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Ökonomie und Moral – wofür streikt ver.di?

Rudolf Walther

Der windigste und zugleich intelligenteste unter den TV-Moderatoren darf sich nach den Spielregeln des nach unten regellos-niveaulosen Mediums alles erlauben. Harald Schmidt stimmt deshalb sein schenkelklopfendes, intellektuell subalternes Sachbearbeiterpublikum auf seine Sendung ein, indem er – witzig witzelnd – das Gerücht streut, die für die Gewerkschaft ver.di Streikenden führen nach Berlin, um mal ungestört einen Puff besuchen zu können wie die VW-Betriebsräte auf Kosten von Schröder-Kollege Peter Hartz. Von „Hartz I“ an wurden die Spielregeln etwas verändert. Harald Schmidts ziemlich viel weniger intelligente Kollegin Sabine Christiansen meinte Schmidt noch überpunkten zu können mit dem Hinweis, der ver.di-Streik sei einer von „Privilegierten“. Ein Privileg der ganz duften Art ist es wohl, als Busfahrer oder Krankenschwester Nacht- und Sonntagsdienste zu leisten oder Müll einzukarren bei zehn Grad minus oder dreißig Grad plus.

Tödliche Lächerlichkeit verdienten jene lebenslang sorgenfrei verbeamteten „Experten“ aus dem Universitätsbetrieb, die der „Staatsquote“, der „Rentenkrise“, der „Versorgungshaltung der Bevölkerung“, der „Geburtenrate“, der „Inflexibilität der Arbeitnehmer“ oder dem „Egoismus Arbeitsplatzbesitzer“ die Schuld dafür zurechnen, dass es so ist, wie es ist. Wer solche Pseudoargumente zu widerlegen versucht, gilt dem neoliberal geeichten, notorisch gesunden Menschenverstand als „Moralist“ oder linker Spinner.

Spinner und Moralisten sind oft näher an den gesellschaftlichen Realitäten als die Gesunden, hierzulande oft grün Angestrichenen, denen schon die arithmetische Aussicht auf eine Mehrheit mit den Konservativen dafür reicht, alles zu vergessen, was auch schon mal mit „Grün“ gemeint war, als die Köpfe noch heller und das eigene Fortkommen ein wenig weniger wichtig waren. „Grün“ ist im wesentlichen ein Versorgungs- und Selbstversorgungsprojekt, von Leuten, die das „Arbeitslosenzwischenlager Universität“ (Joachim Hirsch) verlassen haben und nicht beim Arbeitsamt anheuern mussten. Wer heute etwas anderes will, als das, was zu erwarten ist, kann auf Vieles setzen – auf die Grünen nur noch, um ziemlich sicher zu verlieren.

Was den Zusammenhang von Ökonomie und Moral betrifft, war einer der Väter der Nationalökonomie im übrigen viel klarer, rationaler und überzeugender als das aktuelle Gerede. Wenn es darum geht, Unternehmensgewinne, Managergehälter, Dividenden, und gleichzeitige Entlassungen zu rechtfertigen oder „wissenschaftlich“ zu erklären, fehlt selten der Hinweis auf Adam Smith (1723-1790). Einer seiner häufig herzitierten Sätze lautet: „Da nun jedermann nach Kräften sucht, sein Kapital in der heimischen Erwerbstätigkeit und diese Erwerbstätigkeit selbst so zu leiten, dass ihr Erzeugnis den größten Wert erhält, so arbeitet auch jeder notwendig dahin, das jährliche Einkommen der Gesellschaft so groß zu machen, als er kann.“ Was auch immer geschieht, es ist angeblich ökonomischer Zwangsläufigkeit geschuldet und wird gesteuert vom Markt, den Smith an einer Stelle in seinem fast 1000 Seiten starken Buch über den „Wohlstand der Nationen“ (1776) die „unsichtbare Hand“ nennt.

Was der Kronzeuge Smith in seinem Werk wirklich vertritt, sieht anders aus. Die handliche Zurüstung seiner beachtlichen Theorie begann im 19.Jahrhundert, als er von Vertretern der Manchester- oder Freihandelsschule zum schlichten Prediger gegen Zölle, Monopole und Zunftregeln gemacht wurde. Smith‘ „Wohlstand der Nationen“ bezweckte jedoch mehr und anderes als „die interessierte Sophisterei der Kaufleute und Industriellen“, deren Tun er als „niedrige Krämerkünste“ anprangerte. Mit der Bibel und dem „Kapital“ von Karl Marx hat sein Buch gemeinsam, dass sich jeder darauf berufen kann, ohne es gelesen zu haben. Um heute grüne Politik zu machen, braucht man weder Smith noch Marx – aber einen guten Blick. Aufs eigene Konto.

Nach seinem Studium in Glasgow erhielt Smith 1751 einen Lehrstuhl für Logik und Rhetorik, 1752 einen für Moralphilosophie. Diese umfasste nach dem Selbstverständnis der schottisch-englischen Aufklärung Philosophie, Geschichte, Jurisprudenz und Volkswirtschaft. Als sein Hauptwerk betrachtete Smith denn auch nicht das über den „Wohlstand der Nationen“, sondern die fast zwanzig Jahre früher erschienene „Theorie der ethischen Gefühle“ (1759). Der erste Satz darin ist der Schlüssel auch zu dem, was Smith unter Ökonomie bzw. Wohlstand verstand: „Wie selbstsüchtig auch immer der Mensch eingeschätzt werden mag, so liegen doch offensichtlich bestimmte Grundveranlagungen in seiner Natur, die ihn am Schicksal anderer Anteil nehmen und ihm die Anteilnahme an deren Glück notwendig werden lassen, obwohl er keinen anderen Vorteil daraus zieht als das Vergnügen.“ Im englischen Original heißt die Anteilnahme „sympathy“. Sie umfasst Selbstbeherrschung ebenso wie Mitleid und Gerechtigkeit.

Smith plädierte für „die Beseitigung wirtschaftlicher Begünstigungs- und Beschränkungssysteme“ – also für wirtschaftliche Freiheit oder Deregulierung, wie es heute im neoliberalen Jargon heißt -, aber im gleichen Atemzug verwies er auf die Voraussetzungen und Grenzen dieser Freiheit: „Jeder Mensch hat, solange er nicht die Gesetze der Gerechtigkeit verletzt, vollkommene Freiheit, sein eigenes Interesse auf seine eigene Weise zu verfolgen.“ Die Freiheit des Einzelnen reglementieren also nicht allein Marktgesetze, sondern immer auch das sozial-ethische Grundgesetz der Gerechtigkeit.

Smith ist kein Ökonom im heutigen Sinne, sondern ein Moralphilosoph, der die ökonomischen und die politisch-moralischen Grundlagen des Zusammenlebens nicht trennt. Als Aufklärer rehabilitiert er das Privatinteresse und die individuelle Freiheit gegenüber staatlicher oder religiöser Bevormundung, aber das Privatinteresse wird eingeschränkt durch die Gerechtigkeit. So wie Eigentum/property und Anteilnahme/sympathy zusammengehören, so verbindet Smith auch Ökonomie und Politik. Der Markt wie der Einzelne bedürfen – so Smith – dem „geziemenden Schutz der Gesetze“, also der ausgleichenden Hand des Staates. Deshalb spricht Smith von „politischer Ökonomie“ als „einem Zweig der Wissenschaft für den Staatsmann oder Gesetzgeber.“ Denen schrieb er ins Stammbuch: „Keine Gesellschaft kann blühen und glücklich sein, wenn die Mehrheit arm ist“. „Je reicher“ sie aber ist, „umso teurer wird die Arbeit.“

Das weitaus am häufigsten genannte Argument gegen den Streik von ver.di lautete, für 18 Minuten Arbeitszeitverkürzung zu streiken, sei lächerlich und unverhältnismäßig. Das war eine demagogische Verkürzung. Ver.di-Chef Frank Bsirske machte von Anfang an deutlich, dass es um mehr ging in diesem Streik. Er sagte: „Die Leute haben die Nase voll, dass ihnen ständig einzureden versucht wird, sie würden zu wenig arbeiten und zu viel verdienen, während die Gewinne explodieren.“ In diesem Sinne war der Streik ein Signal dafür, dass ver.di nicht alles mit sich machen lässt und es noch Grenzen der Zumutbarkeit gibt. Ein anderer Grund für den Streik wurde zwar nicht offensiv in die Debatte eingeführt, ist aber deshalb nicht unwichtig: Die Gewerkschaft kämpft für die Erhaltung des öffentlichen Dienstes und will die Privatisierung des Staates bremsen. Dafür verdient sie Unterstützung.

© links-netz April 2006