und die dauerhafte Festschreibung von öffentlichem Eigentum an Grund und Boden würden nicht ohne wirtschaftliche Auswirkungen bleiben. Dazu bedarf es genauerer Untersuchungen. Grob skizziert könnten folgende Effekte eintreten:

  • Eine bestimmte Menge an Grundstücken würde dem Bodenmarkt entzogen. Investitionsentscheidungen würden mehr Zeit verlangen und es wäre deutlich schwieriger, Kapital für Neubau oder Instandsetzung aufzubringen; besonders dann, wenn das Kapital neutralisiert werden soll. Aufwertungs- und möglicherweise auch Abwertungsprozesse in den Stadtvierteln würden gebremst.
  • Spekulationsbedingte Gewinne, die sich aus einer veränderten Nachfrage nach Grundstücken in bevorzugten Wohngebieten erzielen ließen, würden nicht mehr entstehen. Private Eigentümer könnten diese Renten nicht abschöpfen, indem sie Gebäude zu hohen Preisen verkaufen, die über die Anhebung der Mieten oder die Zerlegung und den Verkauf von Eigentumswohnungen finanziert werden. Dadurch ergäben sich Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, die Mieten langfristig stabil zu halten.

Dezentralisierung und Demokratisierung der Wohnungsverwaltung

Die Neutralisierung von Grundstücken und Gebäuden sichert den Zugang zu den Wohnungen. Auf dieser Grundlage kann ein weiteres „öffentliches Gut“ geschaffen werden, das die gemeinsame Gestaltung des Wohnens durch die BewohnerInnen ermöglicht. Dafür sollte die Verwaltung der Wohnungen dezentralisiert und durch Mitbestimmungsrechte der MieterInnen angereichert werden. Hier darf allerdings niemand zu seinem Glück gezwungen werden. Es ist denkbar, Beteiligungs- und Mitbestimmungsformen aufzubauen, die sich im Ausmaß der Gestaltungsrechte und der damit verbundenen Verantwortung unterscheiden.

Bereits heute findet sich ein breites Spektrum von Wohnmodellen, die mehr oder weniger weit reichende Einflussmöglichkeiten für die MieterInnen eröffnen. Vergleichsweise gering ist dabei der Einfluss von Mieterbeiräten, wie sie gelegentlich in kommunalen Wohnungsunternehmen zu finden sind. Meistens sind keine verbindlichen Entscheidungskompetenzen verankert, sondern nur unverbindliche Mitwirkungsangebote. Bei den großen Wohnungsgenossenschaften sind die MieterInnen meist Genossenschaftsmitglieder und haben formal weitgehende Rechte über Wahlen und über verschiedene Organe der Genossenschaft Einfluss auf die Geschäftsführung des Unternehmens zu nehmen. Allerdings werden bei großen Genossenschaften diese Rechte meist nicht mehr direkt von den Mitgliedern, sondern indirekt über gewählte VertreterInnen ausgeübt, so dass für den/die einzelne MieterIn nur noch wenig mitzubestimmen ist.

In Hamburg besitzen etwa 30 Genossenschaften, deren Gründung meist mehr als 80 Jahre zurückliegt, ca. 100.000 Wohnungen. In jüngster Zeit sind zarte Ansätze zur Dezentralisierung von Mitbestimmungsrechten gemacht worden. So haben einige der großen, älteren Genossenschaften Hausgruppen, die unter ihrem Dach neue Wohnungen gebaut haben, weitergehende Rechte eingeräumt, z.B. neue MieterInnen auszuwählen oder einen Teil der Instandhaltungsmittel selbst zu verwalten.

Außerdem gibt es jüngere Mietergenossenschaften, die Bestände von mehreren hundert Wohnungen aus ehemals kommunalem Besitz verwalten. Hier werden Vorstände und Aufsichtsräte direkt von den Mitgliedern gewählt und es gibt z.T. zusätzliche Gremien wie Belegungsausschüsse oder Baugruppen, in denen die BewohnerInnen unmittelbar an den Entscheidungen beteiligt werden. Noch weitergehende Selbstverwaltung der BewohnerInnen wird in kleinen Genossenschaften verwirklicht, die in den vergangenen 25 Jahren gegründet wurden, und Träger für einzelne oder mehrere Hausprojekte sind. Ähnlich hohe Autonomie genießen die Hausgruppen, die sich unter dem Dach des Mietshäusersyndikats zusammengeschlossen haben und die zusätzlich noch einen verbindlichen Solidarverbund unter den Projekten herstellen.

Schließlich gibt es in der Bundesrepublik eine schwer zu ermittelnde Zahl von Wohnprojekten, die als Vereine, GmbHs oder Gesellschaften bürgerlichen Rechts organisiert sind, und unabhängig ihre jeweiligen Häuser verwalten und bewirtschaften. Die Kosten für eine dezentrale Verwaltung von Wohnungen werden nicht höher sein als bei einer zentralen Verwaltung großer Bestände. Die Erfahrungen kleiner Genossenschaften und kleiner Wohnprojekte zeigen, dass Verwaltungseinheiten von höchstens 500 bis 600 Wohnungen nicht teurer sind als die Massenverwaltung von tausenden von Wohnungen.

Eher ist damit zu rechnen, dass der kürzere Weg zu den MieterInnen und zu den jeweiligen lokalen Gegebenheiten dazu beiträgt, Verwaltungs-, Instandhaltungs-, Investitions- und Mietausfallkosten einzusparen. Außerdem entfiele die Versuchung, Erträge, die für zukünftig anfallende Instandhaltungsmaßnahmen angespart werden müssen, aus den Objekten herauszuziehen, um kurzfristig höhere Gewinne zu erzielen. Damit stiege die Wahrscheinlichkeit, dass die Gebäude dauerhaft gut gepflegt werden.

Gut gepflegte Gebäude wiederum eröffnen die Möglichkeit, nach Rückzahlung des investierten Kapitals aus den weiter fließenden Mieteinnahmen neues Kapital anzusammeln. So können viele der westdeutschen Altgenossenschaften heute auf der Grundlage ihrer entschuldeten Wohnungsbestände in erheblichem Umfang Investitionsmittel bereitstellen, ohne die Mieten übermäßig erhöhen zu müssen. Das Mietshäusersyndikat strebt in diesem Sinn an, dass bereits länger bestehende Hausprojekte Mittel an das Syndikat übertragen, mit denen neue Projekte finanziert werden können.

Beispiele gemeinschaftlichen Wohnens

Mitbestimmungs- und Selbstverwaltungsrechte ermöglichen, dass Menschen aus der Privatheit ihrer Wohnung hinaustreten und mit anderen gemeinsam das Wohnen gestalten. Wie und in welchem Umfang sie diese Möglichkeit wahrnehmen wollen und welche zusätzlichen Voraussetzungen geschaffen werden müssen, ist schwer abzusehen. Allerdings findet sich eine große Zahl von Beispielen für mehr oder weniger gelungene Elemente gemeinschaftlichen Wohnens. Das Spektrum reicht von überschaubaren Maßnahmen zur Erleichterung des Alltagslebens bis zu anspruchsvollen Modellen gemeinschaftlichen Wohnens.

Zu Gemeinschaftseinrichtungen, die auch vielfach im konventionellen Wohnungsbau zu finden sind, gehören Gemeinschaftsräume für private Feiern, Gästewohnungen, Waschküchen, Saunen, Werkstatträume u.ä. Ein höheres Maß an gemeinschaftlicher Abstimmung erfordern Modelle des Carsharing, hausinterne Netzwerke und Server, Food Coops oder eigene Energieerzeugung. Zukünftig könnten Angebote zur Betreuung und Pflege älterer Menschen in gemeinschaftlicher Verantwortung an Bedeutung gewinnen.

An historische Vorbilder knüpfen Einrichtungen zur Kinderbetreuung, Musik, und Theater- und Sportgruppen oder Volksküchen an – solche Innovationen wurden bereits von der Genossenschaftsbewegung der Weimarer Republik erprobt. Noch wesentlich enger verwoben wird das Leben in Wohngemeinschaften und Kommunen; hier finden sich auch Beispiele dafür, wie das Einkommen ganz oder teilweise solidarisch umverteilt wird.

Die hier nur kurz aufgezählten Beispiele lassen erahnen, dass es auch im Bereich Wohnen ein großes Potential für „neue Formen der Vergesellschaftung“ (AG links-netz) gibt. Ob und wie Menschen solche Möglichkeiten für sich entfalten, lässt sich schwer absehen. Wir gehen aber davon aus, dass gesicherte Eigentumsrechte und direkte Mitbestimmung notwendige Bedingungen für gemeinschaftliche Formen des Wohnens sind. Die Vorschläge zur Neutralisierung von Boden und Immobilienkapital und Formen dezentraler Verwaltung von Wohnraum lassen sich nach unserer Einschätzung innerhalb der herrschenden Verhältnisse umsetzen. Dazu müssten allerdings erhebliche Kräfte mobilisiert werden, aber es ist mehr möglich, als man vielleicht vermutet.

Anmerkungen

  1. http://www.links-netz.de/rubriken/R_infrastruktur.htm Zurück zur Textstelle
  2. http://www.buko.info/aktuelles/single-news/?tx_ttnews[tt_news]=91&cHash=672d71f0c2 Zurück zur Textstelle
  3. http://www.links-netz.de/K_texte/K_links-netz_sozpol.html Zurück zur Textstelle
  4. Henri Lefebvre: Die Revolution der Städte, Original: La révolution urbaine, 1970.Zurück zur Textstelle
  5. Vgl.: http://wiki.rechtaufstadt.net/index.php/Interview:_Park_Fiction. Zurück zur Textstelle
  6. Vgl., hierzu das großartige Radiogespräch zwischen Theodor W. Adorno und Ernst Block „Möglichkeiten der Utopie heute“Zurück zur Textstelle
  7. Wohnungsbauentwicklungsplan, Bürgerschaft der FHH, Drucksache 19/2995 vom 5.5.2009, S. 41.Zurück zur Textstelle
  8. http://www.stiftung-trias.de/keine_spekulation.html.Zurück zur Textstelle
  9. Siehe dazu das Gutachten Gleiss/Lutz Rechtsanwälte: Die Umsetzung des Schlichterspruchs von Dr. Heiner Geißler vom 30.11.10 in Bezug auf die städtischen Grundstücke des Rosenstein-Areals. Auszug aus dem Gutachten von Prof. Dr. Hans Schlarmann/Dr. Martin Schockenhoff/Dr. Achim Dannecker vom 17.2.11.Zurück zur Textstelle
© links-netz April 2011