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Because you know something is happening here,

but you don‘t know what it is, do you Mr. Cammann?

Kristin Wissel

Die Frankfurter Buchmesse beherbergte 2017 Frankreich als Gastland. In diesem Kontext erschien im Feuilleton der Zeit eine Buchkritik, die zwei Veröffentlichungen aus Frankreich in Beziehung zueinander setzt: Ein neues Buch von Didier Eribon, Gesellschaft als Urteil, 2017 und Geoffroy de Lagasneries Buch, Verurteilen. Der strafende Staat und die Soziologie, 2017. Im Unterschied zu den beiden Büchern, ist die Rezension eine Entgleisung.

Es gehört mittlerweile zur Routine eines jeden neu anbrechenden Tages, die eigene Grenze des Zumutbaren immer weiter ins Jenseits zu verschieben. Wir wissen, dass so etwas nicht ohne Folgen bleibt. Das Entsetzen hat längst einer Resignation Platz gemacht, die nicht zum Aushalten ist. Sie bringt die Reaktion, die Kommunikation fast komplett zum Erliegen, auch weil Worte hier weder gefragt sind, noch irgendetwas ausrichten, außer einem das Ausmaß der Zumutungen noch klarer vor Augen zu führen. Aber greift Ihr einen an, der in diesem Zustand für einen Moment einen Lichtblick bedeutet, greift ihr uns alle an. Die folgende Äußerung ist exemplarisch gegen alle Mistkübel zu lesen, die stündlich über uns ausgeleert werden, und als persönliche Verteidigung Didier Eribons, natürlich.

„Immer schön kritisch“ ist der Artikel von Alexander Cammann überschrieben.“ Eine im Feuilleton der Zeit abgedruckte Buchkritik, die ihren Namen nicht verdient, ein stumpfes Gelaber. Anstelle einer inhaltlichen Kritik der beiden im Artikel erwähnten Bücher beginnt Cammann mit der Information, dass die Autoren sich ihre Bücher gegenseitig gewidmet haben. Diese Passage ist nur deshalb so wichtig, weil sie gleich zu Anfang klarstellt, wie sehr er die Verbundenheit der Autoren verabscheut. Schlimmer noch als die Tatsache, dass sie ein „linkes Projekt vereint“ ist ihre Liebesbeziehung, ihre Homosexualität.

Seiner homophoben Aggression lässt der Feuilletonredakteur freien Lauf, indem er Eribon und de Lagasnerie in ihrer Person der Lächerlichkeit preiszugeben versucht. Die Einleitung ist eine Erniedrigung, erdacht von einem Mann für seine männliche Leserschaft; sie bietet einen Einblick in das peinliche, begrenzte Universum männlicher Kumpanei; sie ist ein heterosexueller Schenkelklopfer, wenn man so will. Die Erniedrigung kann ihr Ziel trotzdem nie verfehlen, weil sie hegemonial ist und verstanden wird. Das wiederum ist Teil des Problems, das sich darin äußert, dass es nicht zu einer interessanten Auseinandersetzung kommt, sondern diese Welt in einem Sumpf der Bedeutungslosigkeiten und Trivialitäten verharrt.

Wenn in dieses hegemoniale Nest gleich zwei Publikationen linker Kritik hereinbrechen, die über linksintellektuelle Grenzen hinaus Bedeutung finden, wird in einem Akt hilfloser Reaktion selbst die Contenance über Bord geworfen. Es fallen Begriffe wie „Soziologische Belletristik“, „kitschig“, „romantisch“. Gemeint ist weiblich, schwul, impotent und auch irgendwie französisch, und damit selbstverständlich fehl am Platz der Relevanz.

Aus Scham habe Eribon ein Interview seines Kollegen Pierre Bourdieu mit seiner Mutter verhindert. Diese Aussage ist eine Beleidigung, die leider in einem Fußballverein ihren Platz hat, in einem ernst zu nehmenden Feuilleton fände so etwas nicht einmal Erwähnung, wenn es stimmen würde. Zu schmerzhaft ist offenbar die Erfahrung des Journalisten etwas Entscheidendes nicht verstanden zu haben und doch anerkennen zu müssen: „Irritiert“ haben ihn in Eribons neuem Buch Gesellschaft als Urteil die Momente, in denen dieser seine „linke Überzeugungen völlig unreflektiert beschwört“. Immerhin!

Kein Funke Inhalt wird in diesem Artikel reflektiert. „Kritisch“ scheint für Cammann ohnehin ein Schimpfwort zu sein (ganz im Gegensatz zu „durchreflektiert“). Zum Schluss geht er dann doch noch darauf ein, dass Geoffroy de Lagasnerie in seinem Buch Verurteilen. Der strafende Staat und die Soziologie „wissenschaftstheoretisch seit langem durchreflektierte empirische Forschung in die Tonne treten möchte“. Diesen Satz muss man sich noch mal auf der Zunge zergehen lassen, denn wo kämen wir hin, wenn jetzt jeder anfinge, alte Gewissheiten in Frage zu stellen.

Gute Nacht, morgen wartet schon der nächste Schwachsinn.

© links-netz Oktober 2017