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Wenn nichts mehr läuft, wird das Selbst aktiv

Ein Konjunkturbericht

Rudolf Walther

Nach den Regeln, die in Niklas Luhmanns Systemsandkasten herrschen, sind selbstreferentielle Systeme „autonome Systeme, die diese Geschlossenheit zur Erhaltung der eigenen Autopoiesis (Selbsterhaltung RW) und Ermöglichung eigner Beobachtung verwenden“. Das System des Kapitalismus ist momentan allerdings nicht gerade dabei, sich zu erhalten und „zu tun, was es tut“ (Luhmann), sondern es zerlegt sich selbst. Es hat sich im Laufe der Finanzkrise von der Selbstverwertung des Werts im Dienste der Profiterzielung auf tendenzielle Selbstzerstörung umgestellt.

Auch sonst liegt Selbsttun schwer im Trend. Giovanni di Lorenzo – der Chefredakteur der ZEIT – half zuerst dem Betrügerbaron zu Guttenberg bei der (zunächst missglückten) Selbstrehabilitation und musste dann zur Selbstrettung das husch-husch mit dem Interview-Buch verdiente Geld sofort an karitative Organisationen spenden, um sich vor der Demontage durch die eigene Redaktion und der Wut der Leser in Sicherheit zu bringen. Außer Spesen nichts gewesen. Im Zirkus Jauch trat di Lorenzo nicht als selbstbewusster Medienzampano auf, sondern als zerknirschter Fehlermelder.

Einen anderen Betrüger, den verfetteten Kim Schmitz alias Kim Dotcom alias Dr. Kimble oder Dr. Evil, hat es viel wuchtiger getroffen: er sitzt als betrogener Betrüger im Gefängnis, weil sich sein Geschäftsmodell selbst verbrannte und ihm am Schluss nur noch die Flucht nach Asien blieb, wo er seinen Laden „Megaupload“ aufzog. Dort hackte das FBI den Hacker, sperrte seine Konten und setze den Champagner-Liebhaber ins Trockene. Ein self-performer, den der ehemalige Innenminister und jetzige Finanzminister Wolfgang Schäuble als „gelungenstes Beispiel für Resozialisierung“ lobte, kam an sein selbstverschuldetes Ende und übt sich nun in Selbstreflexion hinter vergitterten Fenstern im reflexiven Megadownfeeling.

Die Selbstbeschäftigung ist kein Privileg des gestrauchelten oder mittleren Personals. Auch die ganz oben sind dabei. Der Bundespräsident Christian Wulff hat kaum noch Zeit für Amt, Frau und Kinder, denn er ist sozusagen rund um die Uhr eingebunden in einen juristischen und medialen Selbstreinigungsprozess. Um einer Anklage wegen Amtspflichtverletzung zu entgehen, bleibt ihm nur noch „die negative Feststellungsklage“. Damit meinen die Juristen eine Klage gegen sich selbst, mit der festgestellt werden soll, dass der Amtsinhaber – also Wulff – „nicht vorsätzlich die Verfassung oder ein Gesetz verletzt“ hat.

Eine ganz aparte Form der Selbstbeschäftigung hat die FDP gewählt, die sich bekanntlich mit Werten zwischen zwei und drei Prozent bei der Wählergunst langsam aber sicher zur Splitterpartei mit einer Null vor dem Komma mausert. Das besserverdienende Publikum verlässt das absaufende Schiff. Der Kapitän Philipp Rösler hat Rettungsboote und Rettungsringe im Motorraum des FDP-Schiffs verbrennen lassen und vertraut allein auf sich, seine zwangsverpflichtete Mannschaft, die sich vor Arbeitslosigkeit fürchtet und vor allem vor den selbst gestrickten Rettungsrezepten des Kapitäns. Nachdem selbst die Kanzlerin eingesehen hat, dass man ohne eine griffige Finanztransaktionssteuer nicht mehr auskommt, versteift sich Rösler auf ein Nein eben dazu. Ganz im Sinne der Schärfung des Negativimages als Einpunktpartei – Steuersenkung, Steuersenkung, Steuersenkung – verstärkt Rösler noch einmal trotzig das Markenzeichen „no new taxes“, mit dem Westerwelle und er die Partei auf den Sinkflug geschickt haben. Die Steuerverweigerungsideologie ist die Schrumpfform des Liberalismus. Der entstand aus dem politischen Anspruch, den Steuern zahlende Bürger auf Machtbeteiligung seit dem späten 18. Jahrhundert beanspruchten: „no taxation without representation“. Die Tea-Party-Bewegung in den USA und der Westerwelle-Rösler-Zahnarztliberalismus versteifen sich auf Steuersenkungen und lassen politische Ansprüche fallen. Bornierte Selbstbehauptung mündet so auf direktem Weg in die politische Selbstversenkung.

Wenn Rösler auf seinem Kurs gegen Finanztransaktionssteuern beharrt, der absehbar mit dem Koalitionspartner CDU/CSU nicht mehr zu halten ist, läutet er das Ende der Partei ein. Selbst unter den noch nicht ganz selbstverblendeten Liberalen wie Kubicki stößt er damit auf Widerstand – und dies nicht nur, weil in Schleswig-Holstein im Mai gewählt wird.

Gleicht das Steuertheater der FDP einer Schmierenkomödie, so der Kurs der Partei der Linken eher einer Tragikomödie. Das monatelange Gerangel um das Führungspersonal war nur oberflächlich beendet, als einige linke Bundestagsabgeordnete die Weltpolitik entdeckten. Unter diesen Riesenpolitikern figuriert auch Diether Dehm, der 1993 – damals noch SPD-Mitglied – der SPD den baldigen Untergang voraussagte, weil sie die monatliche Kassierung der Mitgliederbeiträge an der Haustür der Parteimitglieder durch vertrauenswürdige Genossen einstellte. Hauskassierung war eine aus der Not geborene Finanzierungsmethode unter Bismarcks Sozialistengesetz (1878-1890), als die Partei verboten war. Jetzt haben Dehm & Co einen Drang nach Höherem – mit einem „Appell: Solidarität mit den Völkern Irans und Syriens“. Es fragt sich, wie viele Tassen man noch im Schrank haben muss, um als linker Abgeordneter gerade jetzt einen solchen Aufruf zu lancieren.

Die Völker Irans und Syriens verdienen allemal Solidarität, denn sie werden von korrupten Eliten regiert und manipuliert, die vor fast nichts zurückschrecken. Man muss den zum größten Teil von außerhalb der beiden Länder kommenden oder von dubiosen Exilgruppierungen fabrizierten Meldungen aus dem Iran und Syrien wirklich nicht vertrauen, um zu erkennen, dass die Zustände in beiden Ländern weder von den USA noch von Israel verursacht wurden. Selbst wenn man einräumt, dass es Hardliner in den USA und in Israel gibt, die das Risiko eines Krieges gegen Iran und/oder Syrien nicht scheuen, heißt das noch nicht, dass sie auch verantwortlich sind für den Bürgerkrieg, den die iranischen und syrischen Regimes gegen die eigene Bevölkerung führen. Um den Ausnahmezustand in den beiden Ländern herbeizuführen, braucht man keine „eingeschleusten Spezialeinheiten“ aus den USA und den NATO-Staaten, wie die linken Weltpolitiker in ihrem „Appell“ meinen. Das schaffen die syrischen und iranischen Regimes gründlich und ganz allein. Statt einer Exkursion ins Weltpolitische hätten die linken Abgeordneten besser eine fundierte Kritik der einseitigen Berichterstattung in unseren Medien geliefert – ohne bodenlose Spekulationen und abgestandene Verschwörungstheorien. Es ist ja nur noch lächerlich, wenn in Berichten über den Bürgerkrieg in Syrien die von der Armee getöteten Aufständischen und Demonstranten vorkommen und die üblichen „Experten“ von Scholl-Latour bis Lüders ferndiagnostisch den Eindruck erwecken, die Aufständischen und die desertierten Soldaten würden zwar schießen, aber nicht töten. Es ist dasselbe mediale Trauerspiel wie bei der Intervention in Libyen: Die NATO bombt garantiert ohne Blutvergießen.

Das Tragikomische am Aufruf der linken Weltpolitiker ist nicht die hermetische Selbstvernagelung der Autoren, sondern die Tatsache, dass die damit herauf beschworenen innerparteilichen Konflikte zur Selbstzerstörung der auf vielen Politikfeldern einzigen Oppositionspartei beitragen können. Wenn die Linke jemand vor der Selbstzerstörung rettet, dann ist es ausgerechnet der konservative Innenminister und sein selbstgenügsamer Verfassungsschutz, der die linke Bundestagsfraktion unter Generalverdacht stellt und observiert wie einen Spionage- oder Drogenhändlerring. In der Rolle als Opfer und Märtyrer könnte die Linke zurückgewinnen, was sie durch die selbstvergessene Politik einiger Abgeordneter verspielt: Vertrauen. Friedrichs Gurkentruppe, die die seit 1998 marodierend durchs Land ziehende rechtsradikale Bande nicht wahrnahm oder nicht wahrnehmen wollte, als Retterin der Linken! Das liefe dann wohl auf die Selbstauflösung der Behörde hinaus, die schon seit geraumer Zeit allerlei schützt nur nicht die Verfassung. Die Behörde bleibt auch am vierzigsten Jahrestag der Einführung des Radikalenerlasses ihrer Tradition treu.

Die Rettung des Selbst und der Verrat des Selbst liegen oft nahe zusammen. Die Grünen wollten früher Weltpolitik machen. Sie schickten in den 80er Jahren eine Abordnung zu Gaddafi, um ihm klar zu machen, was entschieden grüner ist als dessen „grünes Buch“ und seine Revolution. Otto Schily war wie immer auch ganz vorne mit dabei und lernte so den Wüstensohn kennen, dem er Jahre später als Innenminister nichts Grünes verkaufte, sondern Guantanamo-NATO-Draht, Know how und Geld zum Lagerbau anbot, um Flüchtlinge aus Afrika vor der Flucht nach Europa abzufangen und einzusperren im Wüstenstaat. Mit dem ersten Besuch ernteten Schily & Co Lachkrämpfe, mit dem zweiten Weinkrämpfe und Scham. Auch Selbstverblödung und Selbstverrat gehören zusammen.

© links-netz Februar 2012