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Wahlen in Frankreich (2) – Agonie der Vierten Republik

Rudolf Walther

Blickt man auf Frankreich, erinnert einiges an die Agonie der Vierten Republik, deren Regierungen angesichts der kolonialistischen „Pazifizierungsmissionen“ in Indochina und Algerien in den 50er Jahren im Innern den Notstand ausriefen und Grundrechte über Nacht suspendierten. Gleichzeitig spielten sie sich nach außen als Retter des Westens gegen den Kommunismus auf. Es stellte sich bald heraus, dass es sich dabei um die letzten Zuckungen der Vierten Republik handelte und um das Requiem zum Abschied von einer vermeintlich „zivilisatorischen Mission“ Frankreichs. Mit den Römischen Verträgen (1957) und der Verfassung der Fünften Republik (1962) kehrte Frankreich nach Europa zurück.

Aber bei der europäischen Integrationspolitik muss man unterscheiden zwischen sonntäglich-feierlichen Versöhnungsgesten von De Gaulle und Adenauer in Reims und Aachen oder Kohl und Mitterrand auf dem Schlachtfeld von Verdun auf der einen und der alltäglich-profanen Arbeit für die wirkliche europäische Integration auf der anderen Seite.

Darin war Frankreich immer zurückhaltend und auf nationale Vorbehalte im Detail bedacht, die Bundesrepublik dagegen immer forsch im Tempo und rigide bei der Durchsetzung ihrer Interessen im Ganzen. Kein Land profitierte von der wirtschaftlichen Integration stärker als die BRD, wo ein jahrelange andauernder Stillstand beim Wachstum der Reallöhne „den Standort“ optimierte, d.h. die Exportchancen auf Kosten des Rest der EU steigerte. Fachleute beziffern den so erlangten Wettbewerbsvorteil auf 15 bis 20 Prozent. In Frankreich breiteten sich dafür Arbeitslosigkeit und regelrecht de-industrialisierte Zonen aus. Der Norden Frankreich ist mittlerweile industrielles Brachland.

Die öde Phrase vom deutsch-französischen Motor der europäischen Integrationspolitik hatte nur in der kurzen Phase Giscard-Schmidt (1974-1981) ein wirtschaftspolitisches Fundament – etwa bei der Schaffung eines Systems flexibler Wechselkurse als Ersatz für das Bretton-Wood-System. In der Landwirtschaftspolitik, einer Achillesferse der Integration, beharrte Frankreich auf einer ökonomisch und ökologisch problematischen Subventionspolitik und setzte sich damit durch. Aber sonst dominiert in der EU die BRD mit ihren wirtschafts- und sozialpolitischen Standards, die manche schon als Bevormundung empfinden. Das Gespenst eines „deutschen Europa“ (Ulrike Herrmann, taz v. 8.12.2015) breitet sich in der EU aus und entfesselt nationalistische Abwehrreflexe.

Spätestens seit der Wirtschafts-, Banken- und Schuldenkrise kann von einem deutsch-französischen Motor in der Integrationspolitik nicht mehr die Rede sein. Im Windschatten des Maastrichter- und des Lissabonner-Vertrags und der darin festgelegten Verschuldungsvorgaben regierten Berlin bzw. Brüssel direkt in die französische Haushaltspolitik hinein, was in Frankreich den nationalen „Souveränisten“ von rechts außen bis in die Reihen der Konservativen und jenen von links, den Kommunisten und dem „Parti de gauche“ (Mélenchon) bis in die Reihen der Sozialisten zu großem Auftrieb verhalf. Von der Wirtschafts-, Finanz- und Integrationskrise profitierte jedoch nur der rechtspopulistische „Front National“ (FN) unter Vater und Tochter Le Pen: Der Wähleranteil des FN stieg kontinuierlich und lag bei den Regionalwahlen vom letzten Wochenende bei knapp 30 Prozent.

Für die EU und die europäische Integration bedeutet der Vormarsch der Rechtspopulisten in Frankreich einen herben Rückschlag, denn knapp 30 Prozent für den FN in Frankreich bedeuten mehr und anderes für die EU als der Erfolg der Konservativen und Rechtspopulisten vom Baltikum über Polen, Ungarn und Kroatien bis Dänemark.

Wenn Marine Le Pen 2017 als Präsidentin kandidiert, kann die Wahl ausgehen wie 2002. Damals trat Jacques Chirac gegen Vater Le Pen an, weil der sozialistische Kandidat Lionel Jospin auf dem dritten Platz landete und nicht in die Stichwahl kam. Chirac gewann 82 der Stimmen. 2017 würde Marine Le Pen in ein ebenso aussichtsloses Rennen ziehen. Jedem konservativen Kandidaten fiele es leicht – im Namen der „Rettung von Nation und Republik“ – eine große Mehrheit für sich zu gewinnen. Gefährlich ist eine solche Konstellation für die EU, weil der Druck von rechts alle Parteien in eine nationalstaatliche Dynamik im Kampf gegeneinander und gegen die EU versetzt.

Der Vormarsch des FN in Frankreich und anderer Rechtspopulisten in EU-Ländern bedroht die EU nicht direkt, denn kein Land kann es sich leisten, die EU zu verlassen. Das würde ihm immer mehr schaden als der EU. Aber die nationale orchestrierte Dynamik höhlt die EU insofern aus, als sie jene politischen Kräfte lähmt, die die wirtschaftliche, politische und soziale Integration und den sozialen Ausgleich zwischen Armen und Reichen fördern wollen. EU-Politik schrumpft so zur bloßen Verwaltung des Status quo: Dabei bleibt der Süden abgehängt und die Armen bleiben arm, während der Reichtum im Norden steigt und die Wohlhabenden bleiben, was sie schon sind.

Die Relativierung des FN-Vormarschs mit dem Hinweis, dass bei einer Wahlbeteiligung von knapp über 50 Prozent „nur“ gut ein Viertel den FN tatsächlich gewählt habe, kann nur Traumtänzer beruhigen. Auch die Wahlabstinenz ist ein Indiz für die soziale Schieflage der französischen Innenpolitik; eine Schieflage, die auch die europäische Integration tangiert. Wie in anderen Ländern setzt sich auch in Frankreich die große „Partei“ der Nichtwähler aus den sozial Ausgegrenzten, Abgehängten und Chancenlosen zusammen. In Frankreich werden die Nichtwähler noch verstärkt von den millionenfach in die Banlieue verbannten Einwanderer und Nachkommen von Einwanderern, die auf dem Papier längst Franzosen geworden, aber Staatsbürger zweiter Klasse geblieben sind. Der Rechtspopulismus kostümiert sich zwar überall national und Fähnchen schwingend, aber im Kern zeigt er soziale Probleme und soziale Spaltung an. Und wer jenen und dieser etwas entgegensetzen will, muss bei ihnen ansetzen, in den Nationalstaaten wie in der EU. Der demonstrative militärische Schulterschluss der BRD mit Frankreich dagegen ist nur ein mediales Narkosemittel, das weder der EU noch Frankreich aus der Krise hilft.

© links-netz Dezember 2015