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Elementare Fragen für eine Linkspartei

Rudolf Walther

In ganz Europa stecken die linken Parteien in einer paradoxen Lage, die einem fast ausweglosen Dilemma gleichkommt: wenn sie sich dem Druck des Neoliberalismus ganz anpassen, verlieren sie die Macht oder gehen ganz unter; wenn sie sich dem Druck nur entgegen stemmen, verlieren sie ebenfalls die Macht oder kommen gar nicht erst an diese heran.

Untersucht man die Lage in den einzelnen Ländern, erkennt man jedoch, dass das Dilemma nicht überall gleich ausweglos ist. In Italien wird mit der aus der „Kommunistischen Partei Italiens“ hervorgegangenen, und im linksliberalen Bündnis L’Ulivo integrierten Partei „Democratici di Sinistra“ (DS) üblicherweise die Schelle „ex-kommunistisch“ umgehängt, obwohl diese Partei mit der alten KP nichts mehr zu tun hat. Sie konnte sich erneuern, muss jedoch auch darauf achten, ihr linken Charakter nicht völlig aufzugeben, denn sie steht von links unter dem Druck der „Rifondazione Communista (RC). Diese beerbt sofort Teile der DS, wenn diese Partei zu weit nach rechts rückt. Sie erhielt deshalb auch schon einmal 35 Sitze im Parlament. Die RC vereinigt wie die deutsche PDS in ihrer Führungsriege nur „gewendete“ Kommunisten und deren faktische Politik hat so wenig mit den spätstalinistischen Praktiken zu tun wie die Politik der PDS mit jener der ehemaligen SED. Die permanente Konkurrenz zwischen DS und RC belebt beide Parteien, während die PDS allenfalls in den neuen Bundesländern eine solche Rolle spielt. Die linken Parteien in Italien bleiben in Bewegung und dümpeln nicht vor sich hin.

Etwas anders liegen die Dinge in Frankreich. Der „Parti Socialiste“ (PS) ist in der Regel zweit stärkste Partei des Landes. Die Partei besteht aus fünf Fraktionen, die „Familien“ genannt werden und sich um Personen gruppieren: François Hollande, Martine Aubry, Dominique Strauss-Kahn, Laurent Fabius und Arnaud Montebourg. Für die jüngste Abstimmung über die EU-Verfassung plädierte zwar eine Mehrheit der Parteimitglieder für ein Ja, aber die herrschenden Familienclans waren total zerstritten: die drei ersten waren für, die beiden letzten gegen die Verfassung. Faktisch war die Partei gespalten in einen eher links-liberalen und einen linken Block. Ab sofort wird es im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 2007 eine munteres Ringen um programmatische Grundlagen und Personen geben um so mehr, als die Sozialisten unter dem Druck der KPF und zwei trotzkistischen Gruppierungen stehen. Auch hier herrscht also keine Stagnation oder gar Resignation. Was zeigen die beiden Beispiele: linke Parteien bleiben nur eine wirkliche politische Alternative erneuerungsfähig, wenn sie mit anderen linken Parteien in Konkurrenz um Programme und Wähleranteile ringen oder von außerparlamentarischen Bewegungen angetrieben werden.

Linke Parteien fehlen in England und Deutschland. In beiden Länder haben die Labour Party bzw. die SPD keine ernsthafte linke Konkurrenz und von ihren Führungsfiguren Tony Blair, Franz Müntefering und Gerhard Schröder mittlerweile so verformte Parteien, dass alternative Politik und programmatische Erneuerung aussichtslos geworden sind. Mit Gerhard Schröder und seinem Kurs der „neuen Mitte“ sowie „Hartz I-IV“ und der „Agenda 2010“ hat sich die SPD der liberal-konservativen CDU/CSU bis zur Ununterscheidbarkeit angenähert.

Der politische Weg der Sozialdemokratie belegt wenigstens zweierlei. Erstens: Wenn Schröder und Müntefering im Alleingang mit ein paar Beratern an allen Gremien vorbei Neuwahlen durchsetzen, sollte man von innerparteilicher Demokratie ebenso wenig reden wie von Selbstreinigungskräften der Partei. Diese scheint nicht einmal mehr fähig zu einem ordentlichen Putsch gegen die autoritäre Führungsriege. Zweitens: Jene grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen, die unumgänglich geworden sind, lassen sich mit einer Partei wie der Schröder-SPD nicht machen.

Die SPD hat sich in ihrer 142-jährigen Geschichte schon oft „gemausert“, wie August Bebel (1840-1913) – Mitbegründer der SPD – sich ausdrückte. 1914 kippte sie ins nationale Lager und 1959 machte sie ihren Frieden mit der NATO. Gibt es für Sozialdemokraten, zumal für jene, die sich als linke Sozialdemokraten verstehen, keine Schmerzgrenze beim Mausern? Zumindest einmal wurde diese Grenze erreicht. Während des ersten Weltkriegs entfernten sich zahlreiche Sozialdemokraten vom Kriegskurs der Partei. 1917 gründeten sie die „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (USPD). Es geht nicht darum, daraus fragwürdige historische Analogieschlüsse zu ziehen, aber linke Sozialdemokraten müssen sich schon fragen lassen, wie lange sie sich von der Schröder-SPD vorführen lassen wollen.

Wenn von Parteispaltung die Rede ist, wird reflexhaft das Ende der Weimarer Republik beschworen, für das die Spaltung der Arbeiterbewegung in Sozialdemokraten, Kommunisten und ein paar linke Splittergruppen verantwortlich gemacht wird. Mit diesem holzschnittartigen Argument wird jede Debatte abgewürgt: „Spaltung hilft den Rechten und Konservativen. Basta!“ Diese Gefahr ist nicht völlig auszuschließen, denn jede Parteispaltung birgt das Risiko der Verzettelung. Andererseits mündet nicht jede Spaltung in das notorisch befürchtete „Parteienchaos“. Und ob die CDU/CSU regiert oder die Schröder-SPD läuft so ziemlich auf dasselbe hinaus.

Man sollte die Dinge deshalb etwas gelassener sehen. Faktisch hat sich die Spaltung längst vollzogen. Mit jedem Schritt zur „neuen Mitte“ trennte sich Schröder und seine SPD von traditionell sozialdemokratischen Milieus, die fortan meistens gar nicht mehr wählten. Natürlich sind nicht alle Nicht-Wähler ehemalige Wähler der SPD, aber bei den NRW-Wahlen stellten die 37 Prozent Nichtwähler die zweitstärkste „Partei“ und übertrafen die SPD um fast zehn Prozent.

Wer Veränderungen will oder wenigstens die Neugründung einer substantiellen Opposition, die Chancen hat auf zwanzig Prozent Wähleranteil, der kommt nicht darum herum, Nichtwähler zu mobilisieren und jene Teile aus der SPD herauszulösen, die an solchen Veränderungen ein Interesse haben. Diejenigen, die sich als linke Sozialdemokraten bezeichnen, sind ein Indiz dafür, dass es in der SPD noch Leute gibt, die wirkliche Strukturveränderungen wollen.

Es geht bei der Mobilisierung für ein linkes Projekt nicht darum, mit verbalradikalen Heuschrecken-Parolen, die sich wechselseitig überbieten, durchs Land zu reisen. Es geht um neue Konzepte und Alternativen zur neoliberalen Politik und ihren Angeboten. Die Frage lautet in ihrer schlichtesten Formulierung: Wie wollen wir leben und zusammenleben – heute, morgen und übermorgen? „Wir brauchen den anderen Fortschritt, er kann mit Sicherheit keine Fortsetzung des bisherigen sein. Der andere Fortschritt, das ist gewiss auch die Vermehrung des materiellen Wohlstands – eines Wohlstands allerdings, der anders, gerechter in der Welt verteilt sein müsste; eines Wohlstands mit Maß und Vernunft, keines Wohlstands zum Wegwerfen und Neukaufen. Der andere Fortschritt aber ist vor allem Vermehrung der Qualität, nicht der Quantität: Qualität der Konsumgüter, Qualität der Bildung, Qualität der Kommunikation und ihrer Mittel. Qualität der Arbeit, Qualität der Umwelt, Qualität des Lebens.“

Das Pathos ist hoch und unüberhörbar, der herbe Sound etwas fremd. Das Zitat stammt von Oskar Lafontaine und ist zwanzig Jahre alt. Aber veraltet ist daran gar nichts. Linke Sozialdemokraten sollten allein aus Selbstachtung den Bruch mit ihrer Partei riskieren und statt sich ständig demütigen zu lassen, am Projekt einer Neuformulierung politischer Alternativen mitarbeiten. Dabei ginge es weder darum, utopische Ziele möglichst bunt auszumalen, noch darum, weitausgreifende Theorien zu entwerfen. Vielmehr sollten elementare Fragen, wie wir leben und zusammenleben wollen, zu politischen Konzepten mit mittlerer Reichweite gebündelt werden.

Was bedeutet Rücksicht auf die Begrenztheit natürlicher Ressourcen für unseren Rohstoff- und Energieverbrauch? Was bedeutet angesichts der Massenarbeitslosigkeit und der hilflosen neoliberalen Beschwörung von „Wachstum, Wachstum!“, „Arbeitsplätze, Arbeitsplätze!“ eine Um- und Neuverteilung der vorhandenen Arbeit, da Wachstum und Vollbeschäftigung nicht nur keine Ziele, sondern Alpträume geworden sind? Welche Alternativen gibt es zur herkömmlichen und nur sektoral erneuerten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung? Wie wird Chancengleichheit im Bildungswesen hergestellt? Wie sieht eine grundlegende Neu- und Umverteilung von Steuerlasten aus, und wie können Sozialsysteme so von der Lohnarbeit entkoppelt werden, dass sie stabil und gleichzeitig gerecht sind?

Damit sind skizzenhaft nur ein paar elementare und ältere Fragen formuliert, auf die die SPD wie die Grünen nicht nur keine Antworten haben, sondern die sie gar nicht mehr stellen. Oskar Lafontaine gründete 1985 sein Plädoyer für das Zusammengehen mit den Grünen u.a. auf die Hoffnung, von diesen gehe ein innovativer Schub aus für „eine neue Politik,“ die er damals „Ökosozialismus“ nannte und als Verbindung des Kampfes gegen die Ausbeutung von Menschen mit dem Kampf gegen Naturzerstörung verstand. Diese Hoffnung ist nachhaltig dementiert worden durch die Politik der rot-grünen Koalition. Sozialdemokraten, zumal linke, sollten Bilanz ziehen und sich verabschieden von einer Partei, der politische Phantasie ebenso abhanden gekommen ist wie der Sinn für soziale Gerechtigkeit.

© links-netz Juli 2005