Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Rezensionen Übersicht

 

  Text in eigenem Fenster anzeigen    rtf-Datei herunterladen 

Argentinische Situationen

Der etwas andere Blick des Colectivo Situaciones auf den argentinischen Widerstand

Jessica Zeller und Martina Blank

„Es geht nicht darum, von der Linken zu fordern, sie solle einen Schritt zurückgehen. Vielmehr ist sie aufgefordert, die neuen Bewegungen zu begleiten und erneut in der Schule des Alltags zu lernen, um so mit den versteinerten Schematismen der Vergangenheit zu brechen.“ (León Rozitchner, S. 61)

Seit dem 19. und 20. Dezember 2001 sind die aktuellen Prozesse in Argentinien wieder stärker ins Licht der hiesigen Öffentlichkeit gerückt. Dabei stehen vor allem die wirtschaftlichen Krisenprozesse des südamerikanischen Landes und die medienwirksamen Massenproteste in Buenos Aires im Vordergrund des Interesses. Bei den Versuchen, die Ereignisse von vor anderthalb Jahren aber wirklich zu verstehen, wird die Dichte und Aussagekraft der Publikationen merklich dünner. Die Vielfältigkeit der neueren sozialen Bewegungen in Argentinien und die Entwicklung neuer Ansätze von Politik und gesellschaftlicher Veränderung treten dabei häufig in den Hintergrund oder werden als das Auftreten eines neuen „revolutionären Subjekts“ instrumentalisiert. Dabei sind es gerade die eben nicht als Einheit zu fassenden Akteure und Praxen, die eine nähere Beschäftigung verdienen und auch Impulse für hiesige Debatten bieten können.

Die Mitglieder des Colectivo Situaciones aus Buenos Aires, HerausgeberInnen der argentinischen Originalausgabe von „¡Que se vayan todos! Krise und Widerstand in Argentinien“, haben sich mit ihrer Methode der „militanten“ Untersuchung zu einer wichtigen Stimme der aktuellen radikalen Bewegungen Argentiniens entwickelt. Sie haben es sich dabei zur Aufgabe gemacht, als Teil der Bewegungen, diese kritisch zu begleiten und „die sich neu eröffnenden Handlungsperspektiven auszuloten“ (34). Jenseits linker Dogmatik bedient sich das Colectivo Situaciones eines kreativen Mix aus verschiedenen - vor allem subjekttheoretischen - Ansätzen, um die aktuellen Prozesse zu begreifen und neue Anforderungen an Gesellschaftskritik und -veränderung zu formulieren.

Die nun auf Deutsch vorliegende Ausgabe von „¡Que se vayan todos!“ ist dabei um eine Einleitung vom Herausgeber Ulrich Brand und Artikeln von Alix Arnold, Stefan Thimmel und Raúl Zibechi sowie um einen chronologischen Abriss der jüngsten Geschichte Argentiniens ergänzt. Den AutorInnen der thematisch breit gefächerten Aufsatzsammlung geht es insbesondere um die Herausbildung alternativer Formen sozialen und politischen Handelns. Die unzähligen Stadteilversammlungen, die Besetzung verlassener Gebäude, die Volksküchen und selbstverwalteten Kindergärten, die Besetzung und Wiederinbetriebnahme in Konkurs befindlicher Fabriken, die Tauschringe: All dies sind Beispiele für neue kollektive und autonome Praxen.

Dabei sollte man das Buch aber nicht als „Info-Ratgeber“ für InternationalistInnen falsch verstehen. „¡Que se vayan todos!“ ist in erster Linie im Kontext einer Selbstverständigung innerhalb der argentinischen Linken geschrieben worden. Das Buch, das in der argentinischen Originalausgabe den Untertitel „Notizen zum neuen sozialen Protagonismus“ trägt, ist in wenig mehr als zwei Monaten nach den Ereignissen des 19./20. Dezember 2001 entstanden und nicht als großer theoretischer Wurf konzipiert. Vielmehr handelt es sich eben um Notizen zu den Diskussionen in den Stadtteilversammlungen, den Piquetero-Organisationen und anderen Teilen der Bewegungen sowie um theoretische Anmerkungen und kritische Ansätze zu den jüngsten Erfahrungen.

Das Schreiben in Situation

Colectivo Situaciones: der Name ist Programm. Ausgehend von den Ereignissen des 19./20. Dezember 2001, als Massenproteste in Argentinien zur Absetzung des regierenden Präsidenten Fernando de la Rúa führten, führt uns das AutorInnenkollektiv zu den verschiedenen Akteuren in ihren jeweiligen Kontexten: zu den Situationen der Bewegung.

“Das Schreiben in Situation findet hier ein besonders innovatives Beispiel” schreibt Toni Negri in einer Rezension zur italienischen Ausgabe des vorliegenden Buchs. Was aber macht die Situation genau aus? Anknüpfend an den Mitbegründer der „Situationistischen Internationale“ Guy Debord schreibt das Colectivo Situaciones „In der Tat besitzt jede Erfahrung, jede Situation eine radikale Einzigartigkeit (...) Gemeinsame Probleme existieren nur in der konkreten Situation. Und sie existieren ausgehend von hegemonialen Elementen – der Kapitalismus gehört dazu -, an denen sich sehr verschiedene Situationen abzuarbeiten haben.“ (181)

Die Situation ist der gesellschaftlichen Struktur also keineswegs gegenübergestellt, vielmehr handelt es sich um einen Perspektivwechsel. Es gilt nicht den Sinn und Gehalt der Situation aus einer vermeintlich übergeordneten Struktur heraus zu verstehen, sondern umgekehrt die Struktur von der Situation aus zu begreifen, das heißt ausgehend von den konkreten Problemen und Praxen der verschiedenen Menschen und Gruppierungen. Aus dieser Sicht folgt, dass jede Situation für sich einen Wert besitzt und sich nicht auf einen Teilaspekt einer gesellschaftlichen Totalität reduzieren lässt. Aus einer situationalen Perspektive erlangen die einzelnen Erfahrungen ihre Bedeutung nicht aus einer ihnen externen Universalität, vielmehr konstituieren sie selbst eine „konkrete Universalität“. Das Ganze ist in seinen Teilen aufgehoben. Die Situation „reproduziert die Welt in ihrem Inneren“ (190).

Ein Aufstand neuen Typs

Das Paradebeispiel dieser situationalen Perspektive findet sich im Buch in der Beschreibung und Analyse der Ereignisse des 19./20. Dezember 2001 durch das Colectivo Situaciones, Horacio Gonzalez (argentinischer Soziologe) und den MTD Solano (Piquetero-Organisation aus dem Großraum Buenos Aires): Wie die AutorInnen der einzelnen Artikel verdeutlichen, war das, was in jener Nacht geschah, etwas Unerwartetes, das sich jeder schnellen Interpretation entzog. Es gab keinen Urheber, keinen Ursprung. Auch waren die Massendemonstrationen nicht einfach eine Reaktion auf den Ausnahmezustand oder die vorher verhängte Kontosperrung. Der 19./20. Dezember 2001 war „ein Aufstand neuen Typs, ohne AutorInnen, ohne EigentümerInnen, welcher durch die Verschmelzung vieler Geschichten möglich wurde“ (200). Das Colectivo Situaciones spricht von einer „Fusion“, einer neuen Situation, die vor allem aus sich selbst heraus, aus ihren Ereignissen, ihren Diskursen entschlüsselt werden müsse. Das will nicht heißen, dass sich die Situation ohne die größeren Zusammenhänge verstehen ließe, es gilt aber die Komplexität, die Vielfältigkeit und das offene Moment der Situation zu begreifen, ohne diese gleich als Teilereignis einem Gesamtzusammenhang unterzuordnen. Es geht also nicht darum, in wie fern die Proteste „scheitern“ oder welchen „Erfolg“ sie haben.

Dem Colectivo Situaciones ist es vor allem daran gelegen, das „positive Nein“ des Aufstandes zu begreifen: In der Parole „¡Que se vayan todos!“ („Alle sollen verschwinden!“) drücke sich ähnlich dem zapatistischen „¡Ya basta!“ eine radikale Verneinung aus, die gerade in ihrem performativen Bruch mit bestehenden Politikmustern und dem damit einhergehenden Aufbrechen des Handlungsfeldes ihre Positivität ausdrücke (40).

Der argentinische Philosoph León Rozitchner verweist in diesem Kontext auf den Zusammenhang von konkreter Erfahrung und politischen Subjektivitäten (60ff.): Die Erfahrungen der Menge in jener Nacht des 19. Dezember 2001 hätten einen Bruch mit den alten politischen Subjektivitäten erzeugt und eben hier gelte es anzuknüpfen. Dies bedeute vor allem sich Zeit zu nehmen und nicht den eigenen Erfahrungshorizont abstrakten und voreiligen politischen Projekten unterzuordnen. Ähnlich betont auch Horacio González die Bedeutung der kleinen Risse in der Alltagsroutine, die die Ereignisse konstituierten (56).

Das Handeln in Situation

In die Situation einzutreten bedeutet nicht nur ein anderes Verstehen, sondern auch ein anderes Handeln. So schreibt das Colectivo Situaciones: „Dies bedeutet nicht, naiv zu sein: Es geht nicht darum die aktuellen Entwicklungen zu negieren, sondern um die Analyse als Teil der Reflexionen konkreter Situationen. Dieses Verständnis nennen radikale Gruppen, wie der MTD von Solano, Autonomie: mit dem eigenen Kopf und ausgehend von der konkreten Situation zu denken. Dies beinhaltet, den fremden Dringlichkeiten, die von den Medienzirkeln und den Politgruppen projiziert werden, kein Gehör zu schenken, um sich so mit den eigenen Fähigkeiten des Begreifens und des eingreifenden Handelns neu zu entdecken“ (88).

Es geht also um eine neue Form der Autonomie. Autonomie nicht nur gegenüber dem Staat oder dem kapitalistischen Markt, sondern gegenüber allen dem eigenen Handeln extern liegenden Logiken. Das bedeutet zum Beispiel, dem eigenen Rhythmus zu folgen. Die Mitglieder des MTD Solano beschreiben das so: „Es gibt GenossInnen, die uns anrufen und wissen wollen, wie wir auf landesweite Aktionsaufrufe einiger Straßenblockade-Organisationen und linker Parteien reagieren (...) Die überwiegende Mehrheit war dagegen, den Aufrufen zu folgen, und meinte, dass wir einen eigenen Rhythmus hätten, zum Aufbau der Bewegung beizutragen“ (100). Auch die H.I.J.O.S. – die von Alix Arnold in seinem Aufsatz beschriebene Organisation der Kinder von während der Militärdiktatur „Verschwundenen“ – folgen mit ihren Aktionen der Escraches (der öffentlichen Kennzeichnung von Tätern der Militärdiktatur) ihren eigenen Zeiten: „In der ersten Zeit Mitte der 90er Jahre folgten die Escraches Schlag auf Schlag (...) Inzwischen finden weniger Aktionen statt, denn H.I.J.O.S. legen mehr Wert auf die Vorbereitung im Stadtteil. Oft vergehen Monate zwischen der ersten Kontaktaufnahme und dem eigentlichen Escrache, das gemeinsam mit Gruppen und Organisationen aus dem Stadtteil vorbereitet wird“ (174).

Das Handeln in Situation wendet sich zudem gegen jegliche Repräsentation des eigenen Handelns. So gilt es beispielsweise eine neue Autonomie gegenüber den Medien zu finden, die in ihrer teilweise durchaus sympathisierenden Berichterstattung Identitäten konstruieren, die ihre eigene Wirkungsmächtigkeit entfalten. Der Piquetero, der mit Pflasterstein in der Hand vor den Kameras posiert, ist nur ein Beispiel hierfür. Nicht in der öffentlichkeitswirksamen Kamera, sondern in der Diskussion im eigenen Stadtteil liegt die gesellschaftsverändernde Kraft.

Das Problem der Repräsentation spricht auch das unabhängige Mitglied des argentinischen Abgeordnetenhauses und vorübergehende Präsidentschaftskandidat Luis Zamora an, indem er über die Dezembertage schreibt: „Ich bin sogar der Überzeugung, dass die Analyse beim Versuch der Konzeptionalisierung der Geschehnisse selbst Gefahr läuft, diese zu verdinglichen. Die Herausforderung besteht darin, von innen her zu denken“ (131). Und weiter: „Ich denke, dass man in Richtung eines Je-diffuser-desto-besser gehen sollte, weil dies mehr Autonomie, Stärke und interne Verknüpfungen beinhaltet“ (133).

Eine Praxis, der Teile der organisierten Arbeitslosen Argentiniens Rechnung tragen. Die Menschen vom MTD Solano appellieren weder an staatliche „Repräsentation“, noch fordern sie die erneute Integration in das bestehende Gesellschaftssystem. Vielmehr geht es ihnen um die Konstruktion von unten, um die Gestaltung ihrer eigenen spezifischen Situation. Der MTD Solano organisiert beispielsweise die Gesundheitsvorsorge auf nichtstaatlicher Basis, gründet Schulen, Berufsbildungsstätten und autonome Produktionsstätten. Hier wird deutlich, was die AutorInnen vom Colectivo Situaciones als „Innen und Außen als (...) ideologische Räumlichkeiten“ (83) bezeichnen. Denn sich selbst als Ausgeschlossene wahrzunehmen, bedeutet bereits von einer gesellschaftlichen Totalität und nicht von der Situation auszugehen.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die verschiedenen im Buch versammelten Aufsätze zu den Piqueteros und Stadtteilversammlungen (Colectivo Situaciones, MTD Solano und Luis Zamora), zu den Praxen der H.I.J.O.S., zu den besetzten und wieder in Betrieb genommen Fabriken (Alix Arnold und Raúl Zibechi) und zu den Tauschringen (Colectivo Situaciones und Stefan Thimmel) mehr sind, als die Beschreibung kollektiver Selbstorganisation. Es geht dabei immer auch um die Frage der Macht und was unter alternativer „Politik“ zu verstehen ist. Denn eine situationale Perspektive bedeutet die radikale Infragestellung politischer Repräsentation und der Übernahme staatlicher Macht.

Ausblick

Bei allem Optimismus der in den meisten Beiträgen des Buches vorherrscht, verweist das Colectivo Situaciones in dem erst für die deutsche Ausgabe verfassten Vorwort jedoch auch auf die Gefahr der „Rekolonisierung des sozialen Raums“ (22) durch den Staat. Insbesondere die Piqueteros seien von der wachsenden legalen und illegalen Repression bedroht. „In Argentinien ist der Staat als Garant nationaler Integration nicht mehr funktionsfähig (...) Unsere These ist, dass der Staat trotz dieser Entwicklung nicht von der Bühne verschwinden wird. Die Akteure emanzipatorischer Gegenmacht werden weiter mit einem Staat konfrontiert sein, der seine Fähigkeiten zur Repression und Kooptation pflegen und ausbauen wird“ (24). Es stellt sich also die Frage, ob mit der Kritik der Politik der Repräsentation auch gleichzeitig die Mittel, die der staatliche Gewaltapparat immer noch innehat, entkräftet werden.

„Que se vayan todos“ ist kein einfaches Buch. Mensch sollte sich dafür Zeit nehmen, um sich auf das Anliegen der AutorInnen einzulassen. Die teilweise unvollständige Vermittlung des historischen Kontextes und der aktuellen politischen Debatten in der argentinischen Linken tragen ihren Teil zu der Schwierigkeit der Lektüre bei. Denn was stilistisch oft geradezu esoterisch anmutet, ist eigentlich ein neuer und kreativer Ansatz zu autonomer Politik. Die thematisch orientierten Texte bringen den teilweise recht abstrakten theoretischen Diskurs wieder auf den Boden der Realität zurück. Beides zusammenzudenken bleibt Aufgabe des kritischen Lesers.

Colectivo Situaciones, ¡Que se vayan todos! Krise und Widerstand in Argentinien, herausgeben von Ulrich Brand, erschienen im Verlag Assoziation A, Berlin/ Hamburg/ Göttingen, 2003, 221 Seiten.

© links-netz Juni 2003