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Was die Franzosen sauer macht:

Die Lebenslügen der republikanischen Meritokratie und der autoritäre Reformismus

Rudolf Walther

Gleichheit (égalité) ist in Frankreich – anders als hierzulande – noch nicht zu einem Schimpfwort geworden. Gleichheit hat dort einen zwar notorisch antastbaren, aber generell noch einen guten Ruf. 1995 stürzte die Regierung von Alain Juppé über den Plan, den schlecht verdienenden Eisenbahnern die Renten zu kürzen. Unvorsichtigerweise nannte Leute mit kleinem Lohn, wegen der relativen Arbeitsplatzsicherheit, die sie genießen, „Privilegierte“. In einem Sturm der Entrüstung und im Namen von Gleichheit brach ein landesweiter Streik aus. Genau dasselbe passierte, als die konservative Regierung 2003 alle Renten kürzen wollte. Nach dem Streik zog sie den Plan zurück, trat jedoch nicht zurück.

Der Auslöser für die aktuelle Streikwelle ist der Plan der Regierung von Dominique de Villepin, Berufsanfängern den Kündigungsschutz für die ersten beiden Jahre zu verweigern. Ausgangspunkt der Proteste, an die sich die Gewerkschaften später anschlossen, waren die Universitäten und Gymnasien. Auch das ist alles andere als neu. Seit den 80er Jahren gibt es an Gymnasien in regelmäßigen Abständen Proteste und Streiks für mehr Lehrer und bessere Lernmittel. Im Oktober 1998 zum Beispiel streikte rund eine halbe Million Gymnasiasten in 350 Städten gegen die Misere an den Schulen. Die Regierung Lionel Jospin versprach ein Sofortprogramm, aber es geschah nichts.

Dass an Schulen und Universitäten ein Dauerkonflikt tobt, hat mit zwei französischen Lebenslügen zu tun. Im Namen der Gleichheit verspricht die Republik seit der Revolution von 1789 jedem gleiche Chancen bei entsprechenden Leistungen. Dem Anspruch nach entscheiden in Frankreich weder soziale Herkunft, noch Hautfarbe über die Lebenschancen, sondern allein die Leistung. Das Land versteht sich insofern als Meritokratie. Die zweite Lebenslüge stammt aus dem Jahr 1977 und ist mit der Einführung der vierjährigen Gesamtschule (Collège) berbunden, die sich an die fünfjährige Grundschule anschließt. Achtzig Prozent aller Schüler sollen danach in der Gymnasialstufe (Lycée) das Abitur machen.

Der kontinuierlich wiederkehrende Protest der Schüler und Studenten richtet sich gegen beide Lebenslügen, denn längst hat sich die behauptete Chancengleichheit als Schwindel herausgestellt. Jede Schüler- und Studentengeneration spürt, dass das egalitäre System in der Praxis die Chancen nachhaltig ungleich verteilt. Das beginnt in den Grundschulen. Im Prinzip sollen Kinder dort eingeschult werden, wo sie wohnen. Das wird von Besserverdienenden mit Zweitadressen bei Verwandten massenhaft umgangen. Selbst in sozial durchmischten Pariser Bezirken finden sich Grundschulen, in denen – „zufällig“ – sozial homogene Klassen aus Mittel- und Oberschichtkindern existieren. In der Gesamtschule und am Gymnasium melden sich die Schüler aus den oberen sozialen Schichten für die als schwer geltenden Fächer Griechisch, Latein oder Deutsch an – was „automatisch“ zu sozial homogenen, weißen Klassen mit Kindern aus Beamten-, Professoren-, Lehrer-, Rechtsanwalts- und Kaufmannsfamilien führt. Den Rest nennen zynische Lehrer „Türkenklassen“. Dasselbe spielt sich beim Übertritt von der Gesamtschule in einen der drei Zweige des Gymnasiums ab. Allgemeinbildendes, technologisches und berufliches Gymnasium bzw. Abitur widerspiegeln haargenau eine Dreiklassengesellschaft. „Der Universalismus des republikanischen Gymnasiums“, von dem reaktionäre Philosophen wie Alain Finkielkraut schwärmen, ist eine Fiktion.

Die Gleichheit der drei Abschlüsse erweist sich auch beim Zugang zur höheren Bildung als Täuschung. Da mittlerweile fast 70 Prozent eines Jahrgangs ein Abitur machen, sind die gewöhnlichen Universitäten restlos überfüllt und katastrophal ausgestattet. Neben den gewöhnlichen Universitäten gibt es die Elitehochschulen (grandes écoles). Über den Zugang zu diesen entscheidet eine zusätzliche zweijährige Vorbereitung und eine schwere Aufnahmeprüfung. Knapp neun Prozent eines Abiturientenjahrgangs schaffen es, an eine Elitehochschule zu gelangen. In diese kommen fast nur Studenten, deren Eltern auch schon hier studierten und deshalb zur Elite gehören. In Frankreich herrscht in Staat, Wirtschaft und Kultur eine Bildungsaristokratie.

Die große Masse der Abiturienten – 1,8 Millionen, etwa 90 Prozent aller Studenten – studiert an den 84 gewöhnlichen Universitäten. Hier kostet jeder Student die Steuerzahler etwa 7000 Euro pro Jahr. Die französische Elite lässt sich die Ausbildung ihres Nachwuchses fast das Doppelte (13 000 Euro) kosten. Der Betrieb an den 84 Universitätsfabriken spottet jeder Beschreibung. Ein Viertel der Studenten resigniert und verlässt die Institution ohne Abschluss, obwohl sich viele Professoren des Betriebsfriedens halber reichlich Mühe geben, die Absolventen so lange zu prüfen, bis auch der Letzte besteht. Diese Praxis entwertete die Diplome.

Das massenhaft verteilte Diplom heißt DEUG („Diplôme d’études universitaires générales“), was man mit „Diplom für allgemeine universitäre Studien“ übersetzen kann. Der Name ist das Programm: Auf dem Papier soll die zweijährige Ausbildung zwar berufliche Qualifikationen bestätigen, aber auf dem Arbeitsmarkt gibt es keine Nachfrage nach schnell ausgebildeten Generalisten. Viele Universitätsabsolventen finden überhaupt keine Stelle oder hangeln sich von einem schlecht bezahlten Praktikantenjob zum nächsten, ohne reelle Aussicht auf eine feste Stelle. Der ganze Frust über die Perspektivenlosigkeit, die mit der Streichung des Kündigungsschutzes noch wuchs, entlud sich in der aktuellen Protest- und Streikwelle. Chirac bediente sich eines winkeladvokatorischen Tricks: Er setzte das Gesetz in Kraft und unterband seine Anwendung. Gleichzeitig kündigte er die zeitliche Begrenzung des Gesetzes sowie Änderungen an. Ob es damit gelingt, die Wut der Studenten zu dämpfen und die Kampfbereitschaft der Gewerkschaften zu durchkreuzen, ist eher fraglich. De Villepin beruft sich auf Napoleon und De Gaulle sowie – wörtlich – auf die „Tradition des autoritären Reformismus“ und die Methode des „heilsamen Elektroschocks“. Er wäre nicht der Erste, der damit scheitert.

© links-netz April 2006