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Schwerpunkt: Ende der Demokratie? Übersicht

 

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„Postdemokratie“

Wettbewerbsetatismus in der Europäischen Union

Jens Wissel

In der ersten Phase der Finanzkrise 2007 bis 2009 ließ sich bei den Eliten in Politik und Wirtschaft eine gewisse Verunsicherung beobachten. Die Wirtschaftswissenschaft, die sich in den letzten Jahrzehnten zur Leitwissenschaft entwickelt hat, erwies sich bezüglich der Krise als völlig ahnungslos. Die zentralen Glaubenssätze und Versprechungen des Neoliberalismus können aus heutiger Sicht nur als naiv bezeichnet werden. Diese Einsicht schien sich auch bei Teilen der politischen Elite durchzusetzen. Für einen Moment hatte es den Anschein, dass weitreichende regulative Veränderungen möglich sind, die bis dahin kaum denkbar schienen. Mittlerweile ist es den Herrschenden gelungen, die Krise und ihre Deutung zu verschieben. Aus der Finanzkrise wurde nur kurzzeitig eine Weltwirtschaftskrise, dann wurde sie als Krise des Euro und zuletzt als Schulden-Krise einzelner Staaten in der EU propagiert.

Sah es für viele zunächst so aus, als könnten sich die Kräfteverhältnisse verschieben und eine Re-Demokratisierung eingeleitet werden, so zeigt sich jetzt, dass die zentralen Kräfte, die hinter der neoliberalen Transformation der letzten 30 Jahre stehen (insbesondere die exportorientierte Industrie und die Finanzindustrie, siehe Buckel et al 2012), in der Krise keineswegs dauerhaft geschwächt wurden. Ernst zu nehmende Regulierungsmaßnahmen, die gegen diese Akteure durchgesetzt werden müssten, sind kaum mehr zu erwarten. Die neoliberale Dominanz erwies sich als fest verankert in den politischen und ökonomischen Strukturen und in den Alltagspraktiken der Menschen. In den letzten Jahrzenten wurden auf der nationalen Ebene, wie im internationalen und globalen Zusammenhang institutionelle Fakten geschaffen, die nicht ohne weiteres rückgängig gemacht werden können. Hierzu zählt eine jahrzehntelange Politik der Deregulierung, die die Globalisierung in ihrer neoliberalen Form erst möglich gemacht hat und mit der sich die großen Konzerne den nationalen Klassenkompromissen entziehen konnten.

Sowohl die Europäische Integration, als auch die Nationalstaaten haben sich in dieser Phase nachhaltig verändert. Der autoritäre Umbau der Gesellschaft wurde früh erkannt und mit unterschiedlichen Begriffen zu fassen versucht. Nationaler Wettbewerbsstaat (Hirsch), Autortärer Kapitalismus (Heitmeyer), Autoritärer Neoliberalismus (Candeias), Neuer Konstitutionalismus (Gill), oder Postdemokratie (Crouch) sind nur einige der Begriffe, mit denen versucht wurde den Umbau der Nationalstaaten, der sich natürlich im Detail höchst unterschiedlich darstellte, zu fassen. Bei allen Differenzen in der jeweiligen Analyse, verweisen die Autoren auf eine massive Transformation der Staaten, in der demokratische Rechte abgebaut wurden. Mit seiner Analyse des „Autoritären Etatismus“ verwies Poulantzas schon Ende der 1970er Jahre auf eine Stärkung der Exekutive und einen Bedeutungsverlust der Parlamente durch die Zunahme informeller Politikformen (gerne auch als Governance bezeichnet).

Ein besonders weitgehendes Beispiel für diese Entwicklung ist die EU, in der das Parlament nur sehr wenige Rechte hat und Politik in einem undurchsichtigen, in unzähligen Expert_innengruppen (in denen auch von privaten Unternehmen bezahlte „Expert_innen“ sitzen) und Arbeitsgruppen organisierten Verhandlungsprozess abläuft. In diesem Prozess werden die politischen Entscheidungen nicht nur der öffentlichen Auseinandersetzung entzogen, sie werden auch grundsätzlich entpolitisiert, bürokratisiert und letztlich rein technokratisch funktionalistisch begründet. Die Bürokratie der EU ist gleichwohl klein, was sie besonders anfällig für Lobbygruppen macht. Auf die etwa 30.000 Beamten der Kommission kommen zwischen 15.000 und 30.000 professionelle Lobbyist_innen, die sie ebenso wie die verschiedenen neoliberal ausgerichteten Think Tanks mit dringend benötigter ‚wissenschaftlicher‘ Expertise versorgen. 70 % dieser Lobbygruppen vertreten Kapitalinteressen (vgl. Eberhardt 2012). Mitunter organisiert die Kommission diese Interessen selbst, um die eigene Position gegenüber den Nationalstaaten zu stärken, wie im Fall des European Round Table of Industrialists (vgl. van Apeldoorn 2000). Diese Struktur hat sich lange vor der aktuellen Krise entwickelt und mündet nach der Krise des Fordismus, seit Mitte der achtziger Jahre in eine wettbewerbsstaatliche Integrationsweise. Zentrales Element dieser neuen Integrationsweise war das Binnenmarktprojekt, mit dem ein umfassender Deregulierungs- und Liberalisierungsschub in Bewegung gesetzt wurde (siehe Tömmel 2008, 35; Ziltener 1999, 196; Genetti 2010, 173). Dieser leitete einen weitgehenden wirtschaftlichen Strukturwandel ein. Mit dem Projekt der gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion konnte eine auf monetäre Stabilisierung ausgerichtete Wirtschaftspolitik durchgesetzt werden. „Die Liberalisierung des Kapitalverkehrs hat in Verbindung mit den Vorgaben der Konvergenzkriterien zu einem engen ‚Austeritätskorsett’ für Staatlichkeit in Europa geführt“ (Ziltener 1999, 196). Dieses Korsett verstärkte wiederum den wettbewerbsstaatlichen Umbau in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Allgemein kann von einem Übergang zu einer Konkurrenzregulierung, einer weiteren Durchkapitalisierung der europäischen Gesellschaften sowie von einer Transformation des „erweiterten Staates“ durch Ausbreitung „staatlich-privater Netzwerke“ gesprochen werden (vgl. Hirsch 2005, 154). Bei letzterem handelt es sich weniger um Projekte der Bürgerbeteiligung, als um eine zunehmende Verquickung von Staat und Ökonomie, in kaum mehr zu durchschauenden staatlich-privaten Verhandlungssystemen, die sich demokratischer Kontrolle weitgehend entziehen.

Der Widerspruch zwischen Demokratie und Kapitalismus hat sich in den letzten Jahren zugespitzt. Was in der Krisenbearbeitung festgestellt werden kann, ist aber keine neue Entwicklung. Economic Governance und Fiskalpakt stehen in der Tradition europäischer Politikprozesse. Was allerdings zu beobachten ist, ist eine Verschärfung des Abbaus von Demokratie und eine Radikalisierung des neoliberalen Projektes. Diese beiden Prozesse stehen in einem engen Zusammenhang.

Die neoliberale Hegemonie ist selbst in die Krise geraten, weil es mit der zunehmenden Eskalation der Krise schwieriger wird, einen gesellschaftlichen Konsens zu formulieren. Zwar ist es gelungen, die Bedeutung der Krise zu verschieben und sich als Ursache auf die Staatsverschuldung und die zu hohen Staatsausgaben zu einigen, dennoch scheinen verschiedene Strömungen des Neoliberalismus, in der Frage, wie auf die Krise reagiert werden soll, auseinander zu driften (vgl. Buckel et al 2012). Positionen radikal national-neoliberaler Strömungen (Hans Werner Sinn) und europäisch orientierter Neoliberaler, wie die Führung der SPD und von Teilen der CDU, lassen sich kaum noch miteinander vermitteln. Zurzeit scheint eine autoritär-neoliberale Strömung mit national-neoliberalen Elementen, insbesondere in Deutschland, die Führung zu übernehmen. Die Krise wird nun als Instrument der Disziplinierung genutzt um den neoliberalen Umbau noch zu verstärken: Also verstärkte Umverteilung von unten nach oben, Abbau öffentlicher Infrastruktur und Sozialleistungen etc.

War der Neoliberalismus eine Bewegung, die ihre Glaubenssätze und den gesellschaftlichen Umbau von Beginn an weniger durch die Herstellung eines aktiven Konsenses durchsetzte, als durch Passivierung und Demoralisierung oppositioneller Kräfte, d.h. durch Behauptung und Herstellung von Alternativlosigkeit (TINA), so beginnt nun auch dieser passive Konsens in Teilen Europas zu bröckeln – allerdings ohne dass sich die Kräfteverhältnisse grundsätzlich verändern. Und genau diese Konstellation führt dazu, dass verbliebene demokratische Rechte ausgehebelt werden, um die Austeritätspolitik beizubehalten, bzw. noch verstärken zu können. Der radikalisierte „Krisenneoliberalismus“ (Bieling 2011) setzt sich, auch das steht in der Tradition, als Schocktherapie durch, der den Moment der Angst und der Desorganisation der Subalternen in der Krise nutzt (Naomi Klein), um noch bestehende Reste erkämpfter sozialer Rechte zu beseitigen.

Der Angriff auf soziale Infrastruktur und demokratische Rechte ist nicht auf eine Ebene der Regulation beschränkt. Mit dem Fiskalpakt wird eine bestimmte Wirtschaftspolitik in den nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten festgeschrieben. Mit der Economic Governance werden nationale Souveränitätsrechte auf die europäische Ebene verlagert. Dieser Verlust nationaler Souveränität wird von Teilen der jeweiligen nationalen Eliten allerdings gerne hingenommen, um bisher nicht durchsetzbare „Reformen“ zum Abbau sozialer Rechte zu ermöglichen. Mit anderen Worten, das neoliberale Projekt muss in seiner globalisierten Form analysiert werden. Die neoliberale Globalisierung war der Ausgangspunkt, um nationale Kompromissformationen auszuhebeln. Das ist der Grund, warum eine neue soziale Bewegung auch nicht mehr auf den Nationalstaat beschränkt agieren kann. Sie muss vielmehr auch global und auf der europäischen Ebene in die Kämpfe eingreifen, um zu verhindern, dass einmal erkämpfte Rechte, durch die Verlagerung der Auseinandersetzung auf ein anderes Terrain (z.B. die EU) ausgehebelt werden können.

Ein Zurück zum fordistischen Nationalstaat wird es aufgrund der veränderten Konstellation nicht mehr geben. Damit ist nicht gemeint, dass nationale soziale und politische Rechte nicht verteidigt werden sollten. Im Gegenteil, der Verlust solcher Rechte in einem Nationalstaat, setzt früher oder später die anderen Gesellschaften unter Druck, diese Rechte ebenfalls abzuschaffen, um Ausgaben zu senken, schneller entscheiden zu können, Löhne zu drücken, Kapital anzulocken, etc.

Es ist nur schwer vorstellbar, dass sich die EU demokratisieren lässt. Sie ist gerade Teil des ‚autoritären Konstitutionalismus‘ (Oberndorfer 2012, 62), der die bestehenden Machtverhältnisse absichert und auf Dauer stellt. Zurzeit agiert die EU, in der Frankreich und Deutschland den Ton angeben, als Inkassounternehmen, mit den Mitgliedstaaten als Unterabteilungen (vgl. Streeck 2011, 28; sicher das einzige mit Friedensnobelpreis). Demokratische Strukturen wären hier in der Tat widersinnig, weil sie die Position derjenigen stärken würde, von denen das Geld eingetrieben werden soll. Der aktuellen Renationalisierung von Politik, wie den aufkommenden rechtspopulistischen Bewegungen, muss gleichwohl entgegen getreten werden. Rassismus und Nationalismus schreiben die ungleichen Kräfteverhältnisse weiter fest, die sich auch durch die Globalisierung zuungunsten der Subalternen verschoben haben. Nationalismus ist immer auch eine Option zur Sicherung von Herrschaft*.

Ein erster Schritt die demokratische Frage zu stellen wäre es, Referenden über die Sparpolitik in den Ländern durchzusetzen, die vom Spardiktat der EU unmittelbar betroffen sind, wie es in Spanien schon gefordert wird. Voraussetzung für eine Demokratisierung, ob im nationalen, oder europäischen Raum, wäre eine Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Hierfür müsste die Macht der finanzialisierten Industrie, der Banken und der großen Vermögensbesitzer gebrochen werden. Eine gesellschaftliche Kraft, die das in Angriff nehmen könnte, ist zurzeit kaum in Sicht. Sie müsste sich aus höchst unterschiedlichen progressiven oppositionellen gesellschaftlichen Bereichen zusammensetzen und neu formieren. D.h. sie müsste Strömungen von den Indignados bis zu enttäuschten Sozialdemokrat_innen und Grünen integrieren und sowohl diejenigen erreichen, die in den letzten Jahren resigniert haben, als auch jene, die bis zuletzt an die Verheißungen des freien Marktes geglaubt haben, um gesellschaftlich relevant zu werden.

Literatur:

Buckel, Sonja / Georgi, Fabian/ Kannankulam, John/ Wissel, Jens (2012): Kräfteverhältnisse in der europäischen Krise, in: Forschungsgruppe ‚Staatsprojekt Europa‘ (Hg.): Die EU in der Krise, Münster, 12-49.

Eberhardt, Pia (2012): Lobbyismus und europäische Postdemokratie, in: Forschungsgruppe ‚Staatsprojekt Europa‘ (Hg.): Die EU in der Krise, Münster, 105-122.

Genetti, Evi (2010): Europäische Staaten im Wettbewerb. Zur Transformation von Geschlechterordnungen im Kontext der EU, Münster.

Hirsch, Joachim (2005): Materialistische Staatstheorie, Hamburg.

Oberndorfer, Lukas (2012): Vom neuen zum autoritären Konstitutionalismus: Soziale Bewegungen, Recht und Demokratie in der europäischen Krise, Kurswechsel 2/2012, 62.

Streeck, Wolfgang (2011): The Crisis of Democratic Capitalism, in New Left Review 71, 24-29.

van Apeldoorn, Bastiaan (2000): Transnationale Klassen und europäisches Regieren. Der European Round Table of Industrialists, in: Bieling, Hans-Jürgen/Steinhilber, Jochen (Hg.): Die Konfiguration Europas. Dimensionen einer kritischen Integrationstheorie. Münster, 189-221.

Ziltener, Patrick (1999): Strukturwandel der europäischen Integration, Münster.

Anmerkungen

* Diese nationale Karte wird von den neoliberalen und konservativen Kräften in Europas Norden gezogen, ebenso wie von der neoliberalen Regionalregierung in Katalonien, die selbst eine radikale Kürzungspolitik und eine Steuersenkungspolitik durchsetzte, um sich nun darüber zu beschweren, dass die Kassen leer sind. Schuld sind die Transferzahlungen, die an ärmere Regionen in Spanien gehen.Zurück zur Textstelle

© links-netz November 2012