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Verrücktes Geld und die Theologen des Kapitalismus

Rudolf Walther

Geld ist ein besonderer Stoff. Karl Marx nannte Geld- und Kreditpapiere, also sozusagen alles, was heute auch unter „toxisch“ firmiert, „die Mutter aller verrückten Formen“. Nach kapitaler Logik wird das Mutternahe zwar privat gezeugt, aber im Krisenfall gehört der Kindersegen der Allgemeinheit. Das „Verrückte“ wird dem Volksvermögen zugeschlagen wie die Staatsschulden den Noch-Nicht-Geborenen als pränatale Mitgift. Das ist praktisch für die Erzeuger, weniger für deren Nachkommen.

Wenn es um „verrückte Formen“ und Verrücktheiten geht, ist auch der fernsehgerechte Sachverstand immer mit dabei. In den Sozialwissenschaften hat das eine solide Tradition. 1836 bewies Professor Nassau W. Senior (1790-1864) im Auftrag der auch Kinder ausbeutenden Industriellen von Manchester die Unmöglichkeit, den 12-Stunden-Arbeitstag zu verkürzen. Denn nach seiner Rechnung produzierte der Arbeiter in der vorletzten Stunde das Äquivalent für seinen Arbeitslohn und in der letzten den Gewinn für die Unternehmer. Der Zehnstundentag wäre das Ende des Arbeiters und des Kapitalisten – also das Ende von allem – die buchstäblich „die letzte Stunde“. „Des Menschen Herz ist ein wunderlich Ding, namentlich wenn der Mensch sein Herz im Geldbeutel trägt“ (Karl Marx). So verhältnismäßig elaborierte Argumente wie Senior benötigen heute die Riesenökonomen Hans-Werner Sinn und Hans-Olaf Henkel nicht mehr. Sie erobern sich mit den drei Wörtern „Standort Deutschland“, „Export“, „Arbeitsplätze“ spielend Dauerstammplätze im öffentlich-rechtlichen wie im privaten Verblödungstheater.

Etwas oberhalb davon bewegt sich im esoterisch-exklusiven Betrieb der abgeklärten Erben von Niklas Luhmann das Systemkarussell. Luhman selbst hat den Blick der Sozialwissenschaft geschärft. Er war gebildet und scharfsinnig. Die noch immer herumlaufenden Luhmaninis sind nur noch eitel und intellektuell vernagelt. Sie verstehen Luhmanns ingeniöse Theoriearchitektur sozusagen als Damm gegen jede Kapitalismuskritik

Der Münchener Soziologe und Unternehmensberater Armin Nassehi, einer der selbsternannten Luhmann-Stellvertreter auf Erden, versuchte, mitten in der gar nicht vorgesehenen Krise, das kapitalistische System noch einmal mit den Begriffsklötzchen aus Luhmanns Systembaukasten zu rekonstruieren. Das wirkt wie eine unbeabsichtigte Parodie. Was dabei rauskommt, wenn „das System tut“, wie Luhmann sagte, „was das System tut“, weiß heute jeder Zeitungsleser außer den Schmalspur-Begriffsathleten vom Schlage Nassehis, für den immer noch der beobachtende Soziologe die soziale Wirklichkeit“ erzeugt“. Das ist ungefähr so, wie wenn jemand einen Barolo Trinkenden zum „Erzeuger“ des Weins machen würde und nicht das Zusammenspiel von Natur, Winzer und Glück. Was momentan passiert, ist im Sandkasten der Luhmaninis nicht vorgesehen. Das reale Teilsystem Wirtschaft ist nicht mehr dabei – wie theoretisch vorgesehen – Knappheit zu reduzieren, Gewinne zu erzeugen und seine Selbsterhaltung und Selbststeuerung zu organisieren, sondern arbeitet zügig an der tendenziellen Selbstzerstörung und sucht deshalb ganz systemwidrig Hilfe bei „Vater Staat“, was bis vor Kurzem bei den Neoliberalen und Systemtheoretikern noch als Sakrileg galt. Nassehi belegte nur einen beachtlichen buchhändlerischen Kollateralschaden der Krise: diese hat die Regale mit systemtheoretischer Prosa zu Makulatur gemacht: „Die Politik kann die Wirtschaft bestenfalls in der Weise beeinflussen, dass sie ihr Geld entzieht“, hieß es bis gestern bei den Systemtheologen. Und heute darf die Politik zahlen und bürgen für das, was „verrückte“ Theologen des Geldes erfunden und sozialwissenschaftliche Priester mit Rechtfertigungsschleim überzogen haben.

Diejenigen, die gestern noch vor Übergriffen des „Systems Wirtschaft“ auf den vermeintlichen Selbstlauf des Marktes warnten, behaupten nun keck, die Deregulierung, die sie selbst predigten, sei eine „Illusion“ gewesen. Gleichzeitig halten sie an ihrem politischen Konformismus fest und bezeichnen Kapitalismuskritik wie alle Kritik für systemisch nicht vorgesehen und obsolet. Denn: „Das System hat ja nicht versagt. Es hat ganz im Gegenteil den Weg der Krise gefunden, um aus einer Fehlentwicklung gigantischen Ausmaßes, nämlich dem Glauben an eine Wachstumsökonomie ohne jeden Rückschlag, auszusteigen und auf die Illusionen hinzuweisen, die seinem Glauben zugrunde lagen. (...) Das System hat perfekt funktioniert. Und es hat bewiesen, das wir es nach wie vor mit einem Kapitalismus zu tun haben, der selbstverständlich Zukunftswetten abschließt (...) Überwänden wir den Kapitalismus, hätten wir keinen Korrekturmechanismus mehr“ (Dirk Baecker).

Dieses intellektuelle Schmalgetue folgt bis auf die Stelle hinter dem Komma den ganz alten theologischen Rechtfertigungsmustern: Gott schuf die beste aller Welten. Als dann 1755 das Erbeben von Lissabon das christliche wie das nicht-mehrchristliche Europa erschütterte angesichts von 30 000 bis 110 000 Toten entblödeten sich christliche Theologen nicht mit rechtfertigenden Phrasen in der Preislage der Kapitalismus-Theodizee von Baecker: Gott hat gezeigt, dass er auch Erdbeben kann, um zu beweisen, wie perfekt er funktioniert. Hätten wir keine gottgewollten Erdbeben, gäbe es keinen Korrekturmechanismus mehr gegen die Wette, dass es ohne Gott nicht schlimmer wird als mit ihm. Im Unterschied zur alten Theologie, ihrem moralisch-politisch weiten Horizont und ihrer filigranen Argumentationstechnik, fehlt der intellektuell ordinären und politisch reaktionären Theo-Sozioologie der Lumaninis vom Schlage Baeckers und Nassehis allerdings jedes einigermaßen diskussionswürdige Format. Tauglich nur noch für ideologisches Schmierentheater auf Boulevardbühnen.

Wenn es um Geld und Verrücktheit geht sind Schweizer Politiker und Banker immer mit dabei. Auf die 200 Franken Note drucken sie das Porträt des Dichters Charles Ferdinand Ramuz (1878-1947), der einen Lobgesang auf einen Volkshelden und Falschmünzer in Romanform geschrieben hat. Und der konservative Kapitalismuskritiker und Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818-1897) traf die sublime Rache, das sein Bild auf die 1000-Frankennote kam. Wenn der Trend anhält, geraten Niklaus Meienberg, Jean Ziegler, Wilhelm Tell und Heidi dereinst gemeinsam und im Profil auf Schweizer Goldbarren wie früher Marx, Engels, Lenin und Stalin auf sowjetische Devotionalien.

Der Ostschweizer Milizoffizier Josef Ackermann, der dem momentan in Georgien herrschenden Häuptling Michail Saakaschwili gleicht wie ein Zwillingsbruder und dem anderen Georgier – Dschugaschwili – mentalitätsmäßig näher steht als Wilhelm Tell oder Henri Dunant, zeigt das dem deutschen Fernsehpublikum immer wieder. In einem Soloauftritt in einer Talkshow predigte Ackermann über seine fast selbstlose Beteiligung an der „Hilfe“ für „die“ Griechen. Seine „verrückte Form“ der „Hilfe“ kostet Ackermann nicht nur nichts, sie bringt ihm mehr Kohle in die Kasse, als er ausgibt für griechische Staatsanleihen, für die die deutsche Bundesbank, vulgo der deutsche Volkstrottel bzw. Steuerzahler sich verbürgt, während Ackermann die Zinsen von den griechischen Steuerzahlern kassiert. So dekliniert man „solidarische Hilfe“ auf schweizerisch, finanzkapitalistisch und dschugaschwilisch. Null Risiko – ein todsicheres Geschäft – für einige auch todbringend.

© links-netz Juli 2010