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Das Ende der Hoffnung?

Eindrücke aus einem Landstrich am Mittelmeer

Ralf Syring

Vorbemerkung der links-netz-Redaktion (bitte anklicken!)

Von 1995 bis 1999 Vertreter von Medico International in Angola, arbeitend für Opfer von Landminen und demobilisierte Kindersoldaten, davor schon in 1980er Jahren in den mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen unterwegs, in den letzten Jahren in Mosambik und bald als Projektleiter für eine Hilfsorganisation nach Kinshasa umziehend. Der Arzt und Theologe Ralf Syring weiß um die Umstände von Armut, Gewalt und Entwicklung, besonders im afrikanischen Kontext. Als wir ihn Mitte Januar, wenige Tage nach Ende des jüngsten Dreiwochenkrieges, fragten, ob er auf Einladung unserer israelischen Partner, den Physicians for Human Rights, im Rahmen einer internationalen Ärztekommission nach Gaza reisen würde, sagte er uns sofort zu. Für ihn, den welterfahrenen Entwicklungsaktivisten, war diese Delegation mit Ärzten aus Südafrika und den USA etwas besonderes, war es doch sein allererster Aufenthalt in Palästina und Israel.

Diese kalten Augen hatte ich schon gesehen. Eine Filmszene fiel mir wieder ein: Es war eine Wohnung, in der ein Paar sich sicher fühlte. Sie hielten es für den Ort, an dem sie unbeobachtet reden konnten. Doch dann traten einige Herren ein. Einer zerschlug einen Spiegel an der Wand. Dahinter erschien dieses Auge: „Big brother is watching you“. Das war im Film „1984“ nach dem Buch von George Orwell. Hier nun waren die Augen Wirklichkeit. Etwas kleiner als die im imaginären 1984. Sie produzierten dieselbe beklemmende Atmosphäre. Manche hingen an Stangen von Stahlträgern weit oben herab, andere waren in Wände eingelassen. Der Eingang zu diesem Grenzübergang, der „Erez“ (ארץ – „Land“) genannt wird und über den Menschen von Israel in den Gaza-Streifen oder aus dem Gaza-Streifen nach Israel gelangen können, erweckt den Eindruck einer Flughafen-Abfertigungshalle. Doch gleich hinter der Passkontrolle wird diese Wahrnehmung abgelöst von der finstergrauer Räume, tunnelartiger Gänge – unter den kalten Augen des großen Bruders.

Am Ende des Tunnels verwundert es nicht, dass Staub und Trümmer das Bild bestimmen. Wo sonst sollte dieser Weg hinführen? Die letzten großen Bombenangriffe liegen 10 Tage zurück, als ich hier ankomme. Ich weiß nicht, wie es vorher ausgesehen hat. Nach den Landkarten des Büros für die Koordinierung Humanitärer Hilfe (OCHA) der UNO soll es hier kleine und mittelgroße Produktionsbetriebe gegeben haben. Jetzt sehe ich nur Trümmerhaufen – mit Ausnahme eines kleinen containerartigen Schuppens, in dem Pässe kontrolliert werden. Doch daran gehe ich unbehelligt vorbei zu einem Auto, das auf mich wartet.

Dann die Städte: Jabalia und Gaza. Menschen, Autos, Eselskarren. Große Gruppen von Kindern und Jugendlichen. Es ist Schichtwechsel in den Schulen. Da es nicht genug Schulen gibt, hat ein Teil der Schülerinnen und Schüler vormittags, der andere nachmittags Unterricht. Was ich noch nicht sehe: Viele Kinder, besonders kleinere, weigern sich zurzeit, in die Schule zu gehen, weil sie Angst haben. Ein Mädchen, 12 Jahre alt – möge sie hier Dana heißen – lerne ich später kennen. Sie war in der Schule, als nebenan eine Bombe aus einem Flugzeug einschlug. Ihre Schule zitterte, Glasscherben flogen umher. Dana will dort nicht mehr hin. Zu Hause spielt sie mit ihrem achtjährigen Bruder – ich will ihn hier Fatih nennen – nur noch in einer Ecke des Wohnzimmers. Da liegt eine Schaumstoffmatratze. Der Vater erklärt mir, dass sie sich alle – er, die Mutter und die beiden Kinder – während der nächtlichen Bombenangriffe auf dieser Matratze zusammengedrängt haben und versuchten ein wenig zu schlafen. Es ist im 11. Stockwerk und neben dieser Zimmerecke befinden sich die Fahrstuhlschächte. „Da kam es uns am sichersten vor, falls eine Bombe das Haus treffen sollte“, sagt der Vater. Das Haus blieb unversehrt. In der Nacht vom 4. auf den 5. Januar fielen drei Bomben das Nachbargrundstück. Dort befindet sich ein Gesundheitszentrum der „Union der Gesundheitsarbeiter-Komitees“. Drei neue mobile Kliniken, finanziert von der Stadtverwaltung Barcelona, wurden genau getroffen. Vom Fenster des Nachbarn aus kann ich unten die Wracks sehen. Der Nachbar hat die Scheiben, die durch die Explosionen zersplitterten, durch Plastikplanen ersetzt.

Wenn am Dach geklopft wird

Die Bebauung in den Städten ist dicht. Dass mit Bomben sehr genau gezielt werden kann, ist vielfach in Fernsehbildern vorgeführt worden. Die Gebäude, die auf diese Weise exakt getroffen wurden, sind verteilt über Gaza und Jabalia, Rafah und Khan Yunis. Viele waren Polizeistationen, Regierungsstellen, Behörden, Moscheen. Andere waren Wohnblocks. Bei näherem Hinsehen erweist sich die Zielgenauigkeit der Bomben als technische Irreführung. Die Emad Akio Moschee war leer, als die Bomben sie in der Nacht vom 29. zum 30. Dezember zusammenbrechen ließen. Daneben, Wand an Wand mit der Moschee, lag die Wohnung von Anwar Barusha. Sie war nur 40 m² groß, und sie schliefen darin zu elft. Die Wand der genau getroffenen Mosche erschlug und begrub fünf Mädchen im Schlaf: Tihir war 17 Jahre alt – sie wollte nach Abschluss der Schule Medizin studieren, sagt der Vater –, Ekram 15, Samar 13, Dina 8 und Johar 4. Das ist es, was die Militärs „Kollateralschäden“ nennen.

Die Reste des Hauses von Fagiel Nor Mofsalha stehen in einem modernen Wohnviertel. Das obere der beiden Stockwerke neigt sich bedrohlich schräg auf teilweise eingeknickten Betonpfeilern. Wir steigen dennoch die noch begehbare Treppe hinauf. Herr Mofsalha, ein Wächter der UN-Behörde für die palästinensischen Flüchtlinge, zeigt auf einen dunklen Fleck auf einer der Treppenstufen: Blut eines seiner Kinder. Vier seiner Töchter (1 Jahr, 4, 11 und 14 Jahre alt) starben am Nachmittag des 9. Januar, als ein F16-Flugzeug genau dieses Haus bombardierte. Auf der jetzt schrägen Betonplatte des Dachs zeigt mir der Vater ein Loch von etwa 4 cm Durchmesser: Das wurde von einem kleinen Projektil verursacht, das zunächst von einem jener ferngesteuerten unbemannten Flugzeuge abgefeuert wurde, die hier „Zanana“ genannt werden wegen ihres summenden Geräuschs. Den Abwurf dieser kleinen Geschosse nennen die Menschen „Dach-Anklopfen“. Einige sagen, dass es eine Warnung sei, die die Hausbewohner zum Verlassen der getroffenen Gebäude auffordern sollte. Doch dazu, so sagt der Vater, reichte die Zeit zwischen dem „Anklopfen“ und der großen Bombe garnicht, die das Haus zerstörte. Es gibt auch die andere Interpretation, dass es bei dem kleinen Projektil nicht um ein „Anklopfen“ ging, sondern um die Markierung des Objekts als Ziel. Im Erdgeschoß gab es einen Kiosk und kleinen Lebensmittelladen. In einer Ecke unter den Trümmern ist Reis verstreut, Kichererbsen auch, ein paar Zwiebeln sind angewachsen und haben frische grüne Keime. Wer oder was wurde hier angegriffen?

Dilara ist erst zwei Jahre alt. Sie spielte draußen, als in der dritten Woche der Angriffe Phosphorbomben geworfen wurden und ihr Gesicht verbrannten. Ihre Augen blieben erhalten, doch das Gesicht ist entstellt. Während ihre Wunden im Krankenhaus versorgt werden, schreit ein anderes Mädchen im Nebenraum: Aaliyah ist fünf Jahre alt. Die Betäubung, die sie für den Verbandswechsel bekommen hat, hat nicht gereicht. Aaliyahs Rumpf und beide Beine sind eine große Wundfläche. Verbrennung. „Weißer Phosphor“, sagt die Mutter. Das stimmt nicht, wie ich dem Krankenblatt entnehme. Die Mutter hat mitbekommen, dass allerlei ausländische Experten die Folgen der Angriffe untersuchen. Viele suchen nach Hinweisen auf die Verwendung von Waffen, die nach dem Völkerrecht nicht gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden dürfen. Aaliyah aber wurde nicht von einer international geächteten Waffe getroffen. Am Abend des 5. Januar, nach tagelangen Luftangriffen, war wieder einmal der Strom ausgefallen. Aaliyahs Mutter kochte Wasser auf einem Paraffinöl-Kocher, den sie auf einen Hocker gestellt hatte. Ein Hubschrauber flog dicht über das Haus. Aaliyah erschrak und rannte ängstlich in der Dunkelheit zu ihrer Mutter. Dabei warf sie den Hocker um. Das kochende Wasser und Paraffinöl fügten ihr die Verbrennungen zu.

Südlich der Stadt Gaza liegt Al Zeitoun, etwa dort, wo israelische Panzer den Gaza-Streifen während der Angriffe in der Mitte durchschnitten. Der Kadaver-Gestank kommt von Hühnern. In dem Wohngebietes befand sich eine Geflügelfarm mit einigen Gärten. Jetzt gibt es Trümmerhaufen und dazwischen von Kettenfahrzeugen eingeebnete Gebiete. Hier waren Panzer und Bulldozer tätig. Aus einem der Trümmerhaufen ziehen ein paar Männer mit Masken vor Mund und Nase Hunderte von toten Hühnern und fahren sie mit Schubkarren in ein Erdloch. Zwei Zelte wurden aufgebaut. In einem findet die Trauerfeier für die Toten einer Familie statt, die hier wohnte. Zwischen 22 und 29 Kinder, Frauen und Männer dieser Familie – die Zahl kann ich nicht genau ermitteln – sind hier erschossen oder von einem über ihnen zusammenstürzenden Haus erschlagen worden. Im anderen Zelt ist provisorisch der Kindergarten untergebracht, der früher in einem der zerbombten Häuser seine Räume hatte. Zu den Kindern, die dort dazu ermutigt werden zu spielen, gehört die fünfjährige Nara. Es klingt wie ein Sprechgesang, als sie mit versteinert scheinendem Gesicht die Namen ihres Vaters, ihrer Mutter und ihrer vier Geschwister aufzählt, die alle während der Angriffe umgekommen sind.

Teilen und Herrschen

Al Zeitoun war ein Wohngebiet. Es war nicht das einzige, das zerstört wurde. Blickt man von Al Zeitoun nach Norden, sieht man in nicht allzu großer Ferne die hohen Schornsteine eines Kraftwerks in Ashkalon. Das liegt in Israel. Dorthin wurden jene Geschosse gerichtet, die von Israels Regierung und Armee als Rechtfertigung für die Angriffe auf den Gaza-Streifen genannt wurden. Nein, ich möchte auch nicht in Ashkalon wohnen und Angst haben, dass vielleicht doch einmal eines dieser Projektile meine Tochter trifft oder mich. An einigen Tagen im Dezember sollen täglich bis zu 80 solcher Geschosse rund um Ashkalon eingeschlagen sein. Die meisten von ihnen waren improvisierte Metallrohre mit angeschweißten Flossen, gefüllt mit Nägeln, Schrauben oder anderem Material, das sich durch die Explosion in verletzende Waffen verwandelt. Diese „Raketen“, wie sie in der Berichterstattung oft genannt wurden, sollen eine Reichweite von bis zu 20 km haben. Genau zielen kann man mit ihnen nicht. Bis zu 40% der Bewohner von Ashkalon sollen während des Beschusses vorübergehend in andere Orte gegangen sein. Die Bewohner von Al Zeitoun konnten den Angriffen nicht entgehen. Der Gaza-Streifen ist eng, so groß wie das Land Bremen, hat aber fast 1,5 Millionen Einwohner. Diese dürfen das eingemauerte Gebiet nur manchmal verlassen, wenn die südliche Grenze nach Ägypten geöffnet ist und sie einen Grund haben, der dort anerkannt wird. Ich spreche mit vielen, die sich wie in einem Gefängnis fühlen. Wofür werden sie bestraft? Für die Geschosse, die einige auf Israel richten? Die Gefangenschaft ist älter. Wenn es hier Ursachen und Folgen gibt, dann wohl eher so, dass die Geschosse aus Gaza Folge der Gefangenschaft sind, vielleicht Ausdruck eines desparaten Revoltierens dagegen. So kann auch die Hinwendung zum Fundament des großen Gottes verstanden werden: Wenn der politische Kampf erfolglos bleibt und oft genug blutig erstickt wird, verspricht das Heilige Buch der Offenbarung zumindest im Jenseits ein besseres Leben, und wer auf den Wortlaut dieses Zuspruchs angewiesen ist, findet im selben Heiligen Wort dann auch anderes, das sich als Handlungsanweisung im diesseitigen Leben verwenden lässt. Auch die Machthaber in Israel wissen: Das Einsperren Hunderttausender, die zudem immer wieder überfallen werden, produziert wohl eher das, was zu bekämpfen vorgegeben wird. Das Teilen und Herrschen hat sich auch anderswo auf der Welt nicht als friedenschaffend erwiesen, sondern im Gegenteil Kampf und Krieg perpetuiert. Israels Regierung teilt auf mehreren Ebenen: teilt Israelis und Palästinenser, teilt Palästinenser untereinander: Wenige nur aus dem Westjordanland können es sich leisten, auf dem Umweg über Jordanien und Ägypten ihre Verwandten im Gaza-Streifen zu besuchen.

Am letzten Abend in Gaza bin ich eingeladen in die Wohnung eines Kollegen der Palestinian Medical Relief Society. Auch in dieser Wohnung sind ehemalige Glasfenster durch Plastikplanen ersetzt. Ich plaudere eine Weile mit der siebenjährigen Tochter Lia. Sie lernt Gitarrespielen. Beim Abschied fragt sie mich, ob ich denn Israelis treffen werde, wenn ich nach Hause reise. Ja, das werde ich. Sie sieht mich mitleidig an und fragt, ob ich denn gar keine Angst habe. Was soll ich ihr sagen? Ja, vor einigen habe ich Angst, besonders vor jenen, die mich morgen wieder mittels der kalten technischen Augen am Grenzübergang ansehen und vielleicht durchleuchten werden. Doch sie werden mich nicht ermorden, dessen bin ich sicher. Außerdem – und das sage ich Lia – es sind ja nicht alle solche, „die Euch angreifen und bombardieren wollen“. Lia sieht mich ungläubig an. Sie glaubt mir nicht, weil sie die Bomben noch im Ohr hat und ihr kleiner Körper wohl noch die Druckwellen nachempfindet. Sie glaubt mir wohl auch deshalb nicht, weil sie merkt, wie unsicher ich meiner Antwort bin, weil ich weiß, dass auch viele meiner israelischen Freunde Lias Angst und Skepsis teilen. Lias Vater begleitet mich hinaus. Er hat in der nahen Zukunft viel Arbeit. Die Verwundeten der Angriffe werden langfristig begleitet werden müssen. Wie lässt sich das hier aushalten? „Paradoxe Hoffnung“ kommt dem, was hier die einzig mögliche Arbeits- und Lebensgrundlage ist, wohl recht nahe.

© links-netz April 2009