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(K)eine Opposition?!

Eva-Maria Krampe

„Weg mit Schröder!“ So forderten die Leute vom Linksruck in der Innenstadt. Mit großer Besetzung am Infostand und mit Megaphon ausgestattete Sprecher versuchten die Passantinnen in der Einkaufszone aufzurütteln, indem sie lauthals Kanzler Schröder beschuldigten, den Sozialabbau so drastisch und umfassend durchgezogen zu haben und weiter durchzuziehen wie kaum ein anderer. Deshalb müsse er weg. Geradezu kindlich reklamierte der junge Mann mit den Megaphon immer wieder, dass Schröder doch Sozialdemokrat sei, bedauerte offenbar zutiefst, dass ausgerechnet ein Sozialdemokrat die Schutzrechte der ArbeitnehmerInnen demontiere. So what? Die Passantinnen jedenfalls blieben ungerührt.

An demselben Tag entnahm man den Medien, dass der DGB ein Jahr nach der Verabschiedung der Agenda 2010 diese als Fiasko bezeichnete, mit der keine Arbeitsplätze geschaffen worden seien, sondern die allein zur Schlechterstellung der Bevölkerung beigetragen habe. Wohl ein etwas selbst vergessener Kommentar, hatte der DGB doch selbst der Agenda zugestimmt, nachdem angeblich die dicksten Brocken herausgenommen waren. Die Menschen haben jetzt laut DGB restlos das Vertrauen in die Politik und das verloren, was sie immerzu verheiße, nämlich durch den Abbau von Sozialleistungen Arbeitsplätze zu schaffen. Kein Wunder, so die Stimme des DGB, dass die Inlandskonjunktur nicht in Schwung komme, wenn doch den Menschen der Glaube fehle. Michael Sommer, der DGB-Chef, setzte noch, sich auf den Wechsel in den SPD-Spitzengremien beziehend, hinzu, dass es mit einem Austausch von Personen nicht getan sein, es müsse einen Politikwechsel geben. Schon am folgenden Tag jedoch sprach er sich gegen die Gründung einer neuen Partei aus den Reihen linker SPD- und Gewerkschaftsmitglieder aus – also doch keine neue Politik?! Und was treibt die, die zu einer Neugründung aufrufen: Soll hier wirklich etwas Neues entstehen oder geht es nur darum, sich innerhalb von SPD und Gewerkschaften ein wenig besser zu positionieren?

Gleichzeitig fordern der BDI und sein Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten, dass die Reformen dringend weiter gehen müssten, dass bisher erst ein allererster Anfang getan sei und nur durch einen noch weiter gehenden Abbau aller sozialen Leistungen neue Arbeitsplätze entstehen könnten. Die Absurdität dieser Behauptungen wird auch nicht dadurch verringert, dass sie pausenlos auch von den Medien wiederholt werden. Allerdings wird das Szenario, das vor unseren Augen entsteht, wenn man alle Maßnahmen, die mittlerweile verabschiedet sind und die, die noch die Warteschleife durchlaufen, zusammen betrachtet, auch ohne mediale Hilfe schnell deutlich. Man kann wohl nur noch von der sozialpolitischen Dritt-Weltisierung Westeuropas sprechen.

Der Standortvorteil, den eine korporatistisch befriedete und wohlfahrtsstaatlich abgesicherte Konsumgesellschaft wie die in der BRD, für das internationale Kapital darbot, ist in dieser Weise nicht mehr gefragt. Soziale Kämpfe oder auch nur bemerkenswerter Widerstand, das haben die letzten Jahre gezeigt, gibt es nicht mehr. Das hat zum einen mit dem zu tun, was in den vergangenen Jahren unter der These der Gouvernementalität hervorragend beschrieben wird. Zum anderen hat es noch andere Ursachen, nämliche solche, die sich unmittelbar aus dem Verlust von Arbeitsplatz und/oder Reduzierung des Einkommens, der Konsumeinschränkung und damit verbundener verminderter Partizipation an politischen Prozessen ergeben. Die Bewältigung der sozialen Deklassierung und der Verarmung ist längst privatisiert; Potenziale von Aufmüpfigkeit werden dadurch absorbiert, dass man sich irgendwie durchbringen muss, durch Schwarzarbeit, diverse Minijobs, durch vielfältigen Betrug und Hintergehung, z.B. bei der Angabe von Einkommen sowohl gegenüber der Agentur für Arbeitslosigkeit als auch gegenüber den Finanzämtern, durch die staatlich erzwungene und nachzuweisende Anzahl von Bewerbungen für nicht existierende Jobs oder solche, für die man entweder nicht qualifiziert oder aber zu alt ist, und durch die Teilnahme am lebenslangen Lernen in Form von überteuerten und ineffektiven Fortbildungen, die einen für Jobs qualifizieren, die es seit 10 Jahren nicht mehr gibt. Nicht zuletzt sollte man die Energie und Zeit in Betracht ziehen, die benötigt werden, um die eigene, auch engste Umwelt darüber hinwegzutäuschen, in welcher Lage man sich tatsächlich befindet. Das ist nicht nur zeitaufwendig, sondern auch mit enormen Kosten verbunden, die wiederum irgendwie aufgebracht werden müssen. Daneben und darüber hinaus ist noch ein Quantum an bürgerinnenschaftlichem Engagement abzuleisten, das sich hauptsächlich auf die eigene Familie bezieht und vorwiegend von Frauen ausgeführt wird. Die Rede ist von der Versorgung von Kindern, Kranken, Behinderten und älteren Menschen, die außerhalb der Familie immer unbezahlbarer wird. Ja, und dass die, die noch alles zu verlieren haben bzw. die, die schon ein kleines bisschen verloren haben, ihre ganze Kraft und Zeit darin investieren, nicht (noch mehr) zu verlieren oder Verluste zu kompensieren, jedem Protest geschweige denn Widerstand fern bleiben, muss nicht erwähnt werden – vor allen Dingen in Zeiten, in denen jede Berührung mit kritischen Positionen die Nähe zum Terrorismus zu implizieren scheint.

Denn wenn alles andere nicht ausreicht, die Menschen vom Nachdenken über und Protestieren gegen ökonomische und soziale Deprivation abzuhalten, so wirkt ein uraltes Rezept, nämlich das der Angstmache und Kanalisierung der Aufmerksamkeit. In schöner Eintracht verbünden sich globale und lokale PolitkerInnen mit ebensolchen TerroristInnen, um eine Atmosphäre permanenter Angst und Bedrohung zu erzeugen. Eindeutig identifizierbare Feinde sind etwas Schönes und Nutzbringendes für alle Beteiligten, verhindern sie doch jedwede Art von kritischer Reflexion der tatsächlichen Verhältnisse. So bombt, überwacht und bekriegt man sich weltweit gegenseitig, und erzeugt ein Klima der Angst, verlangt ständig und immer das Bekenntnis zu einer Seite und schiebt alle ohne solch ein klares Bekenntnis in das jeweils feindliche Lager. Wer wagt es da noch, etwas zu sagen?

Dennoch und nichtsdestotrotz gibt es ab und zu kleinere oder auch größere, immer jedoch nur punktuell aufflackernde Proteste, die aus dem Umkreis selbstorganisierter Gruppen und NGOs hervorgehen. Leider werden sie sofort zum Objekt der Begierde größerer Organisationen unserer sog. Zivilgesellschaft und fallen diesen, die über Geld und Infrastrukturen verfügen, nur allzu schnell zum Opfer. Deren erstes und oberstes Ziel ist es nicht, Protest und Widerstand voranzutreiben, zu perpetuieren und zu einer politischen Kraft zu machen. Sie instrumentalisieren jede Kritik sofort und unumgänglich für die eigenen Ambitionen, an der ganz großen Politik beteiligt zu werden, was sie entweder schon lange nicht mehr sind oder noch nie waren. Voraussetzung dafür ist es, solche Proteste unter Kontrolle zu halten und zu kanalisieren, d.h. sie nach Belieben an- und abschalten zu können. Das ist logischer Weise das Ende jeden Protests.

Angesichts solcher Konstellationen braucht es keine weitere staatliche Regulierung zur sozialen Befriedung als die Desavouierung, und wenn das nicht ausreicht die Delegitimierung jeglicher Kritik, die in diesem Lande nun schon eine so lange Tradition hat. Rücksichtnahme auf demokratische Prozesse, das Aushandeln von Kompromissen nicht nur zwischen den Mächtigen oder auch die Legitimierung von Politik sind auf Scheinauseinandersetzungen in Talkshows herabgesunken.

Doch je schneller und brutaler das neoliberale Projekt vorangetrieben wird, das durch kein Wählervotum mehr aufhaltbar oder modifizierbar wird, desto wichtiger erscheint die Frage, wie man sich dem zur Wehr setzen kann. Wählen, wie seit langem bekannt bringt es nicht oder weniger denn je. Zum einen ist es mittlerweile wirklich vollkommen egal, für wen man sein Stimmchen abgibt, alle Parteien arbeiten am selben Projekt und die Sache mit dem kleineren Übel ist selbst als Anekdote geschmacklos geworden. Auch das Nichtwählen erübrigt sich angesichts der Tatsache, dass Regierungen nach US-amerikanischem Vorbild sich auch dann als legitimiert betrachten, wenn weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten an einer Wahl teilgenommen haben und sich ihre Mehrheit dann real auf 20 % der wahlberechtigten Bevölkerung bezieht. Der Hauch von Opposition den die PDS vor einigen Jahren noch durchscheinen ließ und der so manche Wählerstimme anlockte, ist verflogen. Was also kann man denn überhaupt noch tun? Der kleine schweigende individualisierte Protest, der darin besteht, dass man sich angesichts der Wiedereinführung der 40-Stunden-Woche nach erweiterten Pausenmöglichkeiten umsieht, dass man sich seine Medikamente jetzt per Internet im Ausland besorgt, zum systematischen Schwarzfahren zurückgekehrt ist oder als Ich-AG ein Fortbildungszentrum für Arbeitslose gründet oder Schulungen für Studierende anbietet, in denen sie sich zu ManagerInnen von Studienguthaben qualifizieren können, ist sicherlich liebenswert und demonstriert in der Summe schon so etwas wie einen sich verbreiternden, wenngleich wenig politisch begründeten Anarchismus. Doch ist es damit getan?

Die kontinuierliche Schwächung sog. zivilgesellschaftlicher Institutionen, die im übrigen im umgekehrt reziproken Verhältnis zu ihrer ständigen Beschwörung durch die PolitikerInnen und ihnen nahestehenden Intellektuellen von eben denselben betrieben wurde, hat niemanden zu besorgter Mahnung veranlasst. Genauso wenig führt die massenhafte Verbreitung von Korruption, Steuerhinterziehung und Umgehung staatlich verordneter Regularien dazu, dass das System, das dieses Verhalten herausfordert bzw. hervorbringt, in Frage gestellt wird. Außer den vielen, die aus diesem System hinauskatapultiert werden, Kranke, Alte, MigrantInnen, Arbeitslose, Frauen etc., und die sich meistens bemühen, das nicht auffällig werden zu lassen, scheint niemand mehr ein Interesse zu haben oder falls doch, dieses zu bekunden, eine Politik, eine Regierung, „staatstragende“ Parteien und Organisationen in Frage zu stellen und ihre Vorherrschaft zu beenden. Zumindest dringen Widerstand und Protest längst nicht mehr so an die Öffentlichkeit, dass sie sich verbreitern könnten. Die Versuche ernsthaften Protests, wie sie sich gerade im Spektrum der Vorbereitungsgruppen für die Sozialforen zeigten, gehen dann schnell unter im Geschrei der Großen oder solcher spektakulären Parteibildungsinitiativen, wie sie jetzt aus linken SPD- und Gewerkschaftskreisen hervorgehen. Solche Versuche, die vornehmlich darauf gerichtet sind, das bestehende Parteiensystem in seiner ganzen Unzulänglichkeit zu perpetuieren, nur um selbst wieder daran partizipieren zu können, behindern jede Art wirklicher Opposition.

Dennoch müsste es eine solche geben! Nur wie sie gestaltet werden könnte und was eine Gruppe wie z.B. das links-netz dazu beitragen könnte, lässt sich kaum beantworten. Kann man gegen jede Erfahrung und jedes Wissen eine bestehende Partei oder eine Gründungsinitiative unterstützen, und zwar öffentlich? Ist es möglich oder wahrscheinlich, jenseits von Großorganisationen eine Assoziation kleiner zu vielen verschiedenen Themen arbeitender Gruppen zu betreiben? Wie weit können die vorhandenen Infrastrukturen kleiner und kleinster Gruppen und Redaktionen überhaupt aktiviert werden, ohne gleich als die ewig Gestrigen verlacht zu werden? Es geht hier aber auch gar nicht um die Organisationsfrage, sondern viel mehr darum, ob und wie man sich bewegen sollte oder könnte. Wenn es immerhin zu gelingen scheint, eine doch weitgreifende und andauernde Diskussion um sozialpolitische Fragestellungen auszulösen, sollte man dann nicht versuchen, politische Kontakte auch so zu aktivieren, dass man dem Berliner Treiben aktiv etwas entgegensetzen kann?! Gegenwärtig lassen sich weder Empfehlungen noch Lösungen ausmachen, aber eine Diskussion müsste immerhin in Gang zu bringen sein.

Das links-netz sieht in der Wahl eines Superbundespräsidenten einen Anknüpfungspunkt für eine solche Debatte, die etwas weitere Kreise ziehen könnte, wenn sie ausreichende Unterstützung findet. Denn die Auseinandersetzung um den Spitzenkandidaten für das Amt des Bundespräsidenten, der es als Chef des IWF geschafft hat, zumindest eine nationale Ökonomie (die Argentiniens) in den Konkurs zu treiben und der nicht müde wird, zu proklamieren, dass jedes Opfer recht ist, wenn es dem Kapital nutzt, bietet einen Anlass, den neoliberalen Wahnsinn publizistisch zu thematisieren.

© links-netz März 2004