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Knutologie

Rudolf Walther

Die älteren Großdichter Martin Walser (geb. 1927) und Günter Grass (geb. 1927) leiden mit zunehmendem Alter an Selbstgerechtigkeit, Selbstüberschätzung und starrsinniger Rechthaberei. Walser bezog für eine Rede Prügel, in der er die Couch beim Analytiker mit einer öffentlichen Tribüne verwechselte. Für Grass hagelte es Kritik, weil er – der Scharfrichter in Sachen Politik und Moral – 60 Jahre gebraucht hat, um dem Publikum mitzuteilen, dass er für kurze Zeit bei der SS war: Beide antworteten mit Schimpftiraden auf die Presse. Walser kam mit dem Argument, er rede über sich, und alle anderen hätten doch nur Meinungen anzubieten. Die dämlichste aller Meinungen ist freilich die, zu behaupten, keine Meinung zu vertreten, sei keine Meinung. sondern die Wahrheit. Der robustere Grass ging mit seiner Presseschelte in die Vollen: „Wolfsrudelgeheul, „Niveauverlust“, „Niedertracht“, „Niedermachen“ und „Gleichgestimmtheit“.

Und mit dem letzten Wort zumindest hat Grass völlig Recht – freilich nicht in eigener Sache, sondern in einer ganz anderen. In periodischen Abständen fällt die Presse von FAZ bis taz in „Gleichgestimmtheit“ bzw. in den Zustand rasender Selbst- und Publikumsverblödung. Kaum war es mit dem „kraftmeierischen und bierselig lauten Pop- und Party-Patriotismus“ (NZZ) der Fußballweltmeisterschaft und der damit verbundenen journalistischen Laberkonjunktur vorbei, entdeckten fast alle deutschen Zeitungen und alle Fernsehkanäle den Bären Bruno. Und sie berichteten über diesen nicht irgendwo in einer Nische auf fünf Zeilen, sondern prominent plaziert und üppig bebildert tagelang. Über Nacht wurden Horden von Journalisten fast aller Ressorts zu Bären-Experten und Freizeit-Brunologen.

Nachdem letzte Woche ein Berliner Lokalblatt über den Eisbären Knut und den Vorschlag eines Tierschützers berichtete, Knut lieber einzuschläfern als wie ein menschliches Baby aufzuziehen, mauserten sich die Brunologen schnell zu Knutologen und stürzten sich ins Delirium der höheren Knutologie. In totaler „Gleichgestimmtheit“ (Günter Grass) fanden sich die schreibenden, redenden und filmenden Knutologen in Kompaniestärke im Berliner Zoo ein und besoffen sich bärenmäßig an Knut, bevor sie sich ans Berichten über ihn machten. Umweltminister Sigmar Gabriel, der bärenhafteste Sozialdemokrat neben Kurt Beck, ließ es sich nicht nehmen, ins knutschige Fell Knuts zu greifen, um ins Fernsehen zu kommen. Wenn aus Knut später einmal ein wüster Menschenfresser wird, weiß man jedenfalls warum. Eisbären haben wie Wildschweine ein gutes Gedächtnis für Missbräuche und obendrein eine sehr verletzbare Seele.

© links-netz März 2007