Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Rezensionen Übersicht

 

  Nur Text    rtf-Datei    pdf-Datei 

Ein Roman über Flüchtlinge wie die Musik von Bach

Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen

Christine Resch

„Vielleicht hört er deswegen so gern Bach, weil es bei Bach keine Oberfläche gibt, sondern viele Erzählungen, die sich überkreuzen. Sich überkreuzen, sich überkreuzen – in jedem Moment, und aus all diesen Kreuzungen ist das Ding gemacht, das bei Bach Musik heißt.“ (Erpenbeck 2015: 43)

Es sei dahingestellt, ob der Protagonist Richard in Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen die Musik von Bach überzeugend interpretiert. Ich will diese Beurteilung Kompetenteren überlassen. In jedem Fall reflektiert die Autorin in diesem Zitat die Form, die sie ihrem Roman gibt. Es handelt sich um einen Roman über den Alltag von Richard, einem emeritierten Professor für Alte Philologie, in dem sich „in jedem Moment“ viele Erzählungen überkreuzen, „und aus all diesen Kreuzungen ist das Ding gemacht“, das bei Erpenbeck Roman heißt. Richard, verwitwet, von einer jüngeren Geliebten verlassen, denkt nach, nicht zuletzt über Zeit und wie viel ihm wohl noch bleibt; sieht fern; liest die Zeitung; erledigt Einkäufe; telefoniert und trifft sich mit Freunden. Von seinem Schreibtisch aus blickt er auf einen See, der in diesem Sommer vereinsamt ist. Jemand ist ertrunken, die Leiche wurde noch nicht gefunden. Der Tote im See „taucht“ in den Gedanken Richards häufig „auf“, es wird der See bleiben, in dem einer gestorben ist.

Seine zum Teil spießig anmutenden Routinen, seine Beobachtungen, seine Gedanken treffen in Momentaufnahmen auf Ereignisse, die im Fernsehen gezeigt werden; auf Gespräche, die er zufällig mithört; auf Überlegungen, was diejenigen, die ihn beobachten wohl von ihm denken mögen. In diese Momentaufnahmen eingebaut ist die (deutsche) Geschichte des 20. Jahrhunderts. Richard, Ostberliner, der seine Stadt nach der Wiedervereinigung immer noch nicht gut kennt, dessen Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg von Schlesien übersiedeln mussten und dabei das Baby, Richard, fast verloren hätten. Nach dem Krieg fragen konnte das Kind seinen Vater nie, weil auch die Mutter daran mitarbeitet, das zu unterbinden. In diese Momentaufnahmen eingebaut ist die Geschichte von Flüchtlingen aus Afrika, mit denen sich Richard anfreundet, um die er sich kümmert.

Berlin, Alexanderplatz: Eine Gruppe von zehn Männern ist in den Hungerstreik getreten. Ihre Hautfarbe ist schwarz. Sie wollen Arbeit und sie schweigen. Sie verweigern auch der Polizei jede Auskunft darüber, wer sie sind: „Wir müssen prüfen, ob ihr wirklich in Not seid, sagen die andern. Die Männer schweigen.“ (Auszug aus dem Klappentext und Seite 18) Sie wollen mit dieser Aktion erreichen, sichtbar zu werden. Es gibt Leute, die sich mit der Aktion solidarisieren; eine junge Frau, die darüber berichten will und hofft, dass etwas passiert, dass endlich einer ins Krankenhaus kommt und künstlich ernährt wird, weil ihr sonst keiner die Geschichte abkauft. Niemand hat einen Namen, alle werden nur mit ihren (berufsbedingten) Handlungen charakterisiert. Richard ist zufällig an diesem Ort, übersieht den Protest aber, erfährt erst in den Nachrichten davon. Er besucht dann eine Veranstaltung in einer von Flüchtlingen besetzten Schule in Kreuzberg. Alle, die Flüchtlinge sowie die Anwohner, stellen sich vor. Ein Knall im Treppenhaus, nichts ist passiert, aber einen Moment lang hätte der Knall alles indizieren können: von einem Anschlag durch die Rechten bis zu einem dummen Streich. Richard hat Angst, will seinen Namen nicht sagen, denkt an die schweigenden Männer, und geht vorzeitig wieder. Dass er über Afrika nichts weiß, veranlasst ihn nachzulesen: Hauptstädte, Kultur, wieder deutsche Geschichte – Kolonialismus und willkürlich gezogene Grenzen. Dazu kommen Kindheitserinnerungen an rassistische Bücher, deren Verbot dazu geführt hat, dass sie antiquarisch hohe Preise erzielen. Richard denkt öfter: „Indirekt sind die Wirkungen, nicht direkt“ und andere als die beabsichtigten. Er besucht ein Flüchtlingszeltlager auf dem Oranienplatz, hört wie eine Sympathisantin sagt, dass sie eine Demonstration organisieren, wenn es schwierig wird, die Zeit zu vertreiben. (Eine Demonstration, die die Flüchtlinge selbst organisieren, wird später unter dem Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ stattfinden.) Richard beschließt, mit den Flüchtlingen zu reden. Tage vergehen, der Alltag, die Ausarbeitung eines Frageleitfadens, ... Als er wieder an den Platz kommt, ist dieser geräumt, die Flüchtlinge wurden in einem unbewohnten und baufälligen Altersheim in der Nähe seines Wohnortes in der Vorstadt von Berlin untergebracht. Richard besucht sie dort regelmäßig, lädt einige zu sich nach Hause ein. Als die Flüchtlinge nach Spandau umgesiedelt werden, fährt Richard dorthin, schließlich, als ihr Status geklärt ist, wird er sich daran beteiligen, sie privat unterzubringen und zu verstecken.

Bei einem der Besuche im Altenheim versteht man dann auch den Buchtitel. Ein junger Mann, der so aussieht wie Richard sich Apoll immer vorgestellt hat, lernt deutsche Vokabeln, hinter seinem Kopf an der Wand hängt eine Liste mit unregelmäßigen Verben: gehen, ging, gegangen. (65)

Die Flüchtlinge erzählen Richard ihr Leben. Im Unterschied zur Psychologin, der Betreuerin oder dem Heimleiter haben sie eine Geschichte und einen Namen: Raschid, Awad, ... Osarobo wird bei Richard zu Hause Klavier spielen, vielleicht war er es auch, der bei ihm eingebrochen ist als Richard einmal für einen Vortrag verreist war. Richard und wir erfahren es nicht mit Gewissheit. Rufu liest in seiner Bibliothek Dante, Karon wird er, damit seine Familie in Ghana nicht verhungert, dort ein Grundstück schenken. Bei der Transaktion, die eigentlich ganz einfach, aber für europäische Verhältnisse ungewöhnlich ist, braucht Richard Karons Hilfe.

In den Gesprächen geht es nicht nur, aber auch um Leben und Tod. Awad fragt (rhetorisch): „Ist es nicht so, ...dass jeder Mensch ein paar Jahre zum Leben hat und dann stirbt?“ Und weiter:

„Aber Richard, was soll man essen? Richard hat Foucault gelesen und Baudrillard und auch Hegel und Nietzsche. Aber was man essen soll, wenn man kein Geld hat, um sich Essen zu kaufen, weiß er auch nicht.“ (81)

Im nächsten Abschnitt wird das von einem Catering-Service gelieferte Buffet auf dem Geburtstagfest seines Freundes Detlef ausführlich beschrieben. Die Erfahrungen der afrikanischen Flüchtlinge kontrastieren mit denen von Richard, und mit literarischen Bearbeitungen, an die Richard denkt: Goethes Iphigenie, Emigrantin auf Tauris. Er kann sich die afrikanischen Namen nicht merken, also nennt er sie in seinen Notizen Tristan oder Apoll: „Dann kennt er sich auch später noch aus.“ (84) Eines von Richards Spezial- und Lieblingsgebieten ist die Odyssee – erzählt wird die Episode mit den Zyklopen, in der Odysseus bekanntlich das Wortspiel mit „Niemand“ als Synonym für seinen Namen und als Gelegenheit für seine Flucht benutzt. Ovids Metamorphosen kommen vor (in denen die Geschichte der Flucht von Daedalus und Ikarus erzählt wird). Aus Jenny Erpenbecks Roman erfahren wir nicht, was in Ungarn, Österreich, Deutschland, in Frankreich und England gerade geschieht, nicht, was passiert, wenn Grenzen dichtgemacht werden. Das wäre auch ein unangemessener Anspruch – wir lesen, und das betont der Text, Belletristik.

Auf seine Fragen bekommt Richard Antwort „und weiß trotzdem nicht weiter“ (69), so wie er unterstellt, dass die Flüchtlinge nicht wissen würden, was die Volkssolidarität, die Deutsch-Sowjetische Freundschaft oder wer Hitler war. In den Gesprächen wird sich zeigen, wie Recht er hat und wie unpassend es ihm vorkommt, ihnen von den „Kriegswirren“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa zu erzählen.

Richard beschäftigt sich mit dem Asylrecht und begreift, dass die innereuropäische Diskussion nicht das Geringste mit dem wirklichen Krieg zu tun hat, den die Flüchtlinge hinter sich lassen wollen. „Einen Moment lang stellt Richard sich vor, jemand würde ihm auf Arabisch diese Gesetze erklären.“ (87) Deutsche Bürokratie und EU-Recht: Zuständigkeiten werden geklärt. Ein paar Buchstaben auf Amtspapier versetzen Ithemba, der Unglaubliches hinter sich hat, in Schrecken. (303) Die meisten dieser „Zugvögel“, genauer: so nennt sie jedenfalls Erpenbeck in Anspielung auf ein Kinderlied, „Amsel, Drossel, Fink oder Star“, die in Deutschland leben und arbeiten wollen, sind über Italien eingereist. Blöd gelaufen. Schon als Richard mit den Fortgeschrittenen einen Konversationskurs macht, hat er das kapiert, wie die folgende Episode zeigt. Er bringt Yussuf bei, wie das „ä“ ausgesprochen wird:

„Ich bin Yussuf aus Mali und habe in Italien als: T e l l e r w ä s c h e r gearbeitet! ... Die Aussprache ist perfekt. Der Satz ist perfekt. Als Satz. Als Aussage ist er, ganz sicher, Yussufs Verhängnis. Soviel hat Richard schon von den europäischen und deutschen Gesetzen verstanden.“ (155)

Zunehmend werden Richard und mit ihm die Leser/innen darauf zurückgeworfen, was es bedeutet „Alt“-Europäer/innen zu sein: Kolonialismus, Nationalsozialismus, real-existierender Sozialismus, Wohlstand; Ordnung, Bürokratie, ... und darauf, wie sich die Europäer die Welt so zurechtlegen. Richard beschäftigt sich mit den Kulturen der Flüchtlinge, er liest und stellt fest, dass die Griechen von den Männern dieses Berbervolks gelernt haben, einen Streitwagen zu lenken, und von deren Frauen die Poesie:

„Vieles von dem, was Richard an diesem Novembertag, einige Wochen nach seiner Emeritierung, liest, hat er beinahe sein ganzes Leben über gewusst, aber erst heute, durch den kleinen Anteil an Wissen, der ihm nun zufliegt, mischt sich wieder alles anders und neu. Wie oft wohl muss einer das, was er weiß, noch einmal lernen, wieder und wieder entdecken, wie viele Verkleidungen abreißen, bis er die Dinge wirklich versteht bis auf die Knochen? Reicht überhaupt eine Lebenszeit dafür aus? Seine – oder die eines andern?“ (177)

Arbeit und (Lebens-)Zeit (und die Liebe), das sind für die Flüchtlinge aus Afrika wie für die alten Europäer die existentialistischen Fragen. Für Richard hat ein Satz aus der Zauberflöte immer umfassend erklärt, was es über die Unterschiede zwischen den Hautfarben zu sagen gibt: „Es gibt schwarze Vögel, warum nicht auch schwarze Menschen.“ (289) Diese Erkenntnis teilen nicht alle: In Kommentaren zu Zeitungsartikeln, in Gesprächen mit vermeintlichen Freunden, als Gemurmel auf der Straße bei Protestaktionen zeigt sich das rassistische Deutschland. Anlässlich einer Konfrontation zwischen der Polizei und den Flüchtlingen denkt Richard über Grenzziehungen nach:

„Waren auch diese beiden Gruppen von Menschen, die sich hier gegenüberstanden, so etwas wie die zwei Hälften eines Universums, die eigentlich zusammengehörten, und deren Trennung dennoch unüberwindlich war? War der Graben zwischen ihnen tatsächlich bodenlos tief und entfesselte deshalb so heftige Turbulenzen? Und verlief er zwischen Schwarz und Weiß? Oder zwischen Arm und Reich? Oder zwischen Fremd und Freund? Oder zwischen denen, deren Väter nicht mehr am Leben waren, und denen, deren Väter noch lebten? Oder zwischen denen mit den geringelten Haaren und denen mit glatten?“ (259f)

Dieser Fragenkatalog setzt sich noch eine weitere halbe Seite lang fort. Richard kommt zu dem Ergebnis, dass es nur um ein absurdes Missverständnis handeln kann, schließlich „geht es nur um ein paar Pigmente in dem Material, das von allen Menschen in der jeweiligen Sprache Haut genannt wird“. (260f)

Richard fungiert, wie schon im eingangs zitierten Vergleich zwischen dem Roman und Bachs Musik deutlich geworden sein sollte, als Repräsentanz der Autorin. Immer wieder reflektiert Richard auf Sprache. Dass es zwar einen Lebensabend, aber keine Lebensnacht gibt oder dass man in seiner Kindheit noch „Negerliteratur“ gesagt hat, sind zwei willkürlich aus unzähligen möglichen Beispielen ausgewählte. In einen Gedanken Richards verpackt, reflektiert die Autorin auf das Schreiben: „..., aber man konnte auch danach fragen, wie sich das, was ein Autor selbst nicht von sich wusste, in seinen Text einschrieb. Und wer überhaupt war in diesen Passagen der Sprecher?“ (100) Vielleicht die Flüchtlinge, bei denen sich Jenny Erpenbeck für die Gespräche, die sie mit ihr geführt haben, bedankt?

Die permanente Gegenüberstellung von Richards Alltag und den Geschichten von Krieg, Tod, Flucht und Hunger, die ihm die Flüchtlinge erzählen, machen aus dem Buch einen hochreflektierten Roman. Erzählt wird in der dritten Person. Die dritte Person verweist nicht nur auf den allwissenden Erzähler im Hintergrund, sie ist auch und vor allen Dingen die Leserrepräsentanz im Text: Richard, das sind „wir“, die Leser/innen. Die Leser/innen werden damit konfrontiert, dass sie wohlbehütet und gemütlich auf einer Couch sitzen und lesen, Geschichten lesen, die keine Haltung von emotionaler Überwältigung erzeugen, eher stille Traurigkeit hervorrufen. Das ist auch stilistisch brillant eingesetzten Wiederholungen geschuldet, die Langsamkeit und damit Empathie (aber keinerlei verlogene Identifikation oder geborgtes Mitleid) nahelegen. (Eine Ausnahme stellt nur der „zweite“ Schluss, ab Seite 327 dar: happy-end, kulturindustrieller Kitsch). Auch die Geschichten fangen an sich zu wiederholen: „Einige von den Satzfetzen, die Richard jetzt hört, kennt er schon“ (238), zugleich gehört jeder Satzfetzen zu einem individuellen Schicksal. In diesem Buch gibt es keinen „body count“, bis in alle Einzelheiten und die alltäglichsten Handlungen hinein, haben wir es mit Individuen zu tun: Raschid begleitet Richard zum Abschied immer zu Tür, egal wie fruchtbar die Nachrichten seine persönliche Situation betreffend gerade sind. (212f) Mit Freud gesprochen, ist es die Haltung von „gleichschwebender Aufmerksamkeit“, die den Leser/innen nahegelegt wird. Jedes Detail ist gleich wichtig.

Der Roman ist – wie die Musik von Bach – durchkomponiert.

Dass das Thema Flüchtlingspolitik (meistens als „Flüchtlingsdrama“ bezeichnet, das Europa spaltet, wie die Bildzeitung am 15.9.2015 titelte – und nicht etwa auf die Traumata der Fliehenden verweist) kulturindustriell so dominant ist als der Roman erscheint, konnte Jenny Erpenbeck nicht ahnen. In dieser Situation mag das Buch manchen vorkommen wie eine (zu) schöne Utopie, aber zwischen den mitleidsheischenden und gefühlsduseligen Reportagen über das zivilgesellschaftliche Engagement und der kaltschnäuzigen Berichterstattung über politische Regelungen und Gesetze, gelingt Jenny Erpenbeck eine Perspektive, die es verdient, Aufklärung genannt zu werden: Erziehung der Gefühle und Kultivierung der Vernunft.

Fehlt noch ein abschließender Satz, den ich Raschid überlasse:

„Die wollen uns hier wirklich nicht haben.“

Jenny Erpenbeck (2015) Gehen, ging, gegangen. München: Albrecht Knaus Verlag

© links-netz Oktober 2015