Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Krieg und Frieden Übersicht

 

  Nur Text    rtf-Datei    pdf-Datei 

Baumwolle zu Panzer? Anmerkungen zur Kriegsberichterstattung

Rudolf Walther

Gabor Steingart, früher beim „Spiegel“, jetzt Chefredakteur des „Handelsblattes“ – zwei nicht gerade linke Adressen – meinte jüngst, in der Berichterstattung über die Ukraine, Russland, Syrien, Irak, IS, Hamas, Gaza und Israel sei das Meinungsspektrum in den Medien auf „Schießschartengröße“ geschrumpft. Und Fritz Pleitgen, der ehemalige Intendant des WDR, bescheinigte der EU, sie habe die „Ukraine-Verhandlungen betrieben, als handle es sich um einen Staat wie Island“ (Die Gazette Nr. 43, 2014). Die Satiriker Max Uthoff und Claus von Wagner sagten in der Sendung „Die Anstalt“, die Beiträge von namentlich erwähnten Leitartiklern läsen sich wie Verlautbarungen der „NATO-Pressestelle“. Zwei dieser Leitartikler und Helden der Meinungsfreiheit – Josef Joffe und Jochen Bittner (beide DIE ZEIT) – haben juristisch gegen die Satiresendung geklagt und in erster Instanz glatt verloren. Die beiden legten jedoch Berufung ein und werden wohl demnächst auch gegen das Wetter klagen.

Über begriffliche Nuancen, Differenzierung und Präzision braucht man im Falle der Kriegsberichterstattung in den Medien nicht zu reden. Völlig unterscheidungsfern werden „Invasion“, „Aggression“, „Eskalation“, „Annexion“, „Separation“ durcheinander geworfen. Und wie immer, wenn es um Krieg und Frieden geht, gehören auch platte Propaganda und „real“politische Lebkuchenverse in der Preislage von, „wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor“ (si vis pacem para bellum), zum argumentativen Schlag- und Beiwerk (TAZ 30.4./1.5.2014) im Namen von „Selbstbestimmung“ und „Souveränität“. Und Bundespräsident Gauck singt in regelmäßigen Abständen seinen pastoral-präsidialen Segen dazu.

Vom Ausgangs- und Wendepunkt des Konflikts in und um die Ukraine ist schon gar nicht mehr die Rede: nämlich vom 25. November 2013, als die EU der Ukraine in Wilna ein Freihandels- und Assoziierungsabkommen anbot. Die EU hat weltweit rund drei Dutzend solcher Abkommen abgeschlossen. Aber das Angebot an die Ukraine war insofern „scheinheilig“ (Heribert Dieter NZZ 12.3.2014) oder gar vergiftet, als es ein Ultimatum an die legitime Regierung der Ukraine enthielt: Entweder ihr entscheidet euch für ein Freihandelsabkommen mit der EU oder für eine Zollunion mit Putin und seiner Eurasischen Union.

Völkerrechtlich kann ein Staat Freihandelsabkommen mit vielen Staaten abschließen und mehreren Freihandelszonen angehören. Mit einer Zollunion jedoch begibt sich ein Staat in ein Bündnis und tritt die Herrschaft über die Handelspolitik an dieses Bündnis ab, verzichtet also auf Teile seiner Souveränität. Diesen Weg gehen die EU-Staaten seit Jahrzehnten, denn sie bilden eine Zollunion, deren Zentrum in Brüssel liegt. Mit dem Ultimatum an die Ukraine entschied sich Brüssel für einen Kollisionskurs gegen Putin, dem der Weg zur Bildung einer eigenen Zollunion in Eurasien verbaut werden sollte. Die EU verzichtete aus unbekannten Gründen, aber auf jeden Fall fahrlässig auf Gleichberechtigung und Gleichbehandlung Russlands in einem dreiseitigen Vertrag zwischen EU, Russland und der Ukraine. Putin regte einen solchen Vertrag an, stieß aber auf taube Ohren. Wollte man testen, ob und wie man mit Putin Schlitten fahren kann, die Ukraine zum stillen EU- und NATO-Mitglied kürend? Die USA, die EU und die NATO setzten auf Eskalation und Putin antwortete mit der offenen Unterstützung der Sezession (nicht der Annexion!) der Krim.

Das Völkerrecht kennt kein Recht einer Volksgruppe auf Sezession, aber es verbietet diese auch nicht. Das faktische Sezessionsverbot steht in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis zum Selbstbestimmungsrecht, dessen Achillesferse der Umstand bildet, dass kein Mensch zu sagen vermag, wem und mit welchen Mitteln dieses Selbstbestimmungsrecht zusteht. Praktikabel wäre ein solches Recht nur, wenn Völker sprachlich, ethnisch, kulturell und religiös homogene Einheiten wären. Das ist nirgends der Fall.

Was das Völkerrecht verbietet, ist die militärische Intervention eines Staates in einen anderen Staat und die Sanktionierung dieses Schrittes durch eine förmliche Annexion. Was Putin auf der Krim betrieb, war weder eine direkte militärische Intervention noch eine Annexion, sondern eine rechtlich ebenfalls unzulässige, aber schwierig zu beurteilende Einmischung, als er zu einem Referendum aufrief, mit dem die Russen auf der Krim ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen sollten. Ein Fall für den Gerichtshof in Den Haag, denn seit der Erfindung des „nationalen Selbstbestimmungsrechts“ und der „Einmischung in innere Verhältnisse“ eines anderen Staates, sind die Tatbestände völkerrechtlich strittig. Dagegen erscheint das biedere Gerede von Putins „generalstabsmäßig vorbereiteter Annexion, Machtproben und abenteuerlichen Expansionen“ (Gerd Koenen, FAZ 22.9.2014) nur als konformistisch-atlantisches Gesinnungsgerede.

Die Fortsetzung des Konflikts lief schulbuchmäßig: Eskalierte die eine Seite, tat es auch die andere. Der Konflikt geriet so in eine spiralförmige Bewegung, die immer in Gefahr ist, sich zu verselbständigen. Das kommentierende Leitartikelwesen in den deutschen Zeitungen liefert das Schmieröl für diese eigendynamische Bewegung. Zwar versuchten besonnene Politiker wie die Außenminister Steinmeiner und Fabius von Anfang an und bis heute, die Eskalation abzubremsen und den Ausstieg aus der Kooperation im Rahmen der NATO-Russland-Grundakte, die die „Falken“ und der damalige NATO-Generalsekretär Rasmussen kündigen wollten, zu verhindern. Aber diese witterten Oberwasser und sprachen unverblümt von der militärischen Unterstützung der ukrainischen Armee und kündigten schon einmal gemeinsame Manöver mit der Kiewer Junta-Armee an.

Die Kriegsberichterstattung aus dem Nahen Osten unterbietet jene aus der Ukraine noch beträchtlich. Die Medial-Krieger gehen hier aufs Ganze. Der ehemalige französische Außenminister Dominique de Villepin (Le monde (1.10.2014) sprach zu Recht von einem „fernseh-artigen und fernseh-gesteuerten Krieg“ („télévisée et téléguidée“), mit dem das Publikum emotional und ideologisch auf Krieg und – im Falle der Milizen des „Islamischen Staates“ (IS) – auf „Barbarei“ eingestimmt werde. Die rhetorischen Haubitzen wurden in Stellung gebracht: Verhindert „Völkermord“, ein zweites „Ruanda“ oder wenigstens ein zweites „Srebrenica“! Wochenlang tobte die mediale Schlacht um „Kobane“ mit den immer gleichen und nichtssagenden Fotos und den immer gleichen und unpräzisen „Informationen“. Mal beherrschte der IS 70, mal 60 Prozent der Stadt und wurde von drei Seiten hoffnungslos in die Defensive gedrängt, trotz des Bombardements aus der Luft. Das ging so lange, bis die westliche Politik und Presse über Interventionspläne spekulierte und das Publikum weichgeklopft war – bis hinunter zur grünen Pfarrerstochter und Riesenstrategin Katrin Göring-Eckardt, die sich für den Einsatz von Bodentruppen in Syrien auf dem UN-Ticket einsetzte.

Am 17. Oktober kam nach Wochen der Alarmierung und Hysterisierung des Publikums – wie ein Blitz aus heiterem Himmel – die wundergleiche Entwarnung: „Kurden erobern weite Teile Kobanes zurück“ (FAZ). Das wird wieder so zuverlässig belegt wie schon die Eroberungsschlacht zuvor – nämlich gar nicht oder mit Geheimdienstinformationen, Regierungsbulletins und Meinungen einer obskuren „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ in London. „Ex occidente lux!“ steht zwar nicht in der Bibel, ist aber dennoch die Maxime der Medial-Krieger.

Um zu ermessen, wie wir „informiert“ werden, genügt ein Blick auf Karten, die in jeder Zeitung stehen und alle etwa gleich aussehen. Der IS „beherrscht“ demnach einen schmalen Korridor von etwa 500 Kilometern Länge von der irakischen Grenze durch ganz Nordostsyrien bis vor die Städte Kobane und Nizip an der Südgrenze der Türkei.

Der IS verfügt nach Geheimdienstinformationen über 30 000 bis 150 000 Kämpfer. Wie – im ersten Fall – ganze 30 000 Mann einen solchen Korridor militärisch „beherrschen“ sollten, ist für jeden Leutnant ebenso schleierhaft wie die Frage, wie – im zweiten Fall – die enormen logistischen Nachschub- und Versorgungsprobleme gelöst werden könnten, um 150 000 Kämpfer mit Lebensmitteln, Munition, Ersatzteilen, Treibstoff zu versorgen. In dem spärlich besiedelten und agrarisch strukturierten Gelände ist mit gewaltförmigen Requisitionen nicht viel zu holen. Und die Nachschubwege aus Osten, Süden und Westen sind lang und führen durch Kriegsgebiete und Feindesland. Seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg, und auch das weiß seither jeder Leutnant, ist jeder Krieg verstärkt ein Nachschub- und Versorgungsproblem.

In restlos groteske Geschichten und Legenden verwickeln die Medial-Krieger das fernsehende und zeitungslesende Publikum mit der Frage der Kriegsfinanzierung des IS. Zunächst hieß es, die schwarzen Gesellen verfügten über schwarzes Gold (Öl) in Hülle und Fülle. Von 70 000 Barrel zu 159 Litern und drei Millionen Dollar Erlös pro Tag war da die Rede. Mit welcher Armada von Tankern solche Mengen an Öl vom irakischen Nordosten in den Iran, nach Jordanien und in die Türkei durch alle feindlichen Linien hindurch transportiert bzw. geschmuggelt werden sollte, wussten die flotten Medial-Krieger allerdings nicht zu sagen. Seit Ende September, so die Ersatzlegende nach dem Platzen der ersten, würden „nur“ noch rund 20 000 Barrel gefördert, aber auch solche Mengen transportiert man nicht so leicht, auch nicht in Flaschen oder Fässer abgefüllt auf den branchenüblichen Nissan-Pick-ups. Vor der Bombardierung von 16 „improvisierten Raffinerien“ sollen diese nur noch 300 bis 500 Barrel Öl verarbeitet haben. Wie man den technisch anspruchsvollen und komplexen Prozess von Erdöl-Raffinierung „improvisiert“ betreibt, ist ebenso unklar wie die Ersetzung der angeblich 16 zerstörten Anlagen „binnen zehn bis 15 Tagen“ in der Türkei für „200 000 bis 300 000 Dollar“ (SZ 16.10.2014). Wer annimmt, dass man solche Anlagen in zwei Wochen über die Grenze bringt und montiert, muss schon an sehr große Wunder glauben.

Um das Publikum davor zu bewahren, wird wohl die vierte Legende gestrickt: Neuerdings, heißt es, sei der IS von Öl auf Baumwolle als Finanzierungsquelle umgestiegen. Syrien produziert 0,55 Prozent der Baumwolle-Weltproduktion. Gewiss ist, dass eine Tonne Baumwolle auf dem Weltmarkt momentan etwa 130 Dollar kostet. Ein LKW voll Baumwolle mit einer Nutzlast von 25 Tonnen ergibt also einen Bruttoerlös von 3640 Dollar. Falls der IS einen Exporthafen und einen Käufer findet!

Ein ordentlicher Panzer kostet mindestens 2,5 Millionen Dollar, ein Sturmgewehr je nach Qualität zwischen 600 und 2000 Dollar. Etwa in der 5. Schulklasse wird, wovor auch Medial-Krieger nicht bewahrt worden sein dürften, die Dreisatzrechnung gelehrt: Wie viele Lastwagen Baumwolle muss der IS ins Rollen bringen, um einen Panzer und 100 Sturmgewehre zu kaufen? In Sachen Krieg und Frieden und insbesondere von Kriegsberichterstattung lohnt es sich, die sprichwörtlich ganz einfachen Fragen zu stellen, auf die man notorisch keine Antwort bekommt.

„Niemand hat genaue Zahlen, alle Schätzungen, auch die des US-Militärs, beruhen auf einer Reihe von Annahmen, die wiederum nur zu einem Teil auf gesicherten Informationen fußen“, warnt der Nahostexperte David Butter vom Londoner Think Tank Chatham House. Und weil man von allem nichts Genaues weiß, muss der IS „medial-kriegerisch“ sofort mit (kostenlos erworbenen) „Massenvernichtungswaffen“ ausgestattet werden, damit das europäische Publikum nicht aufhört zu zittern.

Die Auswanderung von Hilfs-Dschihadisten aus westlichen Ländern ist schon länger ein prominentes Sujet für Medial-Krieger, Verfassungsschützer und Leitartikelpoeten. Realistische Zahlen gibt es natürlich nicht, aber das gehört zum Genre. Bei anderen Themen schauen die Medial-Krieger genauer hin. Etwa auf Putins Besuch in Belgrad. Der FAZ-Medial-Krieger Michael Martens zählte haargenau dreimal drei Wangenküsse zwischen Putin und Tomislav Nikolič, zusammen also 18 Hautkontakte und bilanzierte messerscharf genau: „Weder Angela Merkel noch Gerhard Schröder kamen bei ihren Aufenthalten in Belgrad und Moskau auch nur auf eine vergleichbare Zahl“ (17.10.2014). Für Medial-Krieger sind auch Küsse Waffen.

Da und dort taucht im Internet ein Idiot auf, der sich aus Ekel und Frust vor und mit allem aus Deutschland, Frankreich oder England nach Syrien verlaufen hat. Was soll eine „mit modernsten Waffen ausgestattete Truppe von rundum professionellen Elitekämpfern des IS“ – so die Optik der Medial-Krieger – mit ahnungslosen Trittbrettfahrern anfangen? Oder täuschen wir uns über die Raffinesse der Hilfs-Dschihadisten? Bringen diese etwa alle ihren persönlichen Panzer oder wenigstens ihr Sturmgewehr nach Syrien mit und verstärken die Kampfkraft des IS laufend? Irgendwann wird auch der Verfassungsschutz die geheimen Panzerübungsplätze und Schießanlagen der deutschen Hilfs-Dschihadisten orten. Aber dann wird es wieder einmal zu spät sein, wie fast immer, wenn der Verfassungsschutz mitmischt.

Die hölzernen Kommandoerklärungen der RAF wollte niemand lesen und schon gar nicht abdrucken. Zumindest darin ist der IS dem Terrorismus von gestern weit überlegen. Dank der freiwilligen, unbezahlten und inoffiziellen Mitarbeit der Medial-Krieger im Westen gelingt es dem IS spielend, angeberisch-propagandistische Absichtserklärungen über Nacht Wirklichkeit werden lassen. In einer Internetpostille erklärte eine Gruppe des IS jüngst, man werde gefangene Frauen und Kinder aus der Minderheit der Jesiden versklaven und an verdiente Kämpfer verkaufen. Was dem Selbstmordattentäter die Jungfrauen im Jenseits, sind den IS-Kämpfern die Sex-Sklavinnen im Diesseits. Alles klar? Selbst bei wüsten Fanatikern dauert es zwar in der Regel bei der Umsetzung von Absichtserklärungen bis zu deren Verwirklichung ein wenig. Nicht so, wenn Medial-Krieger mithelfen: Am nächsten Tag stand in der gleichen Zeitung bereits die Vollzugsmeldung im Indikativ: „Die Versklavung von Frauen und Kindern wie jetzt durch die Islamisten im Irak und in Syrien hat Tradition“ (taz 17.10.2014).

Es gibt im deutschen Fernsehen „Informationssendungen“, die zum großen Teil aus Propagandabildern und -filmen des IS bestehen. Erst seit Kurzem werden diese Filme und Bilder mit Einblendungen auch als „Propaganda“ bezeichnet und dienen zur „realistischen“ Illustration dessen, was die frei schwadronierenden Medial-Krieger vor laufender Kamera improvisieren. Die Qualität der Kriegsberichterstattung schrumpft mit ihrer Beschleunigung und der untermalenden Bebilderung durch Propagandamaterial der Kriegsparteien.

Nur selten wird das atavistische Weltbild von good guys hier und bad guys dort noch durchbrochen. Ein einziger Augenzeugenbericht widmete sich in letzter Zeit den fürchterlichen Vergeltungs- und Racheakten von kurdischen good guys an der sunnitisch-arabischen Zivilbevölkerung unter dem Vorwand, „wir dürfen dem Terrorismus nicht vergeben und mit den Terroristen nicht menschlich umgehen“ (NZZ 14.10.2014).

© links-netz Dezember 2014