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Antiamerikanismus oder die Theologie der Leerstelle

Rudolf Walther

"Antiamerikanismus" – darüber weiß jeder Bescheid. Die Sache ist so klar, dass jede Nachfrage als Luxus erscheint, zumal in Kriegs- und Nachkriegszeiten – also immer. Ein offensichtlich etwas erregter Autor drechselte während des Kosovo-Krieges die These, die indianische Urbevölkerung in Nordamerika sei fast ausgerottet worden, zum "alten Topos des Antiamerikanismus". Und in der nächsten Runde seines argumentativen Deliriums feierte er die Benennung von Kampfhubschraubern nach einem Indianerstamm als eine gelungene Art von Wiedergutmachung aus "Schuldbewusstsein gegenüber den Erschlagenen". Die wehren sich bekanntlich nie.

Wenn man der Geschichte des Begriffs "Antiamerikanismus" nachgeht, stößt man auf Ungereimtheiten und Peinlichkeiten in jeder Preislage. Das beginnt mit dem Elementarsten – mit der Definition dessen, was "Antiamerikanismus" eigentlich sei. Am einfachsten ziehen sich jene aus der Affäre, die eine Definition verweigern, indem sie auf die "Vielschichtigkeit" des Begriffs hinweisen. In einer Dissertation heißt es dazu: Antiamerikanismus "ist ein Schlagwort, ein modischer Begriff, der sich in das Vokabular der tagespolitischen Diskussion 'eingeschlichen' hat, ohne dass klar wäre, wo er eigentlich herkommt, ohne dass er eine klare Definition hätte." Das hindert den Autor freilich nicht daran, auf 250 Seiten "die Entstehung des Antiamerikanismus" abzuhandeln, ohne einen Präzisierungsversuch zu machen. Nicht einmal die Existenz des Phänomens hält der Autor für gesichert. Er schreibt über etwas, was es vielleicht gar nicht gibt oder in so vielen Varianten, dass am Schluss jeder selbst bestimmt, was "Antiamerikanismus" ist. Und er räumt seine Ratlosigkeit ein: "Ich bin mir bewusst, dass eine strenge Definition des Phänomens Antiamerikanismus auf Schwierigkeiten stoßen würde" (Günter Moltmann)."Antiamerikanismus" ist mithin eine Geschmacksfrage, worauf auch die kurze Definition im "Oxford English Dictionary" (1989) hindeutet: "a spirit of hostility towards Americans" (etwa "eine feindselige Stimmung gegenüber Amerikanern"). Stimmungen gibt es fast so viele wie Menschen. Aber was hat es mit Feindseligkeit gegenüber Amerika und Amerikanern zu tun, wenn man die historische Tatsache der Ausrottung der indianischen Urbevölkerung erwähnt?

Auch fachlexikalisch gesehen sieht es schlecht aus für den "Antiamerikanismus": Die maßgeblichen Nachschlagewerke vom "Staatslexikon", über das "Lexikon der Politik" und das "Sachwörterbuch der Politik" bis zur Enzyklopädie "Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft" und zum Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe" enthalten alle keinen Artikel "Antiamerikanismus". Die Redakteure wussten warum. Den journalistischen Meßdienern der "real"politischen Liturgie bleibt damit viel Platz für ihre Soli und Improvisationen.

Ein etwas älteres Sprachspiel belebte – als Bundesgeschäftsführer der SPD – Peter Glotz anfangs der 80er Jahre. Seine These: Politik besteht darin, "Begriffe zu besetzen". Fortan machten sich die Einpeitscher aller Parteien daran, irgend einen Begriff zu "besetzen" und je nach Gusto "die neue soziale Frage" oder "die alten Ungleichheiten" zu patentieren. Weil man bald merkte, dass PR-Agenturen im Planen begriffsgestützter "Kampagnen" agiler waren, kam man vom "Begriffebesetzen" wieder ab. Permanenter Plakatfloskelnkampf nervt das Publikum. Ein Besetzungsversuch Heiner Geißlers ging obendrein weit daneben. Mit winkeladvokatorischer Rabulistik wollte er der Öffentlichkeit weismachen, im Grunde trage doch "der Pazifismus" schuld an "Auschwitz", denn die militärische Schwächung "der Demokratie" habe den Aufstieg der Nazis begünstigt. Geißler kriegte Prügel von überall her.

Das Strickmuster dieser Rabulistik ist simpel: Wer zu viel oder zu wenig ißt, ist süchtig. Und daraus wird messerscharf kurz geschlossen, wer weder zu viel noch zu wenig esse, sei im Grunde auch nur süchtig, nämlich danach, keine Sucht zu haben. Genau so macht man aus kosmopolitischen Demokraten im Handstreich "negative Nationalisten" und aus Pazifisten "negative Militaristen".

Zweites Sprachspiel: Für den Politikwissenschaftler Dan Diner etwa ist "Antiamerikanismus der projektive Anwurf an die USA, für die Übel aller Welt ursächlich zu sein". Wer behauptet derlei außer etwa der drittklassige Reiseschriftsteller Leo L. Matthias von rechts oder einige mehr emotional als rational argumentierende Friedensfreunde, denen die Differenz zwischen der Kritik an der amerikanischen Politik und an "Amerika" entgangen ist? In den 50er und 60er Jahren bündelte Matthias seine abendländischen, religiös-katholischen, elitär-konservativen, frauenfeindlichen und autoritätsgläubigen Ressentiments gegen "Amerika" zwischen zwei Buchdeckeln und präsentierte dem Publikum das als seine "Entdeckung Amerikas". Aber was haben solche Konglomerate von Vorurteilen mit der kritischen Analyse von US-Politik, mit Kritik an kulturellen, wirtschaftlichen, militärischen oder politischen Orientierung amerikanischer Eliten oder mit den politischen Optionen von rational argumentierenden Pazifisten zu tun? War Nietzsche wegen ein paar kernigen Sätzen über Amerika, das er nicht kannte, im gleichen Sinne ein "Antiamerikaner" wie jene deutschnationalen und nationalsozialistischen Propagandisten, die "Amerikanisierung" in den 20er Jahren als "Verjudung" hinstellten?

Anhand der Bücher von Dan Diner ("Verkehrte Welt", 1993 und "Das Jahrhundert verstehen", 1999) kann man zeigen, wie der von Hause aus leeren Propagandaformel "Antiamerikanismus" durch beliebige sozialpsychologische Spekulation nachträglich beliebige Inhalte verpasst und Motive untergeschoben werden. Die gegen den Vietnamkrieg Protestierenden in den 60er und 70er Jahren waren "antiamerikanisch" orientiert, weil ihnen Diner im nachhinein die kollektive Ferndiagnose stellt, "die in Vietnam erkannten Verbrechen" hätten sich in den Köpfen und Seelen (!) der Demonstranten "mit den Verbrechen der eigenen Väter" im Zweiten Weltkrieg verwoben. Das Argument läuft doppelt: weil die Väter und Großväter gegen die Nazis nichts unternommen hätten, wollten das deren Kinder und Enkel "generationsverschoben" kompensieren oder die Kinder und Enkel kämpfen wie Väter und Großväter gegen "Amerika" – jetzt als Demonstranten, früher als Soldaten. Ergo: Anti-Vietnam-Protest ist in jedem Fall "Antiamerikanismus". Ein apartes "Wissen". Ganz abgesehen davon, dass derlei Motiv"forschung" rein spekulativ ist und auf fragwürdigen Konstruktionen wie einem "kollektiven Unbewussten" beruht, vermag die Improvisation nicht einmal zu erklären, warum die Proteste gegen den Vietnam- wie gegen den zweiten Golfkrieg weltweit (und auch in den USA selbst) stattfanden und sich politisch artikulierten und nicht "geopolitisch" oder völkerpsychologisch.

Drittes Sprachspiel: Richard Herzinger und Hannes Stein ("Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler", 1995) wählten einen anderen Weg, um jene haltlosen psychologischen Spekulationen über zeit- und generationenverschobene Motivations- und Mentalitätsstrukturen zu vermeiden. Die beiden Literaturwissenschaftler betrachten als "Antiamerikaner", wer "den Westen" kritisiert. Was "der Westen" ist, klären sie mit einem instruktiven Vergleich: "Wie im Zentrum des jüdischen Monotheismus ein unnennbarer, körperloser und völlig abstrakter Gott steht, ... so klafft auch im Innern der liberalen Demokratie eine Leerstelle. Niemand kann sagen, was den Kern des Westens ausmacht, denn er hat keinen Kern. Genau aus diesem Grund ist der westliche Lebensstil so universal tauglich." Ist "der Westen" schon einmal mit "Gott" auf eine Stufe gesetzt, fällt der nächste Schritt leichter: Gott ist unfaßbar, aber allmächtig. Auch der Westen ist unfassbar, aber noch nicht allmächtig, dafür hat er immerhin schon "verbindliche Werte". Diese sind freilich "nicht inhaltlich bestimmbar" – genau wie die Erwägungen Gottes. Um die "westlichen Werte", um die sich alles dreht, die aber keiner Analyse zugänglich sind, zu fassen, wagen die Autoren einen argumentativen Salto mortale. Sie nennen die westlichen Werte "neutrale Werte". Nun ist jeder denkbare Wert bestimmt durch die Beziehung, die zwischen einem Gegenstand und einem Maßstab durch einen wertenden Menschen hergestellt wird. Ein "neutraler Wert" ist entweder kein Wert, weil die wertende Beziehung gar nicht hergestellt wird, oder der "neutrale Wert" ist glatter Unsinn, weil der wertende Mensch eben wertet und nicht neutral bleibt. Nicht einmal Neutralität ist ein "neutraler Wert". Im neuesten Buch Herzingers ("Republik ohne Mitte") wird die göttliche "Leerstellen"-Theorie noch einmal etwas modifiziert aufgewärmt.

Mit ihrer "ersten Definition des Antiamerikanismus" verabschiedeten sich Herzinger/Stein aus dem ernstzunehmenden Diskurs: "Mach's gleich richtig, geh zu McDonald's", denn "dagegen gibt es keinen rational begründbaren Einwand". Schrott essen? Ist das ein rationaler oder "antiamerikanischer" Einwand? Oder eine Geschmacksfrage?

Der Begriff "Amerikanismus" hat seine Wurzeln in den revolutionären Ereignissen zwischen der Unabhängigkeitserklärung (1776) und dem Verfassungskonvent (1787). Die damals aus christlicher Spiritualität, Patriotismus, Common Sense und politischem Pragmatismus entstandene "Ziviltheologie" (Jürgen Gebhardt) verdichtete sich zu "Geboten der Vernunft und reinem Amerikanismus" (Thomas Jefferson 1797), Sie zeichnete sich durch hohe Anpassungsfähigkeit an die jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse aus. Die Theologie der Leerstelle hat eine lange Tradition.

"Amerikanismus" wurde immer und überall gleichzeitig an den Pranger gestellt und bejubelt. Im allgemeinen – aber keineswegs durchgängig! – formierte sich der Tadel am "Amerikanismus" in Europa auf konservativer, das Lob auf liberaler und linker Seite. Das gilt für die USA eher umgekehrt. Der linke schwarze Agitator Malcolm X fühlte sich als "Opfer des Amerikanismus", und auf der anderer Seite weigerte sich das "Comittee on Un-American Activities" unter Joseph McCarthy zwischen 1950 und 1954 beharrlich, präzise festzustellen, was "unamerikanisch" bzw. "amerikanisch" bedeutet.

Die Theologie der Leerstelle bringt den Begriff "Antiamerikanismus" strategisch in Stellung gegen die PDS und aufgeklärte Pazifisten, um davon abzulenken, worum es geht. Darum, ob man den Kampf gegen Terroristen als Kreuzzug organisieren soll oder ob andere Mittel dem Ziel angemessener sind. Diese Frage hat mit amerikanischer Politik und deren Interessen viel, mit "Antiamerikanismus" nichts zu tun. Der Begriff vermag eine Strömung in der abgestandenen, antimodern oder abendländisch drapierten "Kulturkritik" einigermaßen zu fassen. Verallgemeinert taugt er nur noch nur fürs ideologische Handgemenge und für Zurechnungsgeschäfte, aber nicht für seriöse Analysen.

© links-netz Dezember 2001