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Zeit für einen Kalenderwechsel – über Proteste in Frankreich und eine fallende Regierung

Rudolf Walther

Der französische Staatspräsident François Hollande befindet sich in einem absoluten Umfragetief. Er und sein Premierminister Manuel Valls versuchen, politische Brandherde mit Benzin zu löschen. Nach den Pariser Attentaten rief der Staatspräsident den Not- und Kriegszustand aus und erzeugte damit für kurze Zeit eine Stimmung nationaler Einheit und Solidarität. Diese Stimmung verdüsterte sich durch die polizeiliche Willkür bei der praktischen Durchführung von Notstandsmaßnahmen (Wohnungsdurchsuchungen, Festnahmen, Hausarrest-Verfügungen). Vollends verflog die Stimmung, als Hollande monatelang das aussichtslose Vorhaben betrieb, verurteilten Terroristen mit doppelter Staatsbürgerschaft die französische Staatsangehörigkeit abzuerkennen. Am Schluss musste er das in der eigenen Partei höchst umstrittene Projekt lautlos begraben.

Hollande hatte dabei die Möglichkeit, Personen die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, auch auf in Frankreich geborene Kinder von Ausländern (also Franzosen nach dem „droit du sol“ – der Staatsbürgerschaft nach Geburtsort!) ausgedehnt, während selbst der Front National mit ähnlichen Vorschlägen „nur“ auf Personen zielte, die vor weniger als zehn Jahren als Franzosen „naturalisiert“ (eingebürgert) wurden. Mit seiner Hartnäckigkeit wollte Hollande den Konservativen und den Rechten den Wind aus den Segeln nehmen und für sich selbst nach den gestiegenen Umfragewerten auch die Dividende für seinen „Krieg“ gegen den Terror bei der Wählerschaft sichern.

Die sozialistische Parteibasis war dagegen hell empört und zeigte weit mehr politische Sensibilität und historische Einsicht als die Parteiführung und das Pariser Regierungspersonal. Nassera Benmarina, die aus Algerien stammende Stellvertreterin des Abgeordneten Patrick Menucci aus Marseille, schrieb sogar einen Brandbrief an den Pariser Parteisekretär Christophe Cambadélis und die Abgeordneten der Region Bouches-du-Rhône: „Ich war fassungslos, als Präsident Hollande eine alte Forderung der Rechtsextremen rehabilitierte und zwischen ‚Französischstämmigen‘ und ‚Franzosen auf dem Papier‘ unterschied. Ein Staatspräsident, der eine solche Unterscheidung anerkennt, [...] hinterlässt Spuren“ („Le Monde“, 16. Januar 2016). (Siehe dazu: Rudolf Walther: Frankreich in der Eskalationsspirale, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/2016)

Auch auf anderen Feldern der Innenpolitik machen Hollande und die Parteispitze keine gute Figur: Im Februar 2016 hatte Arbeitsministerin Myriam El Khomri mit Aplomb eine „Reform“ des Arbeitsrechts angekündigte. Mit ihr sollte der unübersichtliche Dschungel des „Code du travail“ mit seinen 3.600 Seiten etwas gelichtet werden. Das Arbeitsrecht sollte „vereinfacht“, der „soziale Dialog“ gestärkt und vieles liberalisiert werden. Die „Reform“ trug die Handschrift des altliberalen Wirtschaftsministers Emmanuel Macron – dem wirklichen Autor und Dirigent der „Reform“ (zu Emmanuel Macron siehe: Rudolf Walther: Es ist angespannt, in: freitag, 22.06.2016) und gehorchte den marktüblichen Imperativen: „Mehr arbeiten! Weniger verdienen! Leichter kündigen!“

Die „Reform“ provozierte Zehntausende zu Protesten – neben Gewerkschaften auch Schüler_innen und Student_innen, die ihre ohnehin schon nicht rosigen Startchancen ins Leben und auf den Arbeitsmarkt weiter schwinden sahen. Mit einer Konzession bei den befristeten Arbeitsverträgen brachte Premierminister Valls auch noch die Unternehmer gegen die „Reform“ auf, konnte andererseits aber die Studierenden mit Stipendienzusagen nicht gewinnen.

Eine Initialzündung für die aktuelle, breite Protestbewegung bildete außer der Arbeitsrechts“reform“ der satirische und kritische Dokumentarfilm „Merci patron!“ von François Ruffin, der allein zwischen dem 24. Februar und dem 4. April 2016 in 250 Kinos lief und rund eine viertel Million Zuschauer fand. Ruffins erklärtes Ziel war es, „die Menschen aus dem privaten Unter-sich-Sein“ herauszulocken. Das gelang ziemlich schnell. Zunächst in Paris, dann in 50 weiteren Städten entstand eine bunte Protestbewegung von 18- bis 30-jährigen Arbeitslosen, Gewerkschafter_innen, Gymnasiast_innen, Praktikant_innen, Student_innen, Wohnungslosen, Hausbesetzer_innen, militanten Ökolog_innen. Sie waren vereint in der Gewissheit, dass keine Partei, keine Wahl, kein Parlament, keine Regierung und schon gar nicht die kapitalistische Wirtschafts- und Sozialordnung ihnen einen Zugang zu Bildung, Beruf, Wohnung und Lebenschancen verschaffen wolle und könne. Sie protestierten, wie „Le Monde“ es am 8. April 2016 bündig formulierte, gegen „das prekäre Leben und eine unbewohnbare Welt“.

Unter dem Namen „Nuit debout“ (in etwa „Nachts aufstehen“ oder, mit einem ihrer Slogans: „Wir waren eingeschlafen und wir erwachen“) versammelten sich die Protestierenden nach der Großdemonstration vom 31. März abends auf der Pariser Place de la République. Nacht für Nacht feierten, tanzten und diskutierten sie bis in die Morgenstunden. Viele übernachteten in Zelten und improvisierten Unterständen. Gegen die Vermutung, es handle sich um ein bloßes Strohfeuer, das bald von selbst erlöschen werde, bekräftigten die Demonstrierenden ihren politischen Willen mit einer neuen Zeitmessung: sie zählten nach dem schönen Märztag einfach weiter, und so wurde aus dem 5. April der 36. März.

Die Protestbewegungen wurden in den französischen Medien aufmerksam verfolgt und diskutiert. Zwar besuchten einzelne Politiker die Place de la Rèpublique diskret, aber sie fanden keine Führungskräfte, mit denen sie vor die Kameras treten konnten. Die Protestbewegung bewegt sich chaotisch zwischen Diskussionen und Abstimmungen in Vollversammlungen, Arbeitsgruppen und informellen Zirkeln, aber auf jeden Fall ohne wahrnehmbare Hierarchien. Von sich aus lehnt die Protestbewegung jede Anlehnung an Parteien oder gar die Regierung ab und beschränkt sich darauf, sich den öffentlichen Raum wieder anzueignen, nachdem er im Namen des Ausnahmezustandes über Monate von den Ordnungskräften besetzt worden war. Einzig Vertreter der Schüler_innenorganisationen, die rund 100 Gymnasien im ganzen Land blockierten und Mitschüler_innen, Lehrer_innen und Schulleitungen zu Diskussionen zwangen, waren bereit zu einem Gespräch im Erziehungsministerium, das – in bewährter Taktik – durch seine Gesprächsbereitschaft die Wogen glätten und der Blockadewelle den Wind aus den Segeln nehmen wollte.

Ob Nuit debout das Potential hat, zu einer neuen linken politischen Kraft zu werden, wie etwa „Podemos“ in Spanien, ist unklar. Die Pariser Polizei jedenfalls räumte das Lager der Protestierenden an der Place de la République in der Nacht des 11. April. Die Antwort der Protestierenden: „Wir werden wiederkommen.“ Und dieses „Wir“ steht für links, Solidarität und Antikapitalismus.

Unterdessen gewann die Streikbewegung gegen die Arbeitsrechts“reform“ in dieser Zeit an Schwung. Am 31. März demonstrierten im ganzen Land weit über eine Million Menschen. Obwohl die drei großen Gewerkschaftsverbände gespalten sind und sich untereinander mehr bekämpfen als unterstützen, streikten die CGT („Confédération Générale du Travail“) und FO („Force ouvrière“) dafür, dass das Vorhaben zurückgezogen werde. In Frankreich setzt nur die christlich-sozial orientierte CFDT („Confédération Française Démocratique du Travail“) auf Sozialpartnerschaft. Sie will die Gesetzesvorlage punktuell abschwächen.

Zur organisatorischen Spaltung der französischen Gewerkschaftsbewegung gesellt sich ein schwacher Organisationsgrad. Er liegt mit zehn Prozent etwa halb so hoch wie beim DGB. Aber die Gewerkschaften haben eine andere Kampftradition und agieren in einem Land, in dem politische Streiks nicht verboten sind, sondern legal sind und als legitim gelten. Ja, Streiks sind sogar, auch wenn sie als lästig empfunden werden, beliebt. Die momentane Streikbewegung gegen die „Modernisierung“ des Arbeitsrechts nach dem Vorbild der deutschen Agenda-Politik wird von 70 Prozent der Citoyennes und Citoyens befürwortet.

Die Unternehmerverbände dagegen heizten den Konflikt weiter an, indem sie Maximalforderungen stellten, die weit über die Vorlage der Regierung hinausgingen. Die Regierung spielte zunächst auf Zeit, war aber zu Konzessionen bereit, als sich in vielen Städten eine Kooperation zwischen streikenden Gewerkschaften und den Protestierenden von „Nuit debout“ anbahnte. Der Unternehmerverband MEDEF („Mouvement des Entreprises de France“) begleitet die Hetze der konservativen Presse gegen CGT und FO – vor allem im „Figaro“ – indem er Bürgerkriegstöne anschlägt. Pierre Gattaz, Präsident des MEDEF, beschimpfte Gewerkschaftsführer als „voyous“ („Ganoven“) und verglich sie mit „Terroristen“ (Le Monde, 31. Mai 2016).

Gewerkschaftsführer wie Philippe Martinez von der CGT zeigen sich jedoch gesprächsbereit: „Es gibt keine Vorbedingung. Man wartet seit drei Monaten auf eine Diskussion“ (Le Monde, 2. Juni 2016). Zunächst hatte er die Rücknahme von Artikel 2 des „Reform“gesetzes verlangt. Mit diesem Artikel sollen Branchentarifverträge durch Betriebsvereinbarungen über Lohn und Arbeitszeit ersetzt, also Gewerkschaften verdrängt werden.

Die Maximalisten sitzen woanders:

  • beim MEDEF: „Wenn der Artikel 2 verschwindet, fordern wir die Rücknahme des ganzen Gesetzes“;
  • in der Regierung: „Meine Verantwortung verlangt, bis ans Ende zu gehen“ (Premierminister Manuel Valls);
  • beim Staatspräsidenten: “Es geht um die Klärung zwischen zwei Arten von Gewerkschaft: den Protestgewerkschaften und den Verantwortungsgewerkschaften“ (François Hollande) – Wenn das wirklich die Alternative wäre, müsste Hollande sich auf einen heißen Sommer einstellen.

Die Regierung manövriert sich unterdessen weiter in eine Sackgasse. Trotz Konzessionen und Abschwächungen in Details lehnen fast achtzig Prozent der Bevölkerung die „Reform“ als unsozial ab; selbst in der sozialistischen Parlamentsfraktion wuchs die Minderheit von Abgeordneten, die sich gegen die eigene Regierung erhob und nicht weniger als 3.400 Änderungsanträge stellte. Die Opposition solidarisierte sich mit den Unternehmerverbänden, die die entschärfte Vorlage nun als „Halbmaßnahme“ (Begriff unklar, gemeint: „halbe Sache“?) bezeichneten, obwohl die Arbeitszeiten betrieblich angepasst und betriebsbedingte Kündigungen erleichtert werden können. Bereits der Nachweis sinkender Geschäftsumsätze reicht demnach aus für betriebsbedingte Kündigungen.

Zuletzt blieb der Regierung nur die Notbremse, d.h. der Artikel 49/3 der Verfassung, der es der Regierung erlaubt, ein Gesetzesvorhaben am Parlament vorbei als Dekret durchzusetzen. Unter anderem wegen dieses vordemokratischen Artikels bezeichnete der ehemalige Staatspräsident François Mitterrand die Verfassung von 1958 als „permanenten Staatsstreich“. Seither ist der Artikel 49/3 von allen bisherigen Regierungen über 80 Mal angewendet worden. Der nach 2015 zweite Griff von Hollande/Valls zur „Guillotine“ des Artikels 49/3 hat die Proteste gegen die „Reform“ nicht beruhigt, sondern weiter angeheizt. Dem Parlament blieb in diesem Fall nur, ein Misstrauensvotum gegen die Regierung einzubringen. Die „Parti Socialiste“ (PS) bekam die dafür notwendigen 58 Stimmen nicht zusammen, und der Antrag der Konservativen scheiterte mit 246 Stimmen an der absoluten Mehrheit von 288 Stimmen. Aber die PS hat die eigene Regierung mit den beiden Vorhaben zur Aberkennung der Staatsbürgerschaft und zur Arbeitsrechts“reform“ ein Jahr vor den Wahlen an den Rand einer Spaltung gebracht, weil die Abweichler nun aus der PS ausgeschlossen werden sollen.

Bereits am Tag, an dem der Misstrauensantrag der „Republikaner“ im Parlament scheiterte, gab es Proteste von „Nuit debout“ und Streiks von Gewerkschaften. Daraufhin wurden für den 17. und 19. Mai Streiks der Lastwagenfahrer und Eisenbahner sowie im öffentlichen Nahverkehr und auf Flughäfen angekündigt. CGT-Chef Philippe Martinez kommentierte: „Nichts ist beendet, das geht weiter. Der 49/3 gießt Öl ins Feuer“.

Bilanz des liberalen Husarenritts: der Staatspräsident steht noch schlechter da als zuvor, der Ministerpräsident verfügt über keine Parlamentsmehrheit mehr, die Arbeitsministerin hat ihre erste Bewährungsprobe verloren, die Partei steht am Abgrund.

Die Regierung Valls und Staatspräsident Hollande verfolgten angesichts der Proteste gegen die Arbeitsrechts“reform“ mehrere Strategien. Zunächst versuchten sie es mit dem Spiel auf Zeit unter der Parole, „wir geben nicht nach“. Dann bemühten sie sich, die Gewerkschaftsverbände mit Konzessionen auseinanderzudividieren. Damit scheiterten sie grandios, denn beim Aktionstag am 16. Juni demonstrierten sieben konkurrierende Gewerkschaftsverbände gemeinsam und mobilisierten landesweit über eine Million Menschen. Nach dem Scheitern des Spaltungsversuchs verlegten sich die Regierenden, unterstützt von konservativen Medien und servilen Meinungsforschern, aufs Drohen mit einem Demonstrationsverbot: „Wir werden diesen Typ von Demonstration nicht mehr erlauben, wenn keine Garantien seitens der Organisatoren gegeben werden“ (Hollande). Manuel Valls sprach wörtlich von „der Verantwortung der CGT“ und deutete damit an, woher der Wind weht: Nach dem Vorbild Margret Thatchers sollen die Gewerkschaften für die Umtriebe von „Chaoten“ politisch haftbar gemacht und finanziell ruiniert werden. Die Polizei goss Öl ins Feuer und ließ erstmals seit 1968 wieder Wasserwerfer auffahren. Ihren ohnehin schlechten Ruf, eine scharfmacherische und gewaltbereite Prätorianergarde zu sein, verbesserte sie damit sicher nicht. In keinem demokratischen Land Europas sind Polizisten so berüchtigt wie die französischen „Flics“ oder „Keufs“. In der NZZ vom 17. Juni 2016 werden sie als „eine Kaste am Rande der Gesellschaft“ beschrieben. Interessantes Randphänomen: Philippe Martinez von der CGT bezichtigte die Polizei, „gegenüber den Chaoten nicht zu intervenieren“, obwohl „die Gewerkschaft die Regierung seit drei Monaten dazu auffordert, sie zu stoppen“.

Ein Spitzengespräch zwischen CGT-Vorsitzendem Philippe Martinez und der Arbeitsministerin Myriam El Khomri am 17. Juni, drei Tage nach der letzten Großdemonstration von mehreren Hunderttausenden Menschen in Paris gegen die geplante „Reform“, verlief ergebnislos. Mit Wasserwerfern und Drohungen, Grundrechte einzuschränken, wird der Konflikt weiter verschärft.

Über die Streiks der französischen Gewerkschaften und die Protestbewegung „Nuit debout“ kursieren in Deutschland vor allem medial erzeugte Vorurteile, dekoriert mit demagogischer Stimmungsmache. So hält die „Welt“ (1. Juni 2016) den militanten Streik von CGT und FO für ein „ideologisches Illusionstheater“, in dem – so die Hoffnung – bald für immer der Vorhang fällt. Kolportiert wurde auch, die Gewerkschaften wollten mit ihren Streiks die Fußballeuropameisterschaft stören.

Und spätestens hier hört jeder Spaß auf!

Der Artikel, eine Zusammenstellung der Kommentare von Rudolf Walther, erschien auch im express.

© links-netz Juli 2016