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Spricht jetzt die Tat?
Zur Veränderung der sozialen Proteste
Christa Sonnenfeld
Die Hoffnung auf immer wiederkehrende, massenhafte Proteste gegen die „Sozialreformen“ hat sich vorerst und vielleicht auf Dauer verflüchtigt. Offen und, ohne sich etwas vorzumachen war diese vorläufige Bilanz vor kurzem in Berlin diskutiert worden, verbunden mit der – zunächst ergebnislosen – Suche nach anderen Protestformen. Nicht nur die Mobilisierungsbereitschaft der breiten Bevölkerung bleibe aus, sondern auch die Ideen, wie man wirkungsvoll seinen Unmut artikulieren könnte (taz, 19.11.04).
Die Ratlosigkeit ist deshalb auch Ausdruck des Unverständnisses darüber, dass Menschen, die von den „Reformen“ unmittelbar in ihrer Existenz betroffen sind, schweigen bzw. aus der Öffentlichkeit verschwunden zu sein scheinen.
Demütigende Erfahrungen werden aber weiter gemacht, die persönliche Würde wird verletzt, auch wenn es sich nicht nach außen artikuliert. Jeden Morgen, wenn man eine der großen Tageszeitungen aufschlägt, erfährt man in Berichten und Kommentaren, dass die „Reformen“ weiter vorangetrieben werden müssten, dass dies erst der Anfang sei, dass die Erwerbslosen nicht mobil seien etc.. Das bedeutet, dass die fast lückenlose Berichterstattung den Betroffenen Tag für Tag vor Augen führt, dass sie weniger wert sind, dass man über sie bedingungslos verfügt und dass dies herrschender Konsens ist. Der Kreis derjenigen, deren Selbstachtung verletzt wird, reicht natürlich über die Erwerbslosen hinaus: Es sind die BewohnerInnen der Alten- und Behindertenheime, die sich zwischen Friseur und Praxisgebühr entscheiden müssen, es sind die Familien mit Kindern, die obsessiv dem Konsumwahn ausgeliefert sind, um konkurrenzfähig zu bleiben und es sind die Jugendlichen, die man auf Lohnarbeit fixiert hat und die zukünftig nur noch Lebensmittelgutscheine erhalten, wenn sie irgendeine Arbeit verweigern. Demütigung paart sich mit dem Gefühl der Ohnmacht und – wie es Avishai Margalit (1999) formuliert – mit Kontrollverlust, weil andere die Kontrolle über die eigenen Lebensperspektiven übernommen haben.
Derartige Demütigungen sind alltägliche Erfahrung vor allem für diejenigen (aber natürlich nicht nur für sie), die auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Und sie lassen sich noch deutlicher veranschaulichen. Kürzlich berichtete eine Teilnehmerin einer Beschäftigungsmaßnahme in Hamburg („Hamburger Arbeitsbeschaffung“ HAB) ein Beispiel, das einem fassungslos werden lässt: eine Wand ist aufgestellt, „da muss einer Fliesen dran kleben, die dann wieder abgehauen werden und dann wieder neue Fliesen dran...Sie haben auch ‚Putzfrauen’. Da haben sie welche aus der Gruppe genommen, die müssen immer wieder denselben Flur putzen. Wenn er sauber ist, kommt eine festangestellte Mitarbeiterin der HAB mit einem Eimer voll ‚Schmierdreck’ und macht den Flur wieder dreckig. Und dann müssen sie wieder von vorne anfangen, diesen Flur zu putzen, acht Stunden am Tag“ (das ganze Protokoll in www.labournet.de).
All das geschieht nur vordergründig aus der Hilflosigkeit heraus, dass keine Arbeit da ist; ermöglicht wird es durch die Gesetzgebung und inhaltlich gefüllt durch vasallisch loyale Beschäftigte. Welche Gefühle steigen dabei auf? Hass, Ohnmacht, Unterwerfung unter das Unvermeintliche, Identifikation mit dem Aggressor?
Gibt es eine Art dem Subjekt innewohnende Instanz, die die Grenzen der Übergriffe von außen markieren? Gibt es überhaupt bei allen Betroffenen das Gefühl, sich zur Wehr setzen zu müssen, um seine Würde zu bewahren, oder ist dieses Empfinden taub geworden? Oder herrscht der Eindruck vor, das aushalten zu müssen, weil man sowieso zu den Ausgeschlossenen gehört?
Margalit zieht aus der Erfahrung beispielsweise erzwungener Arbeit (erzwungen nicht aus Not, sondern als bürokratischer, repressiver Akt) den Schluss: „ Eine der zentralen Merkmale von Demütigung ist der Verlust der menschlichen Autonomie und Kontrollfähigkeit und, weil Menschen, die Zwangsarbeit verrichten, physisch einem fremden Willen unterworfen sind, werden sie auch gedemütigt“ (S. 294). Und, man könnte vor dem Hintergrund der Hamburger Maßnahme hinzufügen, dass der physische Zwang gepaart ist mit Sinnlosigkeit, weil der Sinn nur für die Institutionen gegeben ist: Die Trägergesellschaften verdienen an den zugewiesenen Erwerblosen, und diese werden durch psychischen Druck aus dem Leistungsbezug herausgedrängt. Vor diesem Hintergrund wäre zu untersuchen, wie diese Erfahrungen auf der psychischen Ebene verarbeitet werden.
Die Medien schielten bei den großen Aktionen in Berlin und Nürnberg sowie den Montags-Demos auf die Teilnehmerzahlen; der SPIEGEL machte sich sogar die Mühe, die Vergleichszahlen der Vorwoche jeweils heranzuziehen, um zu belegen, dass es immer weniger Teilnehmer werden. Aber auch wir denken in Mengen; wir zählen durch, rechnen die Angaben der Polizei automatisch hoch und bemessen danach Erfolg oder Misserfolg. Wir achten darauf, ob in der ‚Tagesschau’ für einige Sekunden von der Demo berichtet wird. Kritischer Bezugspunkt bei den Protestveranstaltungen ist dabei immer das politische Handeln der Bundesregierung, die sich aber offenbar nicht als Adressat empfindet. Es interessiert die Machtträger nicht, weil sie und die herrschenden Parteien sich Akzeptanz und Macht durch den Schulterschluss mit den Wirtschaftsverbänden versprechen; ihre Bezugsgröße ist eine ganz andere.
Gleichzeitig schwindet tatsächlich die Zahl derer, die für diese Form der Aktion mobilisierungsbereit sind.
Daraus ergeben sich drei Fragen:
- Ist für einen wirksamen Protest wirklich entscheidend, wie viele Personen sich einfinden? Ist es wirklich von Bedeutung, von den herrschenden Medien wahrgenommen zu werden, die erfahrungsgemäß in der Regel staatstragend-ironisch und in aller Kürze berichten, um sich danach wieder der Hofberichterstattung zuzuwenden?
- Kann emanzipatorischer Protest nicht auch eine andere Gestalt annehmen – und wäre dies in der BRD möglich, in der obrichkeitsstaatliches Denken und Gehorsam für viele wichtige Kategorien ihrer Matrix sind?
- Wo bleibt die Erfahrung der Demütigung, die Grenze der Belastbarkeit? Verhindert eine autoritäre Haltung, dass diese Erfahrung sich überhaupt niederschlägt? Wenn der Unmut darüber nicht mehr auf kollektiven Märschen artikuliert wird, vielleicht, weil der Kollektivgedanke nicht sehr stark repräsentiert ist, über welche psychischen Kanäle wird versucht, sich Luft zu verschaffen? Bleibt die Unterwerfung, das Durchwursteln, oder kommt es zu individuellen sporadischen Explosionen?
Das Phänomen des Schweigens, des Verschwindens aus der Öffentlichkeit hieß noch nie, dass es nicht auch subtile Formen der individuellen Verweigerung, der selbstbewussten Instrumentalisierung behördlicher Praktiken gegeben hat und noch gibt. Seit einigen Monaten aber finden Aktionen statt, die offenbar im Kontext der Hartz IV-Veränderungen stehen, bei denen gewaltförmig zur Tat geschritten wird, so, als sei alles gesagt. Es geht um verschiedene Formen der Anschläge und Angriffe auf verschiedene Arbeitsagenturen, repräsentative Figuren und symbolische Orte. Mit den folgenden Beispielen soll das beschrieben werden, was gegenwärtig auch geschieht, allerdings nicht, um eine politische Bewertung zu geben, die in der Tat noch aussteht. Die Aufzählung ist sicherlich nicht vollständig, kann aber einen Eindruck vermitteln:
14. 10. 2003 Brandstiftungen in den
Arbeitsamtsgebäuden in Berlin-Mitte und –Südwest sowie
Farbbeutelanschlag gegen das Wohnhaus von Peter Hartz („Hartz –
Sozialräuber“) / Bekennerschreiben in allen Fällen: „ABM
– Autonom bestimmte Maßnahme“ und „psa – projekt
subversive aktion“.
26. 11. 2003 Brandanschlag auf das Arbeitsamt
Hildesheim/ Bekennerschreiben: „ABM – Autonom bestimmt
Maßnahme“
03. 01. 2004 Brandanschlag auf Büros des
Deutschen Institus für Wirtschaftsforschung/ Bekennerschreiben: Institut
ist „Denkfabrik und Schulungsschmiede des Kapitals“.
05. 01. 2004 Briefbomben im Europaparlament, u.a.
an den Präsidenten der Europäischen Zentralbank Trichet/ vermutlich
„italienische Anarchistenkreise“, die zuvor bereits mehrere Bomben
an Europapolitiker geschickt hatten.
10. 01. 2004 Ulla Schmidt erhält Droh- und
Schmähbriefe
08. 03. 2004 Handfeste Drohungen gegen Ulla
Schmidt: „Hoffentlich finden sich ein paar Terroristen und schmeißen
ein paar Bomben auf Ihr Ministerium“. Sie erhält weitere
Bodyguards.
28. 04. 2004 Brandsatz mit Zeitzünder im
Arbeitsamt Südwest in Berlin. Im AA Berlin-Mitte wurden Fensterscheiben
eingeschlagen.
29. 04. 2004 Farbbeutelanschlag auf die
Arbeitsagentur Münster
03. 05. 2004 Farbschmierereien an der AA Wetzlar
mit politischen Parolen, bei denen es um Arbeit, Zwang zur Arbeit und den
Sozialstaat ging.
22. 05. 2004 Arbeitsloser Lehrer: Ohrfeige
für Schröder, – Unzufriedenheit mit seiner
Regierungspolitik.
27. 05. 2004 Farbschmierereien an der AA Giessen;
Parolen: „Arbeit abschaffen“ und „Widerstand statt
Wahlen!“
28. 05. 2004 Verurteilung eines arbeitslosen
Stadtplaners, der ein Kilopaket Mehl nach dem niedersächsischen
Ministerpräsidenten Wulff geworfen hatte. Vorwurf: Wulff verschleiere den
neoliberalen Umbau der Gesellschaft, deshalb habe er ihn „einnebeln“
wollen.
10. 07. 2004 Bei drei Schlecker-Märkten in
Frankfurt wurden Scheiben eingeschlagen. Im Bekennerschreiben wird „die
Abschaffung des Kapitalismus“ gefordert. Bereits Anfang Mai seien
Märkte auf gleiche Art beschädigt worden.
15. 07. 2004 Polizeigewerkschaft warnt vor
Übergriffen wegen Hartz IV.
15. 10. 2004 Seit Anfang des Jahres mehrere
Briefbombenanschläge auf Politiker verschiedener Parteien und Diplomaten
(„Briefbomber von Passau“). In einem Umschlag war ein
Zeitungsausschnitt mit dem Bild Schröders samt der Überschrift:
„Die wollen uns noch mehr schröpfen“. Vermutetes Tatmotiv:
„undifferenzierter Hass auf Politiker aller Parteien“ (Unklar,
welcher politische Hintergrund).
29. 10. 2004 Zwei Brandanschläge auf AA und
Jobcenter in Hamburg und Königs Wusterhausen bei Berlin. In Hamburg
verwüstete das Feuer eines der Büros der Sozialabteilung, in der u.a.
die Sozialhilfefälle bearbeitet werden. Dort soll ein Job-Center
eingerichtet werden. Die Polizei schließt politische Motive aus; es handle
sich um die Verdeckung eines Einbruchs.
10. 11. 2004 In Bietigheim-Bissingen
(Bad.-Würt.) fuhr ein 51-jähriger Arbeitsloser mit seinem PKW und
darin befindlicher geöffneter Gasflasche in den Haupteingang der dortigen
Arbeitsagentur; Das Auto explodierte, der Mann verbrannte bis zur
Unkenntlichkeit. Als Motiv für den Selbstmordanschlag vermutet die Polizei
Auseinandersetzungen mit der Agentur wegen des Arbeitslosengeldes.
27. 11. 2004 „Der Briefbomber von
Passau“ beging Selbstmord, nachdem ein Speicheltest bei den
männlichen Bewohnern angekündigt worden war. Der politische
Hintergrund ist weiterhin unklar (s.o.).
27. 11. 2004 Laut SPIEGEL gab es in den
vergangenen Wochen Bombendrohungen gegen Arbeitsagenturen in Wittenberg
(Sachsen), Deggendorf (Bayern), Waiblingen (Bad.-Würt.), Bergen
(Meck.-Pom.), Leipzig (Sachsen) und Stendal (Sachsen-Anhalt). Einen
Brandanschlag gab es in Rathenow (Brandenburg). Ab Januar sollen Streifen und
Kontrollen vor den Ämtern verstärkt werden. Die Arbeitsagentur in
Deggendorf lässt ihre Angestellten beim Bundesgrenzschutz Kurse in
Selbstverteidigung absolvieren.
(Anmerkung der Redaktion: Weitere Meldungen aus dem Jahr 2005 haben wir hier gesammelt)
Bei dem Selbstmordanschlag in Bietigheim-Bissingen gab es die einzige mir bekannte Kommentierung in der Presse. Die „Süddeutsche Zeitung“ verglich diesen Selbstmord u.a. mit dem eines Atomkraftgegners im Jahr 1977 und meinte: „Auch der Tod des 51-jährigen Fernmeldehandwerkers war vollkommen sinnlos. Die Arbeit verschwindet, die Arbeitslosigkeit lässt sich nicht mehr bezahlen, am Ende haben wir eine Reform, mit der alle leben können. Das ist nicht der Atom-Staat, auch nicht der Hartz-IV-Staat, sondern der Lauf der Welt.“ (SZ, 13.11.04). Einem in sich ruhenden Journalisten bleibt nur noch Kopfschütteln.
In den genannten Beispielen artikuliert sich weniger der verbale Protest im Verein mit aufklärendem Bemühen als vielmehr die Gegenwehr durch die Tat. Diese Bewegungen zu interpretieren, steht an, da sie quer zu dem liegen, was sich in den letzten Jahrzehnten als „angemessene“, politisch korrekte Protestform herauskristallisiert hat. Möglich wäre zukünftig, dass auch, wenn das Arbeitslosengeld II eingeführt sein wird und die erzwungenen Ein-Euro-Jobs Realität geworden sind, die großen Proteste ausbleiben, dass sich aber die Gegenwehr artikuliert in individuellen, gewaltförmigen und eruptiven Aktionen, die nicht kalkulierbar sind.
Literatur
Margalit, Avishai, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Frankfurt 1999
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