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Die Normalität des Ausnahmezustands

Rudolf Walther

Wenn das Ganze nicht so bizarr wäre, könnte man sagen: die Gallier spinnen – zumindest die Regierenden unter ihnen. Am 15.November 2005 verabschiedete die Pariser Nationalversammlung mit 346 gegen 148 Stimmen ein Gesetz, das den Ausnahmezustand um drei Monate verlängert. Zwei Tage später verkündeten die Polizeibehörden die Rückkehr des „Normalzustands“. Was meint hier normal?

Ist der rechtliche Ausnahmezustand für die Polizei schon der Normalzustand? Oder ist die Tatsache normal, dass in jener Nacht zum Donnerstag „nur“ 98 Autos brannten? Bis zum Ausbruch der Krawalle am 27. Oktober wurden in den zehn vorangehenden Monaten in Frankreich durchschnittlich jede Nacht 100,3 Autos angezündet; in den drei Wochen danach waren es etwa 8500, also über 400 pro Nacht. Wenn man sich auf die bizarre Polizeilogik einlässt, lagen die 98 Autos vom 17. November tatsächlich leicht unter dem Jahresdurchschnitt, aber das belegt allenfalls eine statistische Normalität, denn in Wirklichkeit zeigen 100 brennende Autos pro Nacht nichts Anderes und nichts Geringeres an als einen sozialen Ausnahmezustand, der sich als Gewalt gegen Autos, öffentliche Einrichtungen, Polizisten und Feuerwehrleute äußert.

Dass der Staat 100 verbrannte Autos pro Nacht monatelang als Normalität hinnahm, aber am 8. November mit der scharfen Waffe des Ausnahmezustandes reagierte, als sich die Zahl vervierfachte, ist ein politischer Doppelfehler – zuerst das anhaltende Wegsehen, dann das blinde Zuschlagen. In den Banlieues bewirkte der Ausnahmezustand nur eines. Er entlarvte als Heuchelei und Verlogenheit, was Chirac im November beschwörend deklamierte: „Ich will den Jungen in den Quartieren, woher sie auch immer stammen, sagen, dass sie alle Söhne und Töchter der Republik sind. (...) Es ist eine Chance, der französischen Gemeinschaft anzugehören.“

Es ist eine gemeingefährliche Illusion zu glauben, die wirtschaftlichen, sozialen und städtebaulichen Probleme, wie sie sich in den französischen Vorstädten seit dreißig Jahren verdichtet haben, ließen sich mit polizeilichen Mitteln lösen. Die Bewohner der Banlieues befinden sich in einem doppelten sozialen Ausnahmezustand. In vielen deutschen Medien von „Bild“ bis „Spiegel“ war im November immer von „Einwanderern“ die Rede. Den Vogel schoss der „Stern“ (Nr. 47, 2005) ab: „Sie stehlen, dealen, tricksen. Die Immigranten Frankreichs“. Die randalierenden Jugendlichen sind mehrheitlich keine „Einwanderer“, sondern junge Staatsbürger mit französischem Pass. Aber sie sind „Franzosen zweiter Klasse,“ und „sie wissen, dass sie nicht akzeptiert werden“ (Tahar Ben Jelloun). Einwanderer waren die Eltern oder Großeltern der Jugendlichen.

Die tatsächliche Einwanderung spielt in Frankreich eine ebenso geringe Rolle wie in den übrigen Ländern des „Schengnen“-Europa. Zur Lebenslüge der französischen Elite wie der meisten Medien gehört ferner, dass sie die Einwandererkinder zu Muslimen und die sozialen Probleme, die sich in der eruptiven Gewaltanwendung manifestieren, zu religiösen Problemen umschminken und so den Islam diabolisieren. Insbesondere für die konservative Presse sind die jungen Franzosen, die Krawall machen, erstens „Einwanderer“ und zweitens „Muslime“, denen Claude Imbert von „Le Point“ pauschal attestiert, sie passten nicht zu „unserem Glauben, unseren Sitten und unseren Gesetzen“. Politik und Medien betreiben mit ihrem Gerede von „Einwanderern“, „unkontrollierter Einwanderung“, „Muslimen“ und „islamistischen Bewegungen“ ein übles Geschäft: sie diabolisieren und kriminalisieren nicht-christliche und nicht-weiße Franzosen im Namen von „Republikanimsmus“ und „Laizismus“. Eigentlich zielen sie auf „den“ Islam und „den“ Fremden, um den permanenten sozialen Notstand in den Banlieues zu kaschieren, der das Problem ist, nicht Ethnien und nicht Religionen.

Der Islam ist in Frankreich die zweitstärkste Religion. Wie viele von denen, die man per Hautfarbe zu „Einwanderern“ oder „Muslimen“ erklärt, fromme Muslime sind, weiß niemand. Aber dass unter denen, die Krawall machen, die Religion als Motiv oder islamistische Bewegungen als Antreiber keinerlei Rolle spielen, ist amtlich. Ein Polizeichef der, von „islamistischen Drahtziehern“ der Krawalle phantasierte, musste dementieren. Die sozial Deklassierten brauchen keine religiöse Nachhilfe, um ihren Frustrationen Luft zu verschaffen und Autos anzuzünden. Natürlich lässt sich der soziale, schulische, wirtschaftliche und kulturelle Notstand in den Vorstädten nicht allein mit staatlichen Hilfen für die islamische Religionsgemeinschaft beheben. Aber die Tatsache, dass fromme Muslime ihre Religion in Kellern und Hinterhöfen ausüben müssen, ist erniedrigend und versetzt den staatlichen Laizismus wie den Gleichheitsgrundsatz der Republik ins Unrecht. Ausgerechnet der rabiate Innenminister Nicolas Sarkozy hat diese Ungleichbehandlung durchschaut. Der Laizismus bindet ihm die Hände für eine staatliche Unterstützung islamischer Religionsgemeinschaften. Bei der großzügigen Subvention katholischer und anderer Privatschulen, in denen die republikanische Elite ihre Kinder ausbilden lässt, nimmt man es mit der Gleichbehandlung dagegen gar nicht so ernst. Republikanismus und Laizismus stehen heute vor allem für Krypto-Rassismus und Bigotterie. In den aktuellen Konflikten wirken beide als Brandbeschleuniger.

Die Gewalttäter handeln jedoch weder aus politischen noch aus religiösen Motiven, sondern aus Frustration, Perspektivlosigkeit, Kränkung und ohnmächtiger Wut: „Wir haben nichts zu verlieren, man ist schon am Boden des Lochs“, sagte einer dem Reporter von „Le monde“. Unter den 3000 im November verhafteten Jugendlichen fand der Innenminister Nicolas Sarkozy ganze 10, die er als Nicht-Franzosen nach Afrika abschieben könnte. Vier Fünftel der Verhafteten sind 16-18 Jahre alt, Kinder arbeitsloser Väter und nicht vorbestraft. Von der Mehrheit der Franzosen unterscheiden sich diese Jugendlichen durch ihre Hauptfarbe und dadurch, dass sie in den Schulen und auf dem Arbeitsmarkt nicht den Hauch von Chancengleichheit kennen lernen. Im Gegenteil – Schule, Polizei und Arbeitsmarkt sorgen seit dreißig Jahren dafür, dass die französische Nachfahren von ehemaligen Einwanderern ausgegrenzt werden. Diesem sozialen Ausnahmezustand mit polizeilichen zu Mitteln begegnen, gleicht dem Versuch, Feuer mit Benzin zu löschen.

Natürlich gehören Saint-Denis, La Courneuve und Bobigny zu den Pariser Banlieues. Aber immerhin haben diese noch eine U- oder S-Bahnverbindung zur Stadt. Um zu sehen. was es wirklich heißt, in einer Vorstadt zu leben, muss man einen jener Orte aufsuchen, die im Zusatz zu ihrem Namen die reine Idylle versprechen. Zum Beispiel Villiers-le-Bel, das mit dem Schönen nichts gemein hat, oder Clichy-sous-Bois, wo es keinen Wald gibt. Hier begannen die Krawalle am 27.Oktober 2005, nachdem zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei in einer Transformatorenstation verbrannten. Clichy-sous-Bois, eingeklemmt zwischen Autobahnen und Eisenbahnlinien, ist ein Ort ohne Ausgang – unerreichbar mit der U- oder S-Bahn und mit dem Bus nur umständlich, nach 19 Uhr gar nicht mehr. Viele dieser Un-Städte, in denen es außer Billigkaufhäusern und ein paar kleinen Läden nichts gibt – nicht einmal ein Polizeirevier –, wurden bereits vor 20 Jahren zu urbanen Problemzonen erklärt. 1989 gab es im Département du Nord noch 20, heute sind es 50 solcher Zonen und im nahe Paris gelegenen Departement Seine-Saint-Denis waren es früher 6, heute 36; rund um Marseille stieg die Zahl von 3 auf 29. Insgesamt zählte man 1989 noch 148, heute 752 solcher Armen-Ghettos.

Die Probleme in den Vorstädten sind nicht neu. Zu schweren Krawallen kam es etwa in Vaulx-en-Velin bei Lyon schon viermal (1979, 1981, 1990 und 2004). Jacques Chirac führte den Präsidentschaftswahlkampf bereits vor zehn Jahren als Kreuzzug gegen die „Unsicherheit“ und die „soziale Spaltung“ und versprach den Franzosen eine „neue Staatsbürgerlichkeit“, „Fortschritt für alle“ und die Bekämpfung von „Not, Elend und Armut“ in den Banlieues. Geschehen ist danach so viel wie zuvor – nichts. Seit dreißig Jahren gibt es dafür laufend neue Struktur- und Reformpläne, aber erhalten blieb immer der Vorrang urbanistischer Gesichtspunkte vor sozialen, kulturellen und pädagogischen. Für Beton und Polizei gab es immer Geld, für Schulen, soziale und kulturelle Einrichtungen dagegen nicht.

Das Resultat der zynischen Politik aller Regierungen ist ein fast unlösbares Problemkonglomerat aus Massenarbeitslosigkeit, sozialer Diskriminierung, Schulmisere, kultureller Verödung, ghettoisiertem Wohnen, Gewalt, Rassismus und Polizeiwillkür. Diese acht Probleme legen die drei Motoren der sozialen Integration – Schule, Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt und staatsbürgerliche Anerkennung – lahm. An das Gerede von der egalitären, „schwarz-weiß-braunen Gesellschaft“ glauben nur noch jene, die die Zustände in den Vorstädten mit jenen in der bunten französischen Fußball-Nationalmannschaft verwechseln.

Schon lange ist das Gewaltniveau in den Vorstädten sehr hoch. Gemeldet wurden im letzten Jahr 70 000 Fälle urbaner Gewalt in den 752 Ghettos. 28 000 Autos wurden angesteckt. Bis zu 70 Prozent der Jugendlichen in den Banlieues sind arbeitslos. Der Durchschnitt liegt über 20 Prozent. Jedes Jahr verlassen rund 160 000 Schüler die Schule ohne Abschluss. Für 200 Sitzengebliebene gab es in diesem Schuljahr in Saint-Denis keine Lehrer. Das Durchschnittsalter der in dieser Stadt unterrichtenden Lehrer beträgt 23 Jahre. D.h., die unerfahrensten werden an die schwierigsten Schulen abkommandiert und wollen immer nur eins – möglichst schnell wieder weg.

Ein Fünftel aller französischen Kinder besucht Schulen, die in Gebieten liegen, die zu „Zones d’Éducation Prioritaires“ (ZEP) erklärt wurden. Die erzieherische Vorzugsbehandlung, die sie da bekommen, ist lächerlich: die Klassengrößen dürfen im Unterschied zu den Normalklassen um 2 (zwei) Schüler verringert werden, und die Lehrer erhalten einen jährlichen Bonus von 1100 Euro. Damit war der enorm schnelle und häufige Lehrerwechsel in diesen Zonen nicht zu stoppen. Der Staat investiert in die ZEP jährlich 600 Millionen Euro, das entspricht 1 Prozent des Gesamtbudgets des Erziehungsministeriums und pro Schüler macht das 245 Euro aus. Für einen ZEP-Schüler gibt der Staat zweimal weniger aus als für die Absolventen der Vorbereitungsklassen der Pariser Eliteschulen. Allein im Jahr 2004 wurden 600 Lehrerstellen in den ZEP gestrichen.

Lehrer geben Schulabgängern in den Banlieues den Rat, bei Vorstellungsgesprächen nicht zu sagen, wo sie wirklich wohnen, da dadurch die ohnehin geringen Chancen nicht völlig schwinden würden. Jugendliche maghrebinischer und afrikanischer Herkunft mit französischem Pass berichten, dass sie in La Courneuve täglich bis zu 20 Mal polizeilich überprüft, gefilzt und prinzipiell geduzt werden. Bruno Beschizza, der Generalsekretär der Polizeigewerkschaft, setzte nach dem Beginn der Krawalle das Gerücht in Umlauf, „der städtische Terrorismus wird organisiert“ von islamistischen Hintermännern und Drogenhändlern. Einen Tag später trat er den Rückzug an, weil er keinerlei Beleg hatte für seine Behauptung. Man könnte diese sehr unvollständige Liste über die tatsächlichen Zustände in den Banlieues beliebig erweitern.

Und wie reagierten Öffentlichkeit, Politik und Presse auf solche Berichte und auf die Krawalle? Die prominenten Medienintellektuellen schwiegen oder verharmlosten den Aufstand und die Gewalt, als „eine typisch französische Integration durch die Negation“ (André Glucksmann). Nach dieser feinsinnigen Logik wäre eine noch größere Zahl brennender Autos und Schulen ein Beleg für die noch gelungenere Integration. Ebenso lächerlich war der kurzlebige Versuch von einigen Konservativen, die Polygamie für die Krawalle verantwortlich zu machen, oder von Alain Finkielkraut, der den Unruhen „ethnisch-religiösen Charakter“ andichtete.

Die Politik verhängte Ausgangssperren und verlängerte den Ausnahmezustand am 18. November für drei Monate. Nach Umfragen befürworteten Ende November 73 Prozent der Franzosen diese Maßnahmen und sogar 85 Prozent halten die Linie des scharfmacherischen Innenministers Nicolas Sarkozy für richtig. „Verhaften und strafen“ ist für Claude Imbert vom Magazin „Le Point“ die einzige Sprache, die das „Gesindel“ verstehe – so bezeichnete Sarkozy die Jugendlichen pauschal und verteidigte seine Wortwahl mehrmals öffentlich. Er wollte damit den Rechten in den eigenen Reihen und den Rechtsradikalen um Jean-Marie Le Pen („Front national“) und Philippe de Villiers („Mouvement pour la France“) seine Bereitschaft signalisieren, gegen „Ausländer“ und „Fremde“ Stärke und Härte zu zeigen. Er weiß warum: Nach einer ganz neuen Umfrage („Le monde“ 15.12.05) halten 70 Prozent der Franzosen die Gerichte für zu wenig hart und 63 Prozent die Zahl der „Einwanderer“ für zu hoch. 40 Prozent halten die Befugnisse der Polizei für zu gering und 45 sehen in der EU „eine Bedrohung der Identität Frankreichs“. „Nur“ ein Drittel möchte die Todesstrafe wieder einführen. Sarkozy will in zwei Jahren Präsidentschaftskandidat werden, deshalb forciert er die rhetorische Annäherung an Le Pen. Das Wahlvolk ist, wie die Zahlen zeigen, schon ziemlich viel weiter. Es hat die viele Themen des „Front national“ übernommen, wenn auch noch 43 Prozent Le Pen für „maßlos“ und 39 Prozent für „unakzeptabel“ halten.

© links-netz Januar 2006