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Theomurxismus

Zu Robert Kurz: „Das Weltkapital. Globalisierung und innere Schranken des modernen warenproduzierenden Systems“

Rudolf Walther

Nach seinem „Schwarzbuch des Kapitalismus“ (1999) und dem Buch über den „Weltordnungskrieg“ legt Robert Kurz nun das dritte Werk vor, in dem er sich mit den industriellen Revolutionen beschäftigt. Dieses Mal beschreibt er „Das Weltkapital“ in der Zeit der Globalisierung – und zwar „kategorial“, d.h. in seiner begrifflich reinen Form: Kurz zielt auf die Erkenntnis des Ganzen und hält sich nicht bei Details oder gar bei empirischen Analysen der Globalisierung auf. Derlei überlässt er gerne „akademischen Fach-“ und „immanenten Funktionsidioten“.

Kurz sieht seine Arbeit in der Tradition der Marxschen Werttheorie und Wertformanalyse, in der es auch nicht um die Entwicklung des Kapitalismus in dem einen oder anderen Land ging, sondern um die Entfaltung des Begriffs „des Kapitals im allgemeinen“ bzw. „des ökonomischen Bewegungsgesetzes der modernen Gesellschaft“. Historische oder regionale Spezifika fallen deshalb gar nicht in die Zuständigkeit der theoretischen Analyse in der sphärisch dünnen Luft auf hoher Abstraktionsebene. Nun ist die Marxsche Wertformanalyse, die Adorno „ein großes Stück Philosophie“ genannt hat, nicht frei von tückischen Fußangeln und Fallen.

Auf der Abstraktionsebene der werttheoretischen Analyse zeigt Marx, dass es rein logisch – d.h. jenseits der realen Entwicklung des Kapitalismus – eine „innere“ oder „historische Schranke“ dieser Gesellschaftsformation gibt. Diese „historische Schranke“ erstmals messerscharf herausgearbeitet zu haben, ist allein deshalb ein nicht zu unterschätzendes Verdienst von Marx, weil die Apologeten des Kapitalismus – seit es diesen gibt – auch mit dem Argument herumfuchteln, er gehöre gleichsam zur menschlichen Natur und Grundausstattung. Marx zeigte, dass das Zusammenspiel von organischer Zusammensetzung des Kapitals, Mehrwertrate sowie Akkumulationsrate des konstanten und des variablen Kapitals – rein mathematisch gesehen – an einen Punkt führen kann, an dem das eingesetzte Kapital keinen Profit mehr abwirft, Kapitalverwertung also wert- und sinnlos wird. Marx räumte freilich ein, dass sich diese Tendenz zum Zusammenbruch realgeschichtlich nicht bruchlos und schon gar nicht automatisch durchsetzt. Das macht auch jeden Versuch unmöglich, aus der Analyse des „Kapitals im allgemeinen“ unmittelbar theoretische Erklärungen für aktuelle wirtschaftliche und soziale Entwicklungen abzuleiten oder gar politische Handlungsanweisungen zu gewinnen. Marx hat jedoch dem Missverständnis, man könne genau das tun, Vorschub geleistet mit seiner Rede von „naturgemäßen Entwicklungsphasen“ des Kapitalismus.

Kurz setzt sich souverän über diese Gefahren hinweg, denn für ihn ist die weltweite Krise, die die Globalisierung anzeigt, ein eindeutiger und hinreichender Hinweis auf „die inneren Schranken des modernen warenproduzierenden Systems“ bzw. des „Kapitalismus“, wo er auch immer auftritt. An der Peripherie, d.h. in den armen Ländern des Südens, haben für Kurz „die Zusammenbruchsprozesse“ bereits begonnen. Er sagt nicht, woran er dies abliest. Mit Sicherheit beruht die Einschätzung nicht auf wirtschaftlicher Analyse, sondern auf einer kategorial gestützten Spekulation bzw. einer geschichtsphilosophisch imprägnierten Hoffnung. Letztere gehört zur Marxschen Theorie wie der Glaube an die unbefleckte Empfängnis Marias zum Katholizismus und hat mir diesem gemeinsam, dass beide auf dogmatischen Setzungen beruhen, die ernsthaft niemand mehr wissenschaftlich nennen würde.

Die Unterschiede im Aussehen und Auftreten des Kapitalismus wie seiner Krisen sind für Kurz nur Oberflächenphänomene. In seiner Diktion ist das ein endgültiges Verdikt und etwa gleichbedeutend mit mangelnder Reflexion der Differenz von Wesen und Erscheinung. Allerdings täuscht die klinische Welt der Kategorien Klarheit oft nur vor. Kurz jongliert im Arkanum des Wesentlichen mit einem Dutzend „Begriffs-Klötzen“ (Marx) so brachial vereinfachend und monoton wiederholend wie Teile der Seminarmarxisten in den 70er Jahren, die auf dreizehn Seiten die „logische Entwicklung“ von der Marxschen Warenanalyse zum Faschismus herleiteten. Großspurigkeit war ein Merkmal jener Schnelldenkerei. Kurz hat sich davon noch nicht verabschiedet. Selbst ein Kapitel, das „Zahlen und Fakten“ verspricht, enthält außer der Polemik gegen „akademische Breitband-Ideologen“ nur ein paar Zahlen über Direktinvestitionen, wie man sie dem Wirtschaftsteil jeder Tageszeitung entnehmen kann.

Der von Kurz erhobene Vorwurf, an der erscheinenden Oberfläche zu kleben und das Reich des Wesentlichen zu verfehlen, betrifft insbesondere „Traditions- und Arbeiterbewegungsmarxisten“, die – so Kurz – noch nicht gemerkt haben, dass sich „die bisherige linke Gesellschaftskritik ... selber noch im Gehäuse kapitalistischer Kategorien“ bewegt. Er meint damit die Befangenheit der „Arbeiterbewegungsmarxisten“ im Glauben an Wachstum und Vollbeschäftigung, womit sie den „Rahmen des warenproduzierenden Systems“ nicht aufsprengten, sondern den „universellen Zerstörungsprozeß“ von „globaler Apartheid“ und „globaler Barbarei“ sanktionierten. Gegen diese „alte, system-affirmative Schönwetterlogik gewerkschaftlichen Denkens“ setzt Kurz auf eine Weltgesellschaft (...) jenseits von Markt und Staat, Ökonomie und Politik.“ Er übersieht dabei, dass man den neoliberalen Sektenglauben, Wachstum schaffe Arbeitsplätze und weltweite Vollbeschäftigung im herkömmlichen Sinne sei ein ökonomisch mögliches und politisch erstrebenswertes Ziel, kritisieren kann, ohne gleich auf Kurz’ Phantasmen von der „transzendierenden Perspektive“ hereinzufallen.

Vor allem aber entgeht den „Arbeiterbewegungsmarxisten“ und „neo-kleinbürgerlichen“ Autoren nach Kurz, was er das „geschlechtliche Abspaltungsverhältnis“ tauft. Das Kapital ist als gesellschaftliches Verhältnis durchaus nicht autonom, sondern doppelt abhängig. Es bedarf erstens eines „nationalstaatlichen Funktionsraumes“, d.h. eines politischen Regulativs, auch wenn der Spielraum politischer Regulation durch die Globalisierung verändert und eingeengt wird. Zweitens kann sich das Kapital nicht aus sich selbst reproduzieren, sondern muss hauptsächlich geschlechtlich codierte Funktionen wie die der Mütter oder der weiblichen Hausarbeit aus dem Kapitalverhältnis auslagern bzw. abspalten. Das Kapital ist insofern eine Inkarnation des „männlich-weißen westlichen Subjekts“ (Kurz) und universalistisch nur im ökonomischen, aber keinesfalls im sozialen Sinne. Für die Arbeit der Frauen, und damit für einen elementaren gesellschaftlichen Bereich, hat das Kapital überhaupt keinen Platz vorgesehen, obwohl es von ihr abhängt und sich ohne diese Arbeit gar reproduzieren kann. Für Kurz ist das Kapital deshalb ein „paradoxer Fremdkörper“ und steht für „ungesellschaftliche Gesellschaftlichkeit“. Die „ungesellige Geselligkeit“ als „Antagonism“ der bürgerlichen Gesellschaft sah schon Kant. Kurz’ Verlängerung der These ins Geschlechterverhältnis kann man durchaus folgen, auch wenn seine theoretischen Pirouetten, mit denen er dieses „geschlechtliche Abspaltungsverhältnis“ begründet, ebenso ermüdend und trivial sind wie der auf jeder zweiten Seiten wiederholte Hinweis auf die „inneren Schranken des warenproduzierenden Systems“.

Wenig Gnade findet bei Kurz, wer seine gesellschaftskritischen Überlegungen etwas unterhalb der Totalperspektive der Überwindung des „warenproduzierenden Systems“ (vulgo: „Kapitalismus“) ansiedelt. Dieser ist zwar „schon ein objektiver Verblendungszusammenhang für alle seine immanenten Akteure“, aber Kurz zumindest hat einen Logenplatz im Jenseits und überblickt von dort aus bequem das Ganze - zumindest kategorial. Während für die Normalsterblichen alles auf dem Kopf steht und ihre Analysen selbstverständlich „falsch, begriffslos und oberflächlich“ bleiben, hat Kurz selbst den totalen Durchblick von oben oder von außen. Das ist einigermaßen erstaunlich, denn die Literaturliste des Buches ist überschaubar kurz und enthält fast nur deutsche Titel. Die für lange Zeit fundierteste Analyse der Globalisierung von Paul Hirst und Grahame Thompson zitiert er sparsam und durchweg aus zweiter Hand. Von seinem eher bescheidenen Theorie-Gepäck herab polemisiert Kurz dafür gegen alle, die nicht in seine rustikalen Schemata passen.

Wer sich – wie der Frankfurter Politikwissenschaftler Joachim Hirsch – nicht für Hochspekulatives, um nicht zu sagen Theologisches wie „die Selbstzerstörung“ und „den Zersetzungsprozess“ des Kapitals sowie deren „wertheoretischen Begründungszusammenhang“ interessiert, sondern für die Art, wie „kapitalistische Gesellschaften sich über Krisen und Brüche hinweg“ pragmatisch stabilisieren und destabilisieren, verfällt pauschal dem Verdikt der „Begriffslosigkeit.“ Spielräume für politisches und soziales Handeln sind bei Kurz nicht vorgesehen. Im Unterschied zu Hirsch, der das Dogma „objektiver Gesetzmäßigkeit“ kapitalistischer Entwicklung kritisiert, hält es Kurz gern mit handlichen Glaubenssätzen. Wer nicht – wie Kurz selbst – permanent die Überwindung der „Waren- und Geldform“ wie eine Standarte vor sich her trägt, redet der „kapitalistischen Barbarisierung“ das Wort. Besonders scharf attackiert Kurz Thomas Sablowski vom wissenschaftlichen Beirat von ATTAC. Dieser untersuchte die spekulativen Schwindelgeschäfte auf den Finanzmärkten und sprach vom „parasitären Finanzkapital“. Kurz bezichtigt ihn deshalb des „strukturellen Antisemitismus“ und rückt ihn „dicht an den expliziten Antisemitismus“, weil man „den Kapitalismus nur ganz oder gar nicht kritisieren“ könne. Genau so halten es die halb-archaischen unter den Kirchen, Religionen und Sekten, seit der Staat sie entwaffnet hat: „Glaube oder gehe!“ Bei den ganz-archaischen Vorläufern, d.h. bis ins 18.Jahrhundert – und wieder unter Stalin – hieß der Imperativ: „Glaube oder sterbe!“ Kurz belegt also seine eminente Fortschrittlichkeit damit, dass er Ketzer- und Hexenverbrennungen sowie Straflager nicht mehr im Programm hat.

Ein geradezu manichäischer Hang zu Dichotomien, Reduktionen und Schwarz-Weiß-Malerei grundiert das ganze Buch. So steht in der Kurz-Welt die Entscheidung „Kapitalismus“ oder „Barbarei“ unmittelbar auf der Tagesordnung. Alles, was dazwischen liegt, ist ihm fremd. Demokratisierung bedeutet für ihn nur „die Selbstauslieferung an die systemische Logik des Kapitals“, denn der Begriff der Demokratie gehöre „allein der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte“ an. Dem Staat spricht er in der Zeit der Globalisierung jede Regulationskraft ab und dessen Funktion erschöpft sich angeblich darin, „das Auseinanderbrechen der nicht mehr reproduktionsfähigen kapitalistischen Gesellschaft“ zu verwalten.

Kurz reklamiert für sich „radikales Denken“ in der Tradition von Karl Marx. Der kann sich nicht dagegen wehren. Aber viele Passagen in Kurz’ aufgeblähtem Katechismus belegen nur, dass er Radikalismus mit dem verwechselt, was Marx hellsichtig „Grobianismus“ nannte. Diesen zeichnet aus, dass er „da, wo es ihm gelingt, den Unterschied zu sehen, die Einheit nicht sieht, und daß er da, wo er die Einheit sieht, den Unterschied nicht sieht“. Oder einfacher gesagt – hier ist alles barbarisch-grau, die Farben kommen erst nach der Überwindung der „systemischen Logik“ – also drüben. Meistens jedoch stammen solche Verheißungen nur aus dem Trüben, wie Walter Benjamin gesagt hat.

Wie richtig Benjamin damit gelegen hat, zeigt das Halali am Schluss des Buches, eine gediegene Art aus dem seltenen Genre der Auto-Parodie, mit der der Autor sich selbst überbietet: „Eine Abschüttelung der ‘abstrakten Arbeit’ wie des dazu gehörigen geschlechtlichen Abspaltungsverhältnisses ist nicht möglich als Verlängerung der unwahren postmodernen Softi-Existenz im ‘Verwöhnungsraum’ (Peter Sloterdijk) des Kapitals, sondern sie setzt im Gegenteil eine neue emanzipatorische ‚Kämpferexistenz’ (Peter Sloterdijk) voraus, den Willen zur Polemik, zur Zuspitzung, zum harten Konflikt – und zwar bei Männern und Frauen gleichermaßen in einem gemeinsamen Befreiungskampf neuer Qualität. Der Inhalt dieser Befreiungsbewegung kann nur die kategoriale Kritik am gesellschaftlichen Formzusammenhang des modernen warenproduzierenden Systems sein.“ Mit dem Kurz’schen Komparativ von Kritik – der „kategorialen Kritik“ – gelangen also „Männer und Frauen“ ins Jenseits von „Markt und Staat, Ökonomie und Politik“ sowie „des geschlechtlichen Abspaltungsverhältnisses.“ Den Weg zum hehren Ziel weist das Kurz-Mirakel: Der Weg nämlich „ergibt sich aus der Krise der kapitalistischen Substanz selbst, aus der ‘Entwertung des Werts’ in der dritten industriellen Revolution.“ Das läuft doch auch nur nach dem auch schon etwas älteren Muster: Gott ist Anfang und Ende, und Anfang und Ende. Eine Kette von Tautologien statt einer Argumentationskette. Nein, da „ergibt sich“ von selbst gar nichts, außer der tröstlichen Einsicht des arg strapazierten Lesers, dass man derlei Kitsch nicht ausdenken, sondern nur als Kurz-Theomurximus in sich tragen kann oder direkt vom restlos Trüben im Ganz-Drüben ausborgen muss.

Robert Kurz, Das Weltkapital. Globalisierung und innere Schranken des modernen warenproduzierenden Systems. Edition Tiamat, Berlin 2005, 480 S., 18,80 €.

© links-netz Januar 2006