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Ni Macron, ni Privatisation

Mit Tai Chi gegen die politische Ökonomie der Ordonnances – die Eisenbahner-Streiks in Frankreich

Rudolf Walther

Die „Methode Macron“ beruht auf einer simplen Devise: „Ihr diskutiert, ich entscheide“. Das hat bislang funktioniert – etwa bei der Reform des Arbeitsrechts, bei der die Regierung Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften zu getrennten Verhandlungen einlud und schließlich mit „Verordnungen“ („Ordonnances“) am Parlament vorbei genau das durchsetzte, was sie sich vorgenommen hatte. Das Parlament hatte am Schluss nur noch die Alternative, das Reformpaket abzunicken oder es ganz zu verwerfen. Parlamentarische Debatten oder Änderungsanträge sind in der auf Effizienz umgestellten Regierungsmaschine Macron unter dem Decknamen „Demokratie“ nicht mehr vorgesehen. Jean Baptiste de Montvalon bescheinigte Macron deshalb „Bonapartismus in seiner Art zu regieren“ (Le Monde vom 27. Februar 2018).

Das Regieren mit Verordnungen ist verfassungsrechtlich hoch umstritten, denn der Artikel 38, der die Anwendung regelt, ist für Ausnahmesituationen und Notfälle gedacht. Diese Ansicht vertrat auch Macron vor seiner Wahl zum Präsidenten, als er dem regierenden Premierminister Manuel Valls öffentlich widersprach, als dieser das Arbeitsrecht mittels Verordnungen durchdrückte.

Jetzt hat sich die Regierung von Édouard Philippe vorgenommen, die staatliche Eisenbahngesellschaft SNCF zu sanieren, d.h. teilweise zu privatisieren und das 1920 erkämpfte beamtenähnliche Eisenbahnerstatut zu liberalisieren, d.h. abzuschaffen. Das bisherige Statut sieht für 140.000 SNCF-Beamte Sonderregelungen für das Pensionsalter und eine faktische Unkündbarkeit vor. Zudem sieht es Kompensationen für Sonderbelastungen des Eisenbahnpersonals (Nacht- und Sonntagsdienste, Ortswechsel) vor, die gemeinhin als „Privilegien“ denunziert werden. Die Reform soll die SNCF auf die Öffnung der Bahninfrastruktur für private Anbieter vorbereiten. Aber die beiden Hauptprobleme der Staatsbahn – der durch Sparprogramme herbeigeführte Investitionsstau und der Schuldenberg von 55 Milliarden Euro mit einer jährlichen Zinslast von rund einer Milliarde – löst das Reformvorhaben nicht. Das Projekt stieß sofort auf den geschlossenen Widerstand der vier bei der SNCF vertretenen Gewerkschaften (CGT, CFDT, FO und SUD Rail).

Die Streiks von 1995: mit Intellektuellen und Mittelklassen auf die Straße

Einem ähnlichen Reformprogramm hatte sich die liberal-konservative Regierung von Alain Juppé bereits im November 1995 verschrieben. Sie entfesselte damit den längsten und umfassendsten Streik in Frankreich seit 1968. Nach fast vier Wochen, in denen das Land blockiert war, musste Juppé seinen chancenlosen Reformplan zurückziehen.

Die Regierung von Edouard Philippe operiert nun geschickter: Das liberalisierte Eisenbahnerstatut soll nur für Neueingestellte gelten und die dornenreiche Frage des Pensionsalters soll vorerst ganz ausgeklammert und erst im Rahmen einer umfassenden Rentenreform angegangen werden. Mit dieser partiellen Besitzstandsgarantie für die 140.000 Eisenbahner entschärft die Regierung die Vorlage, verglichen mit der frontalen Kampfansage von 1995. Aber für eine gewerkschaftliche Einheitsfront von CGT, CFDT, UNSA und SUD Rail gegen die Reformpläne genügte die Absicht der Regierung, auch diese Reform mit Verordnungen – am Parlament vorbei – durchzusetzen. Premierminister Philippe kündigte an, sein Programm „noch vor dem Sommer“ zu verwirklichen, und beruhigte die Gewerkschafter mit dem Hinweis, er folge nicht der „Konflikt- oder Kriegslogik“.

Das sollte wohl Erinnerungen an den harten Streik von 1995 ausblenden helfen. Dass der Streik damals so erfolgreich war, liegt vor allem daran, dass er auf offene Sympathie der linksliberalen Medien und der Bevölkerung mit den Streikenden stieß. Juppé begründete die Reform damals mit dem Hinweis, das Pensionsalter für Lokomotivführer (52 Jahre) und für die übrigen Bahnbeamten (55 Jahre) bildeten „unzeitgemäße Privilegien“. Faktisch gehen Lokomotivführer heute im Durchschnitt mit 53,5 und der Rest der Eisenbahner mit 57,5 Jahren in Pension.

Juppé goss 1995 Öl ins Feuer mit seiner Rede gegen „anachronistische Relikte“, „Korporatismus“, „Egoismus“ und „Besitzstände von Privilegierten“. Gegen diese Phrasen aus dem Arsenal des neoliberalen Konformismus wandten sich nicht nur die Streikenden und die Gewerkschaften, sondern auch linksliberale und linke Medien und vor allem der Soziologe Pierre Bourdieu. Er verließ den Schreibtisch und den Lehrstuhl am Collège de France, sprach vor den streikenden Eisenbahnern in der Pariser Gare de Lyon und demonstrierte mit ihnen auf den Straßen von Paris. Bourdieu denunzierte die wohlfeile Rede von den „Privilegien“ der Eisenbahner mit dem Hinweis, dass 60 Prozent der Eisenbahner mit bescheidenen Löhnen auskommen mussten (2.100 Francs brutto, 1995 etwa 750 DM). Heute verdienen Eisenbahner durchschnittlich immerhin 3.000 Euro brutto. Die Sonderregelungen des Eisenbahnerstatuts für die Pensionen sah Bourdieu als legitime Kompensation für die permanente Nacht- und Sonntagsarbeit sowie die fast beliebige örtliche Einsatz- bzw. Versetzbarkeit des Eisenbahnpersonals. Vor allem aber wandte sich Bourdieu gegen den Versuch der liberal-konservativen Regierung Juppé, den defizitären Staatshaushalt auf dem Rücken der Eisenbahner und auf Kosten des Sozialbudgets zu sanieren.

Bourdieus Solidarisierung mit den Streikenden und sein Engagement zur „Wiedereroberung der Demokratie gegen die Technokratie“ führte zu einer Spaltung der linken Intellektuellen und der Medien in das Lager des neoliberalen Einheitsdenkens („pensée unique“) und jenes der Gesellschafts- und Kapitalismuskritiker, die das Zusammenspiel von „Staatsadel“ (ENArchen, d.h. Absolventen der Elitehochschule „École Nationale d'Administration“, ENA), Banken und Wirtschaftsverbänden kritisierten. Die Elite, so Bourdieu, verletze das Versprechen republikanischer Gleichheit. Der Soziologe Alain Touraine und der Publizist Alain Minc wurden zu Galionsfiguren des ersten, Bourdieu zum bekanntesten Exponenten des zweiten Lagers.

Diese Spaltung der Intellektuellen und ihrer Publikationsmedien erwies sich als dauerhaft. Bourdieu beschrieb seine Antagonisten als „vielschreibende und vielgestaltige Intellektuelle, die ihre jährliche Lieferung für den Buchmarkt zwischen zwei Aufsichtsratsterminen, drei Presse-Cocktails und einigen TV-Auftritten verfassen“. Er definierte sie als „Doxosophen“, die im Unterschied zu den auf Aufklärung und Kritik eingeschworenen Philosophen bloße „Meinungstechniker“ seien, die sich in den Medien als Experten aufspielten. Die Auseinandersetzungen rund um die Streiks des Jahres 1995 gehören direkt zur Vorgeschichte der 1998 gegründeten Organisation ATTAC (Association pour la taxation des transactions financières et pour l’aide au citoyen). Bourdieu hatte daran mehr Anteil, als nach außen sichtbar wurde.

Ob heute die Strategie der Gewerkschaften gegen das Regierungsvorhaben bei anderen Staatsbediensteten so viel Resonanz findet und eine Solidarisierungswelle auslösen kann wie 1995, ist so unklar wie die Reaktion des Publikums. 1995 hegten zwei Drittel der Bevölkerung Sympathie für die Streikenden, und 55 Prozent befürchteten, „abgehängt, arbeitslos oder obdachlos“ zu werden. Die Sympathie der Mittelklassen und die Ängste der Unterklassen amalgamierten sich zu einem Protestpotential, vor dem die Regierung kapitulierte. Die Gewerkschaften waren damals erfolgreich, weil es ihnen mit der Unterstützung Bourdieus gelang, einen Streit über angebliche „Privilegien“ der Eisenbahner und obendrein eine Debatte über die Notwendigkeit eines öffentlichen Eisenbahnsystems anzustoßen. Der Journalist Stéphane Rozés prägte dafür den Ausdruck „Stellvertreter-Streik“ für den soziologisch gesehen breit gestützten Protest.

Fiktion des unpolitischen Streiks

Als Protestauftakt einigten sich die vier Gewerkschaften auf den 22. März 2018 als „Aktions-“ und „Mobilisierungs-Tag“ zusammen mit den Beamtengewerkschaften, d.h. auf Kundgebungen und Demonstrationen in etwa 200 Städten. Weitergehen soll es mit einer innovativen Streikstrategie, die dem vermeintlichen Relikt niemand mehr zugetraut hätte. Verantwortlich für diese Strategie ist eine junge Generation von Gewerkschaftsführern, unter denen der 1979 geborene Laurent Brun als strategischer Kopf herausragt. Er will, dass sich die Gewerkschafter von „Fatalismus“ abwenden und auf „Zorn“ umschalten.

Die Gewerkschaften werden deshalb ab dem 3. April und bis zum 28. Juni – also fast zwei Monate lang – immer zwei Tage streiken und danach wieder drei Tage arbeiten bis zu den beiden nächsten Streiktagen. Laurent Brun, seit Januar 2017 Generalsekretär der Eisenbahnersektion bei der CGT, gilt als rechte Hand des CGT-Vorsitzenden Philippe Martinez und als durchsetzungsfähig. In der konservativen Presse tauchte er als „das jugendliche Antlitz des Stalinismus“ auf, wozu es jedoch keine belastbaren Aussagen des Gewerkschaftssekretärs gibt.

Das Streikrecht der französischen Gewerkschaften ist im Vergleich zu den deutschen Verhältnissen viel weniger durchreglementiert. Im Prinzip können französische Gewerkschaftsführungen jederzeit zum Streik aufrufen, falls sie sicher sind, dass ihnen die Mitglieder, die so gut wie kein Streikgeld erhalten, folgen. Für sogenannte „politische Streiks“, also Streiks für politische Ziele – was deutschen Gewerkschaften nach herrschender Arbeitsrechtsprechung verboten ist –, gibt es im Französischen nicht einmal ein Wort, weil Streiks hier unbestritten als politisch legitim gelten und die Fiktion „unpolitischer Streiks“ bestenfalls Kopfschütteln erzeugt.

Der französische Staatspräsident und sein Premierminister boten den Gewerkschaften im Vorfeld der Reform Gespräche an. Laurent Brun hält diese allerdings für eine Farce: „Die Regierung versuchte, uns in die Enge zu treiben und uns anzugreifen. Wir reagierten auf dieselbe Weise. Man konsultiert uns, man fordert uns auf, mitzuarbeiten. Aber dann wird absolut nichts übernommen in den Reformplan. Ich bin nicht bereit, mich als Dummkopf behandeln zu lassen.“

Tai Chi-Streik gegen Autokratismus

Bruns Streikstrategie durchkreuzt das Kalkül der Regierung, die Asymmetrie und das Machtgefälle für ihre Reform zu nutzen. Die Gewerkschaften glichen ihren Kampf geschickt dem Vorgehen der Regierung an: Diese will die Bahnreform mit Verordnungen („Ordonnances“) am Parlament vorbei durchsetzen. Das Parlament kann das Reformpaket zwei Monate nach dem Erlass der Verordnungen nur noch ganz ablehnen oder völlig unverändert annehmen. Mit dem Rhythmus von zwei Streik- und drei Arbeitstagen reagieren die Gewerkschaften auf die Taktik gegenüber dem Parlament: Die Regierung schafft mit Verordnungen schnell Fakten und setzt dem Parlament nach dessen zweimonatiger Zwangspause einfach die Pistole auf die Brust. Die Gewerkschaften nutzen die Beurlaubung des Parlaments als Kampfzeit für sich, um der Regierung und der Öffentlichkeit präventiv zu zeigen, was sie von einem von privater Willkür beherrschten Transportsystem zu erwarten hätten: Mit der Privatisierung der Bahn würde „die Regierung die Bahnbenutzer zu Geiseln“ (Laurent Brun) profitorientierter Investoren machen. Mit der Strategie des Zorns werden Bürger nicht zu Geiseln der Gewerkschaften, sondern zu Zeugen, wie man sie vor den absehbaren Folgen der Privatisierung bewahrt und wie man für die Zukunft des öffentlichen Dienstes kämpft.

Die neue Streikstrategie ist auch dem Umstand geschuldet, dass die Gewerkschaftsmitglieder einen zweimonatigen Dauerstreik gar nicht durchhalten könnten. Die Gewerkschaftsführungen würden sich schnell blamieren, wenn sie es über die Köpfe der Mitglieder hinweg versuchen wollten. Brun will den Kampf gegen den neoliberalen Kurs politisch zuspitzen. Im Unterschied zur Privatisierungsstrategie des Präsidenten verbindet Brun sein Konzept mit einem genuin demokratischen Legitimationsinstrument: Die Streikenden sollen nach jeder Streikphase darüber abstimmen, ob der Streik nach drei Arbeitstagen fortgeführt oder abgebrochen werden soll. Damit gehen die Gewerkschaften und ihre Führungen ein ausgesprochen hohes politisches Risiko ein, denn wie solche Abstimmungen unter Streikenden ausgehen, wenn den Eisenbahnern Woche um Woche rund 40 Prozent des Lohnes entgehen, vermag niemand zu sagen, geschweige denn vorauszusagen. Die Lohnskala beginnt bei den Eisenbahnern mit 1.219 Euro brutto im Monat.

* Rudolf Walther ist Historiker und Publizist, schreibt für deutsche und Schweizer Zeitungen und lebt in Frankfurt. Letzte Publikationen: „Aufgreifen, begreifen, angreifen. Historische Essays, Porträts, politische Kommentare, Glossen, Verrisse“, Oktober Verlag, Münster.

© links-netz April 2018