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Sozialpolitik als Infrastruktur Übersicht

 

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Zur (Nicht-) Aktualität der sozialen Infrastruktur

Joachim Hirsch

Nachdem die populistisch aufgeheizte „Flüchtlingsfrage“ vielleicht auch wegen fehlenden Anlasses etwas in den Hintergrund getreten ist, kommt wieder stärker in die Schlagzeilen, was die wirklich drängenden Probleme der Leute sind. Bei den aktuellen Wahlen in Hessen und sogar Bayern spielten diese jedenfalls wieder eine deutlichere Rolle. Das Debakel der CSU hat auch damit zu tun, dass sie jahrelang das Flüchtlingsthema hochgepuscht hat. Was zeigt, dass es wenig lohnt, der AfD nachzulaufen. Und auch die lange mit sich selbst – oder genauer: Seehofer – beschäftigte Bundesregierung will sich neuerdings wieder „Sachfragen“ zuwenden, also mit dem, was „den Menschen da draußen“ auf den Nägeln brennt: die Wohnungsmisere, der Verkehrsinfarkt, die Luftverschmutzung, das Klima, die Renten, das Gesundheitswesen, bei dem der Pflegenotstand aktuell das beherrschende Thema ist. Und natürlich immer wieder die Bildung.

Abgesehen von der etwas merkwürdigen, aber immer wieder vorgebrachten Vorstellung, die Probleme mittels „Digitalisierung“ angehen zu können, beschränkt sich das, was gegenwärtig an Lösungsvorschlägen gehandelt wird, allerdings auf ein weitgehend konzeptionsloses Herumwerkeln am Status Quo. In Bezug auf den gravierenden Mangel an bezahlbaren Wohnungen kommen die Vorschläge im Kern über eine Wiederbelebung des jahrzehntelang vernachlässigten sozialen Wohnungsbaus kaum hinaus. Dieser stellt im Grunde eine Subventionierung privater Investoren mit zeitlich höchst beschränkter und daher kaum nachhaltiger Wirkung für die Miethöhe dar. Auch da wirkt die längst widerlegte Vorstellung, irgendwann werde es dann doch der Markt richten. Ganz abgesehen von dem „Baukindergeld“, das nichts anderes als ein Geschenk an Besserverdienende mit kaum messbarer Wirkung auf die Wohnungsbautätigkeit darstellt (vgl. dazu den Text von Werner Heinz auf dieser Webseite).

Angesichts der steigenden Zuwanderung in die Ballungsgebiete bedürfte es einer Regionalpolitik, mit der die wachsende Ungleichheit von Stadt und Land angegangen wird und die einiges mehr beinhalten müsste als den Ausbau der Internetzugänge. Da herrscht indessen praktisch vollkommene Fehlanzeige, worüber auch das ausufernde Heimatgerede nicht hinwegtäuschen kann. Nachdem lange Zeit der „Dieselskandal“ die öffentliche Meinung beschäftigt hatte, wird immerhin nun ansatzweise realisiert, dass die ständig wachsende Zahl von Autos jedweder Art das eigentliche Problem ist. Dazu wiederum keine Idee. Auch Elektroautos verstopfen die Straßen und sind überdies nur bedingt klimafreundlicher. Gegen die ständige Zunahme platz- und spritfressender SUVs wird ohnehin nichts getan. Die Pläne der Regierung, mittels „Umtauschprämien“ das Dieselproblem lösen zu können, stellen nichts anderes dar als eine Absatzförderungsmaßnahme für die Autoindustrie. Zu der notwendigen und möglichen Hardwarenachrüstung will man die Unternehmen nicht zwingen. Kein Wunder also, dass die Regierung sich von ihren Umweltzielen verabschiedet. Das gilt vor allem auch für die Energiepolitik. Der dringend notwendige Stopp der Kohleverstromung soll jedenfalls erst mal auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben werden. Und immer noch ist die deutsche Regierung das Haupthindernis für den Versuch der EU-Kommission, die Grenzwerte für CO2-Emissionen bei Neufahrzeugen deutlich zu reduzieren. Das hat sie gerade eben wieder geschafft und geriert sich damit ganz offen als Büttel der Automobilindustrie.

In Anbetracht dessen, was die Politik leistet, erscheint das bei den herrschenden Parteien gerade in Wahlkampfzeiten verbreitete Gerede von der Zukunftsgestaltung einigermaßen hohl. In Wirklichkeit beschränkt man sich auf eine notdürftige Verwaltung der bestehenden Zustände. Wenn Zukunft wirklich nachhaltig gestaltet werden sollte, dann bedürfte dies grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen. Überlegungen dazu gibt es wohl. So haben wir vom links-netz schon vor vielen Jahren darauf hingewiesen, dass der Ausbau der sozialen Infrastruktur in zentralen Bereichen, also vor allem Wohnen, Gesundheit, Bildung und Verkehr das Gebot der Stunde ist. Was heißt, dass dafür zu sorgen wäre, dass in Bezug auf diese Grundbedürfnisse ein kostenloses oder zumindest finanziell tragbares Angebot für alle geschaffen muss, verbunden mit den dazu notwendigen organisatorischen und finanztechnischen Vorkehrungen. Dass also die Marktregulierung – was heißt die Abhängigkeit der Bedürfnisbefriedigung von Kapitalinteressen – in zentralen Bereichen aufgehoben oder eingeschränkt werden muss.

Bei der Wohnungsversorgung ginge es vor allem um die Einführung eines öffentlichen/kommunalen Wohnungsbaus, der zu einer Anpassung der baulichen Maßnahmen an die realen Wohnbedürfnisse und eine dauerhafte Beschränkung der Miethöhen führt. In den Feuilletons wird aktuell wieder auf das Wiener Wohnungsbaumodell Bezug genommen, regelmäßig mit dem Verweis darauf, dass dies ein Sonderfall und auf die hiesigen Verhältnisse nicht übertragbar sei – mit nicht besonders stichhaltigen Begründungen allerdings. Zu dessen Finanzierung könnte durchaus beitragen, auf klientelbezogene Geschenke wie das Baukindergeld zu verzichten, vor allem aber die Wertsteigerungen bei Grundstücken steuerlich abzuschöpfen und die vielfältigen Ausnahmen von der Grunderwerbssteuer für Immobilienkonzerne abzuschaffen. Der Frankfurter kommunale Wohnungsbau in den zwanziger Jahren wurde durch eine Steuer auf die Mieteinnahmen finanziert. Das wäre angesichts der Mietenexplosion auch keine schlechte Idee. Ganz am Rande taucht jetzt wieder das Argument auf, dass Grund und Boden eigentlich zu den nicht privatisierbaren Gemeingütern zählen müssten. Dem steht allerdings die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes entgegen. Diese könnte aber vom Parlament mit einer ausreichenden Mehrheit durchaus modifiziert werden. Viele Kommunen haben infolge ihrer Finanzklemme ihr Wohnungs- und Grundeigentum an private Investoren verkauft. Dieses soll nun durch die verbilligte Überlassung von Grundstücken des Bundes ein klein wenig kompensiert werden. Angeblich seien allerdings die Kommunen wegen fehlender administrativer Kompetenzen nicht in der Lage, Wohnungen selbst zu bauen. Wenn dem so wäre, sollte dieser Mangel schleunigst behoben werden. Zumindest wäre zu verlangen, dass das kommunale Grundeigentum nur noch per Erbpacht Privaten überlassen wird, was gleichzeitig die Möglichkeit schaffen würde, dies mit spezifischen Bau- und Nutzungsauflagen zu verbinden. Sie im Rahmen des „sozialen Wohnungsbaus“ privaten Investoren zu überlassen, bedeutet nicht mehr als eine zeitlich etwas verschobene Privatisierung.

Beim Verkehr stünde im Zentrum der Ausbau eines kostenlosen oder zumindest für alle finanziell tragbaren öffentlichen, insbesondere Personennahverkehrs. Statt auf Steuerzahlerkosten den Automobilabsatz zu fördern – wie aktuell wieder in der Dieselfrage – und Unsummen in den Straßenbau zu stecken, könnten auch dafür Mittel bereitgestellt werden. Das gilt nicht zuletzt für den ländlichen Raum, in dem verkehrspolitische Ödnis herrscht, was einiges zu dessen Entleerung beiträgt. Statt also mit riesigem Aufwand ICE-Strecken zu bauen, die eine Zeitersparnis von ein paar Minuten versprechen. Der Skandal um den Stuttgarter Hauptbahnhof steht beispielhaft dafür. Bezüglich der Ankündigung der Regierung, Experimente für einen kostenlosen Personennahverkehr in einigen Städten zu fördern, herrscht inzwischen Stillschweigen. Diese sollte wohl in der Tat der Beruhigung der EU-Kommission dienen.

Einige, wenn auch geringe Fortschritte gibt es immerhin in der Bildungspolitik. Selbst wenn auch dort der umfassende Ausbau der sozialen Infrastruktur kein Thema ist. Dass die Einführung von Studiengebühren an den Hochschulen weitgehend gescheitert ist, ist eher öffentlichem Druck geschuldet. Ganz abgesehen davon geht aber ihr Umbau, insbesondere die Trennung von Forschung und Lehre zu Lasten letzterer und der wachsende Einfluss der Unternehmen auf die Inhalte vor allem mittels Drittmittelfinanzierung unverdrossen weiter. Die geplante Ausweitung des Angebots an kostenloser Kinderbetreuung ist wohl sehr maßgeblich dem Interesse der Unternehmen an der Mobilisierung weiblicher Arbeitskräfte geschuldet. Damit würden immerhin die schlechter bezahlten Arbeitsverhältnisse zunehmen und der in der Hochkonjunktur herrschende Lohndruck verringert werden.

Was den notwendigen Umbau des an vielen Stellen aus dem Ruder laufenden und bei eher mittlerer Qualität verhältnismäßig teuren Gesundheitswesens zu einer umfassenden sozialen Infrastruktur angeht, herrscht überhaupt tote Hose. Der amtierende Gesundheitsminister Spahn hat bezüglich struktureller Reformen im Gegensatz etwa zu seinem Vorgänger Seehofer (!) anfangs der 1990er Jahre nicht einmal mehr eine Idee dazu. Das Interesse an seiner eigenen politischen Karriere hat bei ihm offensichtlich Vorrang gegenüber Ressortfragen. Gesundheitspolitik erschöpft sich derzeit in einigen Versuchen, Stellschrauben zu drehen und akute Löcher zu stopfen, ohne die systemischen Ursachen der Probleme auch nur andeutungsweise in den Blick zu nehmen. Was dabei herauskommt, lässt sich am Beispiel des Pflegenotstandes ablesen. Nachdem aus Gründen der Kostenersparnis in den vergangenen Jahrzehnten über 40000 Pflegestellen an den Krankenhäusern gestrichen wurden, will die Regierung nun wieder 13000 schaffen. Ein Plan, der schon deshalb zum Scheitern verurteilt ist, weil das dazu notwendige Personal gar nicht mehr zur Verfügung steht.

Bleiben noch die Renten. Es wird immer deutlicher, dass das Herumdoktern am gegenwärtigen Rentensystem kaum zukunftsweisend ist. Das Versicherungssystem steht schon deshalb in einer strukturellen Krise, weil der Anteil der versicherungspflichtigen Normalarbeitsverhältnisse tendenziell abnimmt und schlechtbezahlte bzw. prekäre zunehmen. Man wird also nicht darum herumkommen, das System auf ganz neue Füße zu stellen. Eine Bürgerversicherung, durch die die Zahl der Beitragszahler entscheidend erhöht würde, wurde von der Regierungskoalition abgelehnt. Das wäre immerhin ein Schritt gewesen. Wenn schon ein bedingungsloses Grundeinkommen in auseichender Höhe für alle, das eine dauerhafte Lösung darstellen würde für die herrschende Politik überhaupt nicht in Frage kommt. (Zu den Einzelheiten vgl. dazu die Beiträge zur Sozialen Infrastruktur auf dieser Seite).

http:///Das kostet alles viel Geld. Was heißt, dass die in den letzten Jahren immer wieder abgesenkten Steuern auf eine ganz neue Grundlage gestellt werden müssen. Auch dazu gibt es viele Vorschläge, die über die wahrscheinlich zum Scheitern verurteilten Bemühungen hinausgehen, internationale Konzerne wenigstens dort zu besteuern, wo sie ihre Profite machen. Und auch die Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte wäre in Betracht zu ziehen. Das betrifft nicht nur die immer weiter steigenden Rüstungsaufgaben, sondern auch eine Vielzahl von Subventionen, die nichts anderem als der Klientelbefriedigung dienen. Zu erinnern wäre auch daran, dass es offensichtlich nicht schwer gefallen ist, in der Finanzkrise viele Milliarden für die Bankenrettung auszugeben.

Und alles braucht Zeit. Nicht zuletzt ein Umbau des Verkehrssystems würde Jahrzehnte beanspruchen. Das wird indessen immer schwieriger, je länger gewartet wird. Deshalb wäre es höchste Zeit, damit zu beginnen. Aber welche Partei will das wirklich? Dazu wäre es nämlich notwendig, sich mit einer ganzen Phalanx etablierter Interessen anzulegen, was heißt, nicht nur den bestehenden schlechten Zustand zu verwalten, sondern tatsächlich eine Politik zu machen, die über die nächste Wahlperiode hinausweist. Das wäre Zukunftsgestaltung.

© links-netz Oktober 2018