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„Verbindliche internationale Mindeststandards statt unverbindlicher Lippenbekenntnisse“

Die „Wiener Deklaration“1 – Ein kleiner Kommentar zu einem erstaunlichen Dokument

Heinz Steinert

Am Wochenende des 7.-9. April 06 fand in Wien unter dem Kürzel „EcoFin“ ein Treffen der EU-Finanzminister mit 13 Finanzministern von asiatischen Ländern, den Zentralbankern aus Frankfurt und drei ausgewählten Konzernchefs (VW, Telefonica und Nestlé – letzteren haben wir gerade, eher seltsame Sprechblasen absondernd, in der Schluss-Sequenz von „We Feed the World“ gesehen) unter österreichischem Vorsitz (Finanzminister Karl-Heinz „Traum-Schwiegersohn“ Grasser, leider seit kurzem standesgemäß verheiratet) statt. Man hat nicht viel von Ergebnissen gehört: „Protektionismus schafft Arbeitslose“ war der entscheidende Konsens, wie die Presse am 10.4. zu berichten wusste. „Effektive Maßnahmen“ gegen die Arbeitslosigkeit stehen also für diese Runde ganz vorne auf der Liste dessen, was öffentlich verkündet wird.

In den drei Tagen davor hat, von attac Österreich organisiert, ein „alternativer EcoFin“ getagt. Eröffnungsredner war in einem Festvortrag im Wiener Rathaus Jeremy Rifkin, der in seinem neuesten Buch das europäische Sozialmodell als Vorbild für die USA herumreicht, dann mehr zur Sache Kurt Rothschild und Jörg Huffschmid. Danach wurden vor allem in Arbeitsgruppen mit internationalen Teilnehmern, darunter aus Deutschland Hermann Bömer (Dortmund), Frieder Otto Wolf (Berlin), Elmar Altvater (Berlin), Thomas Sauer (Jena), Birgit Mahnkopf (Berlin), Lydia Krüger (attac), Thorsten Schulte (Düsseldorf), die Alternativen entwickelt. Sie wurden in einer „Wiener Deklaration“ zusammengefasst. Diese „Wiener Deklaration“ wird, wie es am Schluss heißt, unterstützt von

* attac Austria,

* der Arbeiterkammer Wien,

* dem Österreichischen Gewerkschaftsbund und dem

* Renner Institut, der politischen Akademie der SPÖ,

* der deutschen EuroMemorandum Gruppe, die seinerzeit, mit Rudolf Hickel als organisatorischem Zentrum, von der Uni Bremen ihren Ausgangspunkt nahm, und

* ihrem österreichischen Gegenstück, dem „Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen“, einer Ökonomen-Gruppe mit dem schönen Kurznamen „Beigewum“, die zuletzt mit dem nützlichen Buch „Mythen der Ökonomie“ hervorgetreten ist, das an die besten Traditionen der Arbeiter-Bildung anschließt, sowie der

* grünen bildungswerkstatt und dem

* Institut für politökonomische Forschung.

Zwischen den drei zuletzt genannten Einrichtungen gibt es einiges an auch personellen Überschneidungen (Österreich ist ein kleines Land mit einem begrenzten Potential an kritischen Köpfen). De facto sind es daher wohl die deutsche und österreichische Gruppe der jeweils selbsternannten Gegen-Wirtschaftsweisen, der ÖGB (der zur Zeit der Konferenz mit BAWAG-Affäre und Präsidenten-Rücktritt freilich ganz andere Probleme hatte) und die sozialdemokratischen think-tanks, die hier zusammentraten. Ob attac zwischen diesen Kräften eine eigenständige Position behaupten kann oder eigentlich das tut, was vor dem populistischen Abheben der Arbeiter-Parteien deren Sektionen taten, nämlich die „Basis“ und deren Diskussionen organisieren, weiß man nicht so genau.

Die Deklaration setzt mit einem Absatz Krisendiagnose ein, die nach dem Schema „schlechte Nachricht – gute Nachricht“ organisiert ist.

Die schlechte Nachricht:

„Europa befindet sich unzweifelhaft in einer politischen, aber auch ökonomischen Krise.“

Die gute Nachricht:

„Aufgrund der in den letzten Jahren praktizierten Wirtschaftspolitik in der EU kam es zu einer Stagnation der Binnennachfrage und infolgedessen von Wachstum und Beschäftigung.“ Es ist zum Glück nur eine „Stagnation der Binnennachfrage“ aufgrund einer unbedarften Wirtschaftspolitik. Das sollte also leicht reparierbar sein.

Die schlechte Nachricht:

Leider folgt daraus noch mehr: „Die Vermögens- und Einkommensverteilung wurde zunehmend ungleicher. Europa erlebt neue Formen der Prekarisierung und sozialen Polarisierung und entfernt sich immer weiter von ökologischer Nachhaltigkeit.“ Alles das als Ergebnis einer banalen „Stagnation der Binnennachfrage“.

Noch eine schlechte Nachricht:

Aus purer Unbelehrtheit oder sonst unverständlichen Gründen „wird weiter an einer restriktiven, makroökonomischen Politik festgehalten, die allein in Deregulierung und Liberalisierung, der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte sowie dem Abbau der sozialen Sicherungssysteme das Heil sucht.“ An der Binnennachfrage geht das weit vorbei.

Jetzt die wirklich gute Nachricht:

„Zu dieser verfehlten Politik gibt es Alternativen.“

Deren „Eckpunkte ... und konkrete Hauptforderungen“ bilden die fünf Punkte der Wiener Deklaration.

Aber machen wir uns die Diagnose in ihrer ganzen Schönheit noch einmal deutlich:

Da gibt es eine Krise „in den letzten Jahren“, also vielleicht seit 2000?, deren Kern eine „Stagnation der Binnennachfrage“ ist. Sie und alles, was daraus folgt, ist Ergebnis einer törichten Wirtschaftspolitik (die auf ihre eigenen Wirtschaftsweisen hört statt auf die alternativen).

Da gibt es keine Erinnerung daran, wann die Arbeitslosen-Quoten in Europa begannen, sich in zweistellige Bereiche zu bewegen, wann die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse begann und wann der Sozialabbau, nämlich alles in den 1980er Jahren. Es gibt keine Erinnerung an die Politik von Thatcherismus und Reaganomics. Es gibt keine Erinnerung an die Einsicht, dass damals „Fordismus“, der das 20. Jahrhundert und besonders konsum- und vollbeschäftigungs-glücklich für die USA und West-Europa die Nachkriegszeit geprägt hatte, zu Ende ging, dass wir es seit den 1980ern mit dem Umbau auf eine neue Produktionsweise zu tun haben, also mit einem Vorgang von etwas größerem historischem Gewicht als es eine Konjunkturkrise hat.

Dieser verharmlosenden Diagnose entsprechen die vorgeschlagenen „Alternativen“. Man ahnt es schon: Rückkehr zur keynesianischen Wirtschaftspolitik.

1. „Existenzsichernde Vollbeschäftigung“ – Lohnarbeit für alle

Das steht hier tatsächlich in aller Harmlosigkeit: Wir fordern Vollbeschäftigung durch öffentliche Investitionsprogramme. Wir fordern eine stärker koordinierte europäische Wachstums-Politik („expansive, wachstumsorientierte Ausrichtung“). Immerhin fordern wir auch Arbeitszeitverkürzung, „schrittweise“, damit Zeit bleibt, sie mit Rationalisierungen zu beantworten. Dazu wünschen wir uns mehr „Förderung (?) einer demokratischen Diskussionskultur“ und mehr Gender Mainstreaming.

Vergessen ist, dass schon in den späten 1970ern beginnend Wirtschaftspolitiker mit Staunen bis Verbitterung feststellen mussten, wie die Gewinne (samt den staatlichen Förderungen) in Rationalisierungs-Investitionen, also Arbeitsplätze-Abbau umgesetzt wurden, wie Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit sich „entkoppelten“. Daran hat sich nichts geändert, allenfalls zu einer noch stärkeren Entkoppelung. Keynesianische Programme sind zunächst politisch nicht mehr durchzusetzen und, selbst wenn sie es wären, wirtschaftlich nicht wirksam.

Fast schon komisch ist die Appell-Sprache: „Alle in der EU lebenden Menschen sollen eine Lohnarbeit annehmen können, die ihren individuellen Qualifikationen und Bedürfnissen entspricht und ihnen ein Einkommen verschafft, das ein selbständiges Leben ermöglicht.“ Nicht mehr komisch, sondern töricht ist die Reduktion der gesellschaftlichen Arbeit auf Lohnarbeit. Dass wir tatsächlich auf Hausarbeit, Eigenarbeit und freiwillige Arbeit wesentlich mehr angewiesen sind, um zu leben und gar noch gut zu leben, als auf die entfremdete Lohnarbeit, dass die für uns wirklich wichtigen Dienste warenförmig und per Lohnarbeit nicht organisierbar sind, dass umgekehrt in der Organisation durch Lohnarbeit überflüssige, gefährliche, tödliche Waren erzeugt und dabei ökologische Schäden verursacht werden, das ist alles vergessen. Dass historisch das Recht auf Arbeit immer in die Pflicht zur Lohnarbeit (und dann zum Minimal- oder gleich ohne Lohn) verdreht wurde, ist vergessen. (Wie die beteiligten Sozialdemokraten und Grünen mit der Tatsache umgehen, dass in Deutschland in sieben Jahren rot-grüner Regierung die Arbeitslosigkeit von drei auf fünf Millionen hochgefahren wurde und zugleich die Arbeitslosen-Versicherung ihre Leistungen reduzierte, möchte man ohnehin gern wissen.)

2. Soziale Sicherheit – „im Alter oder in sonstigen unglücklichen Umständen“

„Alle in der EU lebenden Menschen haben das unbedingte Recht“ – da ist sie wieder, die komische Appell-Sprache. Sie haben „das unbedingte Recht, vor Armut und materieller Hilflosigkeit ... geschützt zu sein“. Das ist schön, dass sie das Recht haben. Daraus ergibt sich ein nächster Appell: „Armutsbekämpfung und soziale Absicherung ... sind durch effektive Maßnahmen umzusetzen.“ Effektiv sind offenbar „Mindeststandards ... auf höchstem Niveau“, „demokratische Restrukturierung des öffentlichen Dienstes“ und Stopp aller „weiteren Liberalisierungen/Privatisierungen“ (die schon einmal durchgeführten können bestehen bleiben).

Dankenswerterweise ist genau aufgezählt, wodurch „Armut und materielle Hilflosigkeit“ entstehen, nämlich „bei Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Unfall, im Alter oder in sonstigen unglücklichen Umständen“. Armut ist in der Deklaration kein systematisch erzeugter Anteil von kapitalistischem Wirtschaften, sondern die Folge „unglücklicher Umstände“. Daher wird sie auch nicht unter Wirtschaftspolitik abgehandelt, wo sie hingehört. Auch Sozialpolitik richtet sich aber tatsächlich nicht auf „unglückliche Umstände“, deren wichtigster das Fehlen von Lohnarbeit wäre, sondern auf die Infrastruktur für die regelmäßig im Leben auftretenden Phasen größerer oder auch nur punktueller Abhängigkeit von den Leistungen anderer, als da sind: Kindheit und Jugend, Elternschaft, Alter, eingeschränkte Selbständigkeit aller Art (darunter Erwerbslosigkeit). Das sind alles keine „unglücklichen Umstände“, sondern regelmäßig auftretende Ereignisse.2 Bleiben Krankheit und Unfall, die einzig dem Modell „unglückliche Umstände“ entsprechen (wenn man die Korrelation ihres Auftretens mit sozialen Positionen vernachlässigt).

Aber die gesamte Deklaration kennt keine Kinder und keine Eltern, dementsprechend auch keine Fragen von Erziehung und Ausbildung, und Alter nur als „unglücklichen Umstand“. Die Deklaration kennt nur Lohnarbeiter und solche, die das unbedingt sein wollen, darunter besonders Frauen. Anders organisierte Arbeit und Menschen, die sie tun, gibt es nicht.

3. Soziale Gerechtigkeit – die EU als Instrument von Verteilungs-Sozialismus

Man muss den Steuerwettbewerb unterbinden, in der EU ein „gender-sensitives Verteilungs-Monitoring“ etablieren und den EU-Haushalt erhöhen, um „soziale und regionale Ungleichgewichte wirkungsvoller auszugleichen“. Wünschen wird man sich ja noch was dürfen – und Umverteilung ist so viel leichter vorzustellen als die Struktur-Effekte, die von der Wirtschafts-Union tatsächlich ausgehen.

4. Ökologische Nachhaltigkeit – „braucht jetzt effektive Maßnahmen“

Dezentral gewonnene und erneuerbare Energie, Kostenwahrheit im Verkehr, Niedrigenergie-Häuser, und das alles auch in den neuen EU-Staaten: Daran ist nichts falsch, aber auch nichts neu – und es hat offenbar keine Verbindung zu den ersten beiden Punkten.

5. Globalisierung aktiv gestalten – aber bitte ohne Zuwanderungen in die EU

Jemand hat zweimal (in 1. und 2.) die Formulierung „alle in der EU lebenden Menschen“ eingeschmuggelt, also das Recht auf Vollbeschäftigung und Soziale Sicherheit nicht auf EU-Bürger eingeschränkt. Angesichts der Tatsache, dass es aber nicht so leicht ist, zu einem „in der EU lebenden Menschen“ zu werden und ein solcher zu bleiben, ist es bemerkenswert, dass wir die „Globalisierung aktiv gestalten“ wollen, ohne Fragen der Migration überhaupt zu erwähnen. Stattdessen fordern wir mehr Demokratie bei IWF, Weltbank und WTO (nicht etwa deren Ersetzung), die sinnvolle, aber offenbar nicht durchsetzbare Devisenumsatzsteuer (aber keine analoge auf andere Spekulationen), den Abbau von Exportsubventionen der reichen Länder und vor allem: „verbindliche internationale Mindeststandards für Unternehmensverhalten statt unverbindlicher Lippenbekenntnisse zur ‚sozialen Verantwortung der Unternehmen’“. Das ist ein wunderbarer Abschluss der Predigt.

Die Deklaration sollte dem Treffen der Wirtschaftshäuptlinge und Finanzminister vorgelegt werden, aber der vorsitzende österreichische Finanzminister hat die Delegation nicht empfangen und das Papier nicht entgegengenommen. Selbst er, der laut Standard (10.4.) aus seiner Konferenz vor allem bestätigt bekam, „dass Globalisierung uns allen nützt“ (wer zu „uns“ gehört, ließ er offen), hätte daraus nichts Neues gelernt. Aber die Hilflosigkeit, die aus dem Text spricht, hätte ihn freuen müssen.

Anmerkungen

  1. Die „Wiener Deklaration“ der Konferenz „ALTERNATIVER ECOFIN – Wirtschaftspolitik für ein anderes Europa“ findet man im im Netz auf den Seiten von attac und gespiegelt (Stand 10.5.2006) hier im links-netz.Zurück zur Textstelle
  2. Daher sind sie auch nur mit großen Verrenkungen und eigentlich garnicht nach dem Versicherungs-Modell abzusichern: Es gibt keine Versicherung für Ereignisse, die sicher eintreten.Zurück zur Textstelle
© links-netz Mai 2006