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„Wir sind 82 Millionen. Machen uns die Hände schmutzig. Du bist die Hand. Du bist 82 Millionen. Du bist Deutschland“

Jens Wissel

Deutschland hat eine neue Rolle in Europa und ein neues Selbstverständnis. Dies zeigen eine Reihe von Ereignissen der letzten Jahre. Besonders deutlich wurde es letzten Sommer, als die Bundesregierung, begleitet von rassistischen Untertönen, die griechische Regierung, die mit der verordneten Austeritätspolitik brechen wollte vor der Weltöffentlichkeit in die Knie zwang. Europa spricht wieder deutsch, wurde stolz verkündet, und der Vizekanzler wies die Forderung, Deutschland solle die Schulden des Deutschen Reiches an Griechenland zurückzahlen mit einer unglaublichen Arroganz zurück. Nicht einmal die bis dahin üblichen Floskeln, dass sich die moralische Schuld nicht mit Geld auslösen lasse, waren nötig.

So markant und herausstechend diese Ereignisse waren, sie kamen keineswegs ohne Vorankündigung. Sie hatten vielmehr einen langen Vorlauf, eine eigene Geschichtsschreibung, eine europäische Einbettung und eine Revision bzw. Neuerfindung der deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte waren hierfür nötig. Kurz, Deutschland ‚normalisierte‘ sich. Daniel Keil arbeitet diese Entwicklung in dem 2015 erschienenen Buch „Territorium, Tradition und nationale Identität“ ausführlich auf. Dabei geht es ihm auch um eine staatstheoretische Einordnung des Nationalismus. Er wendet sich damit einem Thema zu, dass in den materialistischen Debatten leider immer noch zu wenig beachtet wird. Schon Marx hatte die Bedeutung der Nation unterschätzt. Diese Schwäche setzt sich bis heute fort. Zwar gibt es mittlerweile eine Reihe von Arbeiten, die sich mit der Konstruktion der Nation befassen und versuchen, den Zusammenhang von kapitalistischer Gesellschaftsordnung und der „Erfindung der Nation“ zu ergründen. Eine systematische Einordnung des Phänomens ist aber bisher kaum gelungen. Hierfür leistet das Buch, das auch den inneren Zusammenhang zu Rassismus und Antisemitismus herausstellt, einen wichtigen Beitrag.

Keil bleibt aber nicht bei einer theoretischen Einordnung stehen, vielmehr befasst er sich auch mit den konkreten Transformationsprozessen der letzten Jahrzehnte in Europa und vor allem in Deutschland. Die gemeinhin als Globalisierung bezeichneten Prozesse haben die Konstitution sowie die innere Zusammensetzung des Nationalstaates grundlegend verändert und damit auch die Bedingungen zur Konstruktion der Nation transformiert. Der Glaube, der noch in den 2000er Jahren in den Sozialwissenschaften vorherrschte, dass Nation und Nationalstaat ihre Grundlage verlieren und in der Folge zunehmend irrelevant werden, ist längst verflogen. Zwar hat sich in Europa mit der Herausbildung der EU eine besonders weitgehende Entwicklung gezeigt, in der viele politische Entscheidungen tatsächlich auf europäische Ebene getroffen werden. Der Nationalstaat und der Nationalismus aber sind damit nicht verschwunden. Die Hoffnung von Habermas und Beck auf ein kosmopolitisches Europa als Vorstufe zur Weltrepublik ist, einmal davon abgesehen ob das wirklich wünschenswert gewesen wäre, spätestens seit der Eurokrise geplatzt.

Der Nationalismus ist allerdings nicht mehr der Gleiche wie früher und es gibt einen europäischen politischen Zusammenhang, der ein ‚Innen’ in Europa durch die privilegierten Rechte herstellt, die mit der Unionsbürgerschaft verbunden sind. Ideologisch wird dieser Zusammenhang durch eine, wenn auch schwache Konstruktion einer europäischen Kultur- und Geistesgeschichte geschaffen. Daniel Keil geht davon aus, dass die deutsche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ein zentrales Moment der Konstruktion Europas ausmacht. Die dekontextualisierte, enthistorisierte und moralisierte Aufarbeitung von Auschwitz wurde demnach zum negativen Gründungsmythos Europas. Sie ermöglicht es Europa, inklusive Deutschland, die Frage nach den Tätern auszublenden und sich als erstes Opfer des Nationalsozialismus zu sehen. So dass zum Beispiel Gerhard Schröder gemeinsam mit den Alliierten der Landung in der Normandie gedenken konnte. Für die Anonymisierung und Universalisierung des Holocaust auf europäischer Ebene war, so Keil, vor allem die Erklärung des Stockholmer Forums über den Holocaust im Januar 2000 von Bedeutung. In Ihr wird ein Gut Böse-Schema produziert, „durch welches das gegenwärtige Europa sich selbst in den Kampf gegen das Böse setzen kann und damit auch zumindest einen Legitimationsrahmen schafft, um notfalls auch mit militärischen Mitteln in Konflikte einzugreifen“ (209).

In der Neuerfindung Deutschlands war es in einer ersten Etappe gelungen, die immer wieder auftauchende deutsche Vergangenheit und die Notwendigkeit, sie verarbeiten zu müssen, mit dem Ruf nach Normalisierung zu verbinden. Diese Phase war geprägt durch die Fernsehserie Holocaust 1979, den Besuch Reagens und Kohls auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, der Rede des Bundespräsidenten von Weizäcker vor dem Bundestag und dem Historikerstreit. Mit der Fernsehserie Holocaust ist zugleich der Übergang zu einer „Massenproduktion von Erinnerung in kulturindustrieller Form“ (190) markiert. Im Zentrum dieser ersten Phase stand das Anliegen, der Opfer zu gedenken, die Täter aber gleichzeitig zu entlasten. Darüber hinaus führte die Dekontextuarlierung und Moralisierung von Auschwitz auch schon in Deutschland dazu, dass es als Vorlage genutzt werden konnte, um internationale Militärinterventionen zu legitimieren. Wenn Auschwitz überall ist, kann und muss es auch überall (durch das Gute) bekämpft werden, notfalls auch militärisch. Zuerst wurde dies im Jugoslawienkrieg von Joschka Fischer durchexerziert.

Nationalismus ist aber mehr, in ihm vermittelt sich das Verhältnis von Individuum und Allgemeinheit und insofern spiegelt sich in ihm auch die neoliberale Verschärfung des Kampfes Aller gegen Alle. Hiervon zeugen sowohl die „Du bist Deutschland“ Kampagne wie die Sarazin-Debatte. Und auch hier trifft man auf das Verhältnis von Europa und Nation. Diese sind dabei aber nicht entgegengesetzt, sondern ineinander verwoben. Während die EU für die neoliberale Ausrichtung steht, wird die Flexibilisierung und Aktivierung des Subjektes im globalen Wettbewerb durch den Zusammenhalt der Nation bearbeitet (234). Hierin drückt sich ein neues Verhältnis Europas zur Nation aus und insofern ist der neue Nationalismus kein Überbleibsel, sondern ein notwendiger Bestandteil dessen, was Ulrich Beck als kosmopolitisches Europa beschreibt. Becks Vorstellung verschweigt aber auch die Selektivität dieses kosmopolitischen Europa. Diese tritt aktuell offen an Europas Außengrenze zu tage. Die partielle Öffnung der Grenzen nach Innen ging einher mit der Konstruktion einer neuen europäischen Außengrenze. In den aktuellen Konflikten um die Grenzen (nationale wie europäische) wird aber auch noch einmal deutlich, wie krisenhaft und labil die Vermittlung vom gemeinsamen Grund des ‚europäischen Abendlandes’ und dem nationalen Interesse verläuft. Die Tatsache, dass kein europäischer Staat entstanden ist, sondern ein flexibles Staatsapparate-Ensemble, in dem der Widerspruch zwischen beiden Elementen weiterbesteht, führt dazu, dass in der doppelten Eskalation der Krise, als Eurokrise und als sogenannte Flüchtlingskrise, diese Widersprüche kaum mehr zu bearbeiten sind. In einer Situation, in der der Fortgang nur noch als Auseinanderbrechen der EU oder als verschärfter autoritärer Umbau zu denken ist, scheint Europa am Ende zu sein. Der Nationalismus ist es mit Sicherheit nicht.

Was etwas zu kurz kommt in dem Buch ist die Tatsache, dass die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und in Europa immer höchst umkämpft war, insofern ist die beschriebene Form der nationalen und europäischen Mythenbildung das Ergebnis langer Auseinandersetzungen auch um die Frage, ob es überhaupt notwendig ist dem Holocaust zu gedenken. Denkbar gewesen wäre auch eine völlige Dethematisierung, bzw. eine Relativierung, die auf die dunklen Flecken jeder Nation hinweist. In der Deutschen Vergangenheitsbewältigung läuft eine Vielzahl von Auseinandersetzungen um die Deutung der deutschen Geschichte zusammen und insofern ist sie brüchiger und im positiven Sinne inkonsistenter als sie hier mitunter erscheint.

Insgesamt liefert Keil, neben der theoretischen Aufarbeitung und Einordnung des Nationalismus, einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der aktuellen Situation. Die Leserin, bzw. der Leser muss einige Geduld aufbringen um sich bis zum eigentlichen Thema des Nationalismus vorzuarbeiten. Hier wäre vielleicht eine Straffung insbesondere der aufgearbeiteten Formdebatte sinnvoll gewesen. In jedem Fall lohnt es sich, sich hiervon nicht abschrecken zu lassen.

Daniel Keil 2015: Territorium, Tradition und nationale Identität. Eine staatstheoretische Perspektive auf den Wandel nationaler Identität in der Europäischen Union, Münster, 279 Seiten, 29,90€.

© links-netz März 2016